10 Jahre "Atemlos": Folge 02

10 Jahre "Atemlos" - das muss gefeiert werden! Der Popticker stellt sich die Frage: Was wäre, wenn Helenes Fischers Signature-Song das Aushängeschild ganz anderer deutschsprachiger Popacts wäre? Folge 01: Wie klängen die Lyrics, wenn "Atemlos" ein Song von PeterLicht wäre?

Atemlos

von PeterLicht

 

Was wir früher Disko nannten, nennt man heute Club

Und da ziehen sie dann hin, die Rentner-Renitenten

mit ihren Doppehaushälftennachbarn im Trupp

und schämen sich für ihre Arschgeweihe der 90er

 

Die wissen nicht, was zwischen ihnen ist,

die, zwischen die ein ganzer Stapel Druckerpapier passt

Und deren Blicke sagen: Eure Zeit ist vorbei

 

Nasenspray-Junkies der Nacht

Sie schlafen bis ein neuer Tag erwacht

Atemlos einfach raus

Das ist nicht unsere Zeit

 

Nasenspray-Junkies der Nacht

Sie schlafen bis ein neuer Tag erwacht

Atemlos einfach raus

Das ist nicht unsere Zeit

 

Die, die in Fonds investieren, halten sich für ewig, Tausende Konten Glücksgefühle

nicht einmal spüren, was sie sind, sie teilen nicht

Das billige Bild des Hamsterrades und die Phillip-Starck-Pfeffermühle

Komm nehmt Eure Hände in die Hand und schleicht Euch

 

Vom höchsten Dach auf der Welt, sieht man Wolken trotzdem noch von unten

und all die Farben ergeben trotzdem keine richtig bunten

Rahmen im Rahmen ihrer Ramen-Restaurants

Wo sie auch keine Fallschirme haben, auch wenn das oft behauptet wird

 

Alles, was ich will, ist da

Große Freiheit verwässert den Genuss

Nein, wir wollen hier nicht weg.

Denn nicht ist hier perfekt

 

Nasenspray-Junkies der Nacht

Sie schlafen bis ein neuer Tag erwacht

Atemlos einfach raus

Das ist nicht unsere Zeit

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10 Jahre "Atemlos" / Folge 01

10 Jahre "Atemlos" - das muss gefeiert werden! Der Popticker stellt sich die Frage: Was wäre, wenn Helenes Fischers Signature-Song das Aushängeschild ganz anderer deutschsprachiger Popacts wäre? Folge 01: Wie klängen die Lyrics, wenn "Atemlos" ein Song von Jan Delay wäre?

 

ATEMLOS

von Jan Delay

Wir ziehen durch die Reeperbahn

und kommen bisschen later an, 

als wie vereinbart per whatsapp

Wurscht. Die Zeit ist im Norden nie knäpp.

 

Was das bei uns in Hamburg ist

Wie Du die Non-Tabu-Fahne hisst

Gleich neben der Regenbogen Party

Nordlichter sind halt nicht arty

 

Atemlos durch Pauli

Kleine Pause Pommes Gaudi

Atemlos mit Craftbier

Hamburger sind Rudeltier

 

Der Ewigkeit am Arsch vorbei

Nordlichterdauerfeierei

Uns kann man nicht zersägen

Börlin kann sich gehackt legen

 

Der zwölfte Stock, die Türmen tanzen,

Landeier, Städte-Pommeranzen

Tanzbein schwingen Groove der Disko

Erst am Mittag San Frantschüssko

 

Atemlos durch Pauli

Kleine Pause Pommes Gaudi

Atemlos mit Craftbier

Hamburger sind Rudeltier

 

Natürlich bei nordisch, Hamburger Schule,

Du siehst den Markt vor lauter Fischen nicht.

Tocotronisch deichkindisch Bambule

Du dänst so ab wie schon seit Jahren nicht.

 

Atemlos durch Pauli

Kleine Pause Pommes Gaudi

Atemlos mit Craftbier

Hamburger sind Rudeltier

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Solidarität schlummert

- was heute erscheint, die Freitagskolumne ::: Bildschirmfoto 2023-11-24 um 11.44.36 Vier Berliner Typen gründen eine Band und nennen sich „Westhafen“ - ihr Sound ist melodischer Postpunk, der uns direkt aus der Class Of 2005 anzustrahlen scheint; ist aber von heute und ist irre gut: „Dogs“, ihr neuester Song, zerschleppt sich fast zur Libertines-Schönheit. Anhören. Und wenn die irgendwo spielen: Hin! ::: Auch aus dem Jahr 2005 könnten uns Take That anlächeln, aber auch ihre neue Musik, eine ganzes Album gar,  erscheint heute: Nunmehr ein Trio klingt "This Life" der ehemaligen Boyband inzwischen nach Progpop - Yes, Beatles oder „Hall & Oates“; die könnten ihr Banderbe auch deutlich würdeloser verwalten als mit derartig herrlich mittelmässigen Alben. ::: Die überaus dramatische Pianoballade „they stole my name“ hat bestürzender Weise einen tatsächlich dramatischen Hintergrund: 101 Der Sänger Battal verarbeitet mit diesem Song die häusliche Gewalt seines Vaters, der er ausgesetzt war - sowie jahrelanges Mobbing in seiner Kindheit; nicht gerade ein Thema für Beiläufigkeiten. Das ist dann aber eben doch etwas, das nur Popmusik kann: Entsetzliches in Pianoballaden giessen. Ob man das mag, ist natürlich eine andere Frage, aber gegen diesen, wenn man es zulässt,  mitreissenden Song, kann Bildschirmfoto 2023-11-24 um 11.34.04man irgendwie nichts haben. Und wenn man sich dem nicht aussetzen will, ist das natürlich aber auch völlig okay. Ein Song fast, der eine Triggerwarnung braucht. ::: Ebenfalls eine Pianoballade, für die er aber nicht aus dramatisch Biografischem schöpft, sondern aus der Poesie Berlins, hat Herbert Grönemeyer veröffentlicht: "Kaltes Berlin" erzählt von der Unverbindlichkeit der Großstadt, unter der immer auch eine Solidarität schlummern kann. ::: links ::: Westhafen YouTube-Kanal ::: Take That "windows" Musikvideo ::: Battal Linktree ::: Grönemeyer "kaltes Berlin" Musikvideo :::


Pop durch die Hintertür

Bildschirmfoto 2023-11-17 um 09.58.10::: Was heute erscheint: Die Freitagskolumne ::: Den Song „collapsing“ habe ich gestern auf meinem Rechner laufen lassen, als es an der Tür klingelte, und als ich von der Tüt zurück kam, dachte ich: Jetzt läuft hier aber ein anderer Song. War aber nicht so: Die neue Single von „still sane“ hat zwei höchst unterschiedliche Teile. Während die Strophe fast klassischer, akustischer Folk und uptempo daher kommt, ist der Refrain deutlich langsamer, flächiger, elektronischer, chorischer. Daraus ergibt sich eine selbst für weirden Folk recht ungewöhnliche Dramaturgie, weil sich stetig etwas Neues aus den Schaltstellen zu drängen scheint. Das kann ich zumindest nicht beiläufig hören, aber wenn man sich dem widmet, ist es textlich wie musikalisch wie autogenes Suchen nach sich selbst - also eine in allen Belangen ungewöhnliche Musik. Der Stuttgarter Michel Stirner Foosteps Artworkstecht hinter dem Namen „still sane“, und ohne jetzt all zu schubladig klingen zu wollen: Hört sich an wie Bon Iver aus Stuttgart. Die EP „i thought that i’d know“ jedenfalls, die von "collapsing" flankiert wird, lohnt sich allemal. ::: Bon Iver nennt das Trio „Varley“ auch als Referenz für ihren Sound, aber bei Bildschirmfoto 2023-11-17 um 10.03.36ihnen hört man das nicht in erster Instanz durch - Elektrojazz hat man das in den 90ern wohl mal genannt. Ihr neuer Song „Footsteps“ handelt zwar von innerer Angst, kommt aber in der Summe ein wenig harmlos daher. Auf der anderen Seite macht auch das seinen Reiz aus: Man misstraut beim Hören der Oberfläche, und ehe man sich es versieht, hat man einen Ohrwurm - Pop durch die Hintertür. ::: And then there were three: Nachdem die wunderbare Band „ok danke tschüss“ zunächst ihren Drummer verabschieden musste, dann ieine neue Drummerin (Pauline) fand, muss diese nun aus gesundheitlichen Gründen leider pausieren - die Band ist nun wieder offiziell ein Trio. Die rhythmische Vakanz hält die Band aber nicht davon ab, stetig neue Singles zu veröffentlichen: Nachdem bereits seit letzter Woche das sehr launige, bisher nur auf YouTube in einer jazzigen Version zu findende „Teesorten“ im gewohnten Ok-Danke-Disko-Rock-Gewand erhältlich ist, bei der auch der Text leicht überarbeitet wurde, erscheint heute „Joel“ - bei der es um einen CoverTypen gleichen Namens geht (nicht um Weihnachten) - und auf einmal klingen Ok Danke nach Wir sind Helden, jedenfalls erinnert mich der Song an deren "Aurelie" - ach wie dem auch sei: Vielen Dank für jedes Lied an diese wunderbare Band. ::: Und dann haben wir noch klassischen 80s retro-Synthiepop im Gepäck, konkret die Band „King Pigeon“ mit ihrem neuen Song „Home With You“: Funky Gitarre und pointierte Synth-Keys legen hier das Flussbett für melodischen Hippie-Wave samt Solo, Chor-B-Teil - saugut gemacht, retro kann so neu klingen. :::

::: Links :::

::: still sane "collapsing" < video > ::: Varley < YouTubeChannel > :::

::: King Pigeon "Home with you" (Videopremiere 17.11. 18 Uhr) :::

::: ok.danke.tschüss videos: < Teesorten > ::: < Joel > (Premiere 17.11. 12 Uhr) :::


Hits und Witz

ähnlich und unähnlich: Finder und Mark Forster

Was an Pop ja nun schon als kleiner oder gar auch großer gemeinsamer Nenner benannt werden könnte, ist es, populär zu sein - oder vielmehr der Anspruch und das Potential populär zu sein. Von daher ist die Strategie, populär zu sein, zu bleiben oder zu werden, nie eine rein ökonomische - sondern immer auch eine künstlerische. Und so kommt es zum Beispiel, dass die Musik eines eher unbekannten Acts relativ ähnlich klingen wie die eines bekannten Stars - und dennoch im Gestus grundverschieden sind.

Bildschirmfoto 2023-11-16 um 12.09.48Doch grau ist alle Theorie: Den beiden Alben, denen ich eben jene künstlerische Ähnlichkeit unterstelle, obgleich ihre Gesten in die
Aussenwelt sehr anders sind, sind die jeweils Neuen von Finder und Mark Forster: Beide suchen in ihrem Grundgenre Deutschpop verschiedene Auswege in zwar bewährte, aber auch erst einmal zu erspielende Poprichtungen - 80-Synthiepop, europäischen RnB und ausproduzierten Pop-Pop, um nur drei zu nennen. Beiden gelingt es auf ähnliche Weise versiert und gut.

Forster kommt von den Spitzen der Charts und sieht in den Ausflügen in andere Pop-Richtungen vermutlich schon Fluchtversuche aus dem 0-8-fünfzehn-Deutschpop, den er inzwischen verinnerlicht und geprägt hat. Doch auf seiner aktuellen Platte „Supervision“ fehlen Hits und Witz, die das Ganze zum Album bündeln - die Platte ist komplett gefloppt und schon drei Wochen nach Erscheinen nicht einmal mehr in den Top 50. Und so fluffig süßlich auch der beste Song des Longplayers daher kommt, die Uptempo-Nummer „Jedem Gefallen“ nämlich, ohne Flaggschiffhit Bildschirmfoto 2023-11-16 um 12.09.23 sind alle Subgenre-Ereiferungen irgendwie verlorene Liebesmüh. (Wie man ein Album mit gerade mal einem großen Song in Charts zieht, das haben in jüngerer Vergangenheit gerade Kylie Minogue und Miley Cyrus gezeigt.)

Die Subgenre-Ausflüge von „Finder“ auf seiner nach ihm benannten Platte sind eine Suche nach Popentwurf und Einordnung auf der Landkarte des Deutschpop, und so gehört liefert dieses Album eine breitgefächerte Hausnummer ab: Der Opener „in mir ist was kaputt gegangen“ ist ein Power-Rock-Pop-Brett („Ich brauche einen Kompass, ich brauche jemand, der mir die Richtung zeigt“), bei „ Ich nehm dich mit zu mir“ (feat. TÜSN) hören wir glasklaren 80er-Synthiepop, „Sicherlich“ ist eine klassische Popballade, bei der das Pendel der Ähnlichkeit plötzlich bei Heinz-Rudolf Kunze, Felix Räuber und gar Jochen Distelmeyer vorbei dreht.

In der Gesamtheit eines Albums aber wird man hier das Gefühl nicht los: Wer so unfassbar fantastisch singen kann, mühelos in höchste Töne gleitet und in den unteren Bereich auch nicht versackt, der ist mit einer solchen Platte noch nicht an seinem künstlerischen Zenith angelangt. Ein Album ist immer auch mehr als die Summer seiner Einzelteile. Aber Herrjemine, ich wiederhole mich, singen kann dieser Finder wie irre. Der wird seinen Weg, Vorsicht Wortspiel, sicher noch finden.

https://www.findermusik.com/


Songs zum Sonntag ::: 121123

An und für sich_COVER::: Wer Florian Paul und seine letzte Kapelle der Hoffnung - nein, die Kapelle der letzten Hoffnung, so rum - kennt, und wer den Popticker liest, wird den Namen schon mal gehört haben, der erwartet vielleicht nicht unbedingt, dass Paul Fan der Frankfurter Eintracht ist, und vielleicht ist er das auch gar nicht, und wie so vieles in seinen Texten ist das Spiel der Eintracht auch eine Allegorie, eine poetisch aus der Zeit gefallene Anspielung: „Doch ich denke an Dich, wenn heute die Eintracht spielt, weil drüben die S-Bahn fährt, die gleich bei Dir hält.“ - wieder einmal ist es eine Bar, in der sich die Szene dieses Liedes "an und für sich", zumindest der ersten Strophe abspielt, ZeT6bCzcund es ist die Bar, die den Kitsch hier aushält, so weit lehnt sich Florian Paul dieses Mal aus dem kitschigen Barfenster, und und seine Vaudeville-Balladen triefen, so auch hier, wie immer vor Schönheit - was für ein ergreifender Song. ::: Video-Link < hier > ::: Mehr Indie-Unterstatement gibt es bei Rahel, hier kniedeln fast schon die Gitarren zwischen zwei Liedern, die soeben als Doppelsingle erschienen sind, zwischen Ich und Du, die Rahel erschienen sind, und nicht immer scheint sie das Ich zu sein: „ Ich küsste dich im Affekt / Muss was verwechselt haben / Du warst nicht mein Zielobjekt“ - fast schon deutschsprachiger Folkrock könnte man das nennen; irgendwie verstehe ich diese beiden Lieder „bitte nicht in blicken“ und „zum Tage des Barsches“ nicht, aber versteht schon Pop - schöne Songs sind es. ::: Rahel Doppelsingle : Video Release 14.11.23 < hier > :::


Wikipedia-Seemannsgarn

Der Popticker arbeitet sich einmal wieder an dem Phänomen "Santiano" ab

Der Shanty-Rock-Entwurf von Santiano ist ein in sich so klar definiertes Sub-Sub-Genre mit gleichzeitigem Mainstream- und Erfolgsanspruch, das in seiner Praxis kaum mehr Spielraum für Veränderungen bleibt - die Band liefert linear und in stetem Zeit-Rhythmus ihr Patentrezept als Album ab, Dagegen kann man nicht viel haben, denn das Rezept hat sich nun mal bewährt, aber für Bildschirmfoto 2023-11-06 um 14.05.38den Aussenstehenden ist in diesem strengen Output kaum ein Unterschied zwischen den Alben auszumachen. Das ist auch im Falle von „Doggerland“ so, ihrer neuesten Platte - wieder hören wir Männerchöre und Mittelalter, Hardrockanleihen und Folkarrangements. Erstaunlich an dem Santiano-Konzept ist dass dessen starrer Popentwurf seinen Authentizitätsanspruch aus der Vorstellung generiert, hier seien Musikanten am Werk, deren Anspruch und Könnerschaft es ist, dies diese Musik hervor bringen. Komponisten und Texter der Lieder der aBand sind aber vielbeschäftigte Songschreiber und Produzenten, die zumeist aus den Schlager und dem Mittelalterrock stammen und einer Band wie Santiano die Lieder auf den scheinbaren Seemansleib schreiben. An der Idee Santiano ist also an sich nichts authentisch und alles männlich.

Doggerland ist im Übrigen ein Gebiet im Nordsee-Becken, das heute überflutet ist - früher aber als Landzunge das Jütland mit Großbritannien verband. Sein mythisches Potential erkannten nicht erst die Song- und Schlager-Schreiber von Santiano sondern in der Vergangenheit auch immer wieder nationalsozialistische Ideologen, die in jenem Doggerland die Urheimat der Germanen phantasierten. Damit will ich nun nicht der Band Santiano nationales oder gar rechtes Gedankengut unterstellen, aber wenn ein paar googelende Texter für Santiano dies hier dichten: „Ich war in Doggerland / Und ich sah seinen Untergang / Jeden der dort verschwand / Hab’ ich gekannt / Ich war in Doggerland / Tief versunken im Nordseeschlamm / Dort liegt das Doggerland“ - dann hätte sich schon einer von diesen dichtenden Männern überlegen können, jegliche ideologische Vereinnahmung mit ein paar Zeilen zu unterbinden. Dass das besungene Doggerland nun anschlussfähig in alle Richtungen in den Tiefen der Nordsee versunken liegt, erscheint mir ein wenig naiv - das müsste nicht sein. Aber statt sich des riskanten Fahrwassers, in das man sich hier begeben hat, bewusst zu sein, geht man lieber kein ökonomisches Risiko ein, potentielle Hörer:innen zu verprellen, deren Weltbild man vielleicht nicht gerade teilt.


zwischen Indiestatement und Popitüde

Gestier/// heute neu: Die Freitags-Kolumne /// Wer indie klingen möchte, verbaut in seinem Popentwurf gern ein gewisses Understatement, woraus bestenfalls, da Pop ja schon auf sich selber und die eigene Coolheit verweist, gegensätzliche Bewegungen resultieren. Das kann natürlich dann ein schmaler Grad sein, denn wer zu wenig Aufhebens um sich selber macht, verliert den Pop aus den Augen, und wer zu sehr nach vorne prescht, vergisst leicht die Kunst der Bescheidenheit. Der neue Song von Moritz Ley könnte für meinen Geschmack ein klein wenig mehr Popluft atmen - fast verschwindet „Geisterstadt“ hinter dem Indiewillen des Genre-Entwurfs. Was an sich schade Lenaist, denn hinter den melancholischen Texten des Songwriters scheint immer auch ein lakonischer Hedonismus auf, und das hört man dieses Mal nicht recht raus; ändert aber nichts an meinen Sympathien für den Musiker Moritz Ley. /// < Video > /// Lena leidet nun nicht gerade daran, sich zu wenig nach vorne zu trauen - im Gegenteil, man weiß schon fast nicht mehr, was der Hauptberuf von Frau Meyer-Landrut ist: Musikerin oder Influencerin. Nun. In Wirklichkeit sind die Grenzen eben fliessend, und auch wenn ich Lena nichts wirklich übel nehmen kann, so muss man doch konstatieren, dass sie bei ihrer AMF Cover Finalbrandneuen Single „Straitjacket“ selber durcheinander kommt und das eher der Popsong einer Influencerin ist als von einer Musikerin: Alles klingt hier perfekt - Dua-Lipa-Disco-Beat, 4-to-the-floor, Autotune, klare Melodie, Synthiestreicher, B-Teil - aber es bleibt nichts davon hängen, nichts scheint besonders, nichts klingt lenalike. Macht aber ja auch nicht. Vermutlich bin ich eh nicht mehr der Adressat der Musik von Lena. /// < YouTube-Audio > /// Zurück zum Indie-Understatement: „colin“, ein Duo aus Köln, suchen ihre Musik eher in bescheidener Melodie-Melancholie; und haben ihrem Indiepop-Genre, das in den Folk reinschnuppert, schon den ein oder anderen tollen Song abgerungen. Ihr neuer Streich, „all my fault“, mag ein wenig höhepunktlos daher kommen, aber in der Summe hören wir hier beiläufigen, wunderschönen Softrock. /// < YouTube-Audio > /// Die für mich Amazoneswichtigste Neuveröffentlichung heute ist die erste Single des dritten Albums von „les amazones d’afrique“ - das Kollektiv aus weiblichen Popstars des afrikanischen Kontinents: „Kuma Fo“ vereint auf einem fluffiigem Dancebeat mit weltigen Breaks die Stimmen (und was für Stimmen!) von Mamami Keïta, Fafa Ruffino und Kandy Guira, die wir auch schon auf dem ersten beiden fantastischen Alben hören konnten, und von dem neuen Mitglied Alvie Bitemo. „Kuma Fo’ is about women’s freedom of expression.“, heißt es im Promotext, und dem ist fast nichts hinzuzufügen: Dieser Track ist frei und befreiend, und das kommende Album, welches bei Peter Gabriels Label „Real World“ erscheint, macht der Platte von Gabriel selber nur deswegen keine Konkurrenz um dem Titel des Album des Jahres 2023, weil es erst nächstes Jahr erscheint. /// Grandioses < Video > ///


Süddeutscher Neuer New Folk

Bildschirmfoto 2023-10-22 um 21.24.07::: Songs zum Sonntag 221023 ::: „still sane“, ein Projekt des Musikers Michel Stirner, sucht schon mit einer Hand voll Liedern den Folk in Bayern - könnte man sagen, und da steht er da im Video mit seiner Gitarre und findet den Folk, wunderbaren gar, Stille und Melancholie irgendwo fast schon in der Nähe der Fleet Foxes - so ist das in seiner neuen Single „When I was Bildschirmfoto 2023-10-22 um 21.24.52younger“ - und dann treffen die Zeilen auch noch einen Neerv: „when i was younger i thought that i’d know by now / leave me alone and i’ll still never learn myself“ - singt er also von der Erkenntnis- und Orientierungsprokastination - wirklich wunderbar. ::: < Video > ::: Bart und Akustikgitarre und süddeutsche Herkunft bringt auch "Talking Nerves" mit - sein Folk freilich ist noch zerbrechlicher als der von still sane: Der neues Song „reminder“ (zusammen mit Henny Herz) erinnert in der Summer mit seiner Gastsängerin und flächigen Synthies dann schon an Bon Iver - man kann Bildschirmfoto 2023-10-22 um 21.25.22 jedenfalls über beide Sänger sagen, dass man deren jeweils im November erscheinenden EPs unbedingt Beachtung schenken sollte. ::: < video > ::: "Westhafen" klingen so wie die Class 2005 - irgendwo zwischen Art Brut und Kaiser Chiefs; vielleicht haben sie noch nicht ganz die Stadion-Hymne gefunden, aber ihr neuer Song „New Ways“ rumpelt sympathsich enough ins Jahr 2005; oder vielleicht auch 2006. Haut nicht vom Hocker, aber mag ich. ::: < video > :::


Postironie

Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.16.52 ::: neue Singles von Newcomern ::: Der britisch unterkühlte Soul oder RnB oder beides unterspült nach und nach den globalen Pop mit seiner postironischen Dancebarkeit und seiner 90er-Attitüde. Nicht nur im Hyper-Minstream kommen die Popentwürfe von Rita Ohra (aus dem Kosovo, heute in London ansässig) oder Dua Lipa (aus Albanien, heute in London ansässig) an, jetzt geht das los, dass diese von noch jüngeren Künstlerinnen nachgebaut und eigen-variiert werden. Womit wir bei Leonora wären, eine junge Wuppertalerin, die mit dem heutigen Erscheinen ihres Songs „Mamas Favourite“ eine 5-Track EP komplettiert - und dieser neue Song ist mitreissend funky und zeitgemäss produziert - gute-Laune-Uptempobeat-Soul wie eine Schwebebahn - prima. ::: YouTube Audio Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.17.33::: Eine merkwürdige Härte sucht Fahrlænd, das Projekt des Sängers und Musikers Daniel Fahrländer. Er sucht diese Härte aber nicht mit den Soundmitteln des Rock, sondern mit denen des Elektropops. Verzerrte Synthieflächen, stolpernde Beats und etwas nöliger Gesang prägt seine neue Single „kaputt“; die mit dem O-Ton des Meme gewordenen Tischzertrümmerers Nikel Palat beginnt: „… und deshalb mache ich jetzt diesen Tisch hier kaputt“ - ein wenig hinkt der Song selber dann der Wut des ehemaligen Ton-Steine-Scherben-Managers Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.18.04 hinter her - und dennoch denkt man: Alles, was diese Musik erreichen möchte, ist, so weit man das beurteilen kann, gut in die Tat umgesetzt, aber ich kann mit dieser Tat nicht so viel anfangen; ausser vielleicht zu rufen: Ironie kann manchmal auch Spass machen. ::: YouTube Video ::: Würden Scooter einen Song namens „Kaffkiez“ machen, würde HP Baxxxter wahrscheinlich „How much is the Kiez in diesem Kaff?“ rufen. Fraglich, ob das funktionieren würde, aber es ist eben auch umgekehrt: Die Band Kaffkiez hat einen Song namens „Scooter“ gemacht, in dem die Zeile „Kommst eh nicht lebend raus sagte Scooter irgendwann“ vorkommt, und mit diesem Scooter könnten tatsächlich die Techno-Ruf-Formation „Scooter“ gemeint sein. Davon unabhängig ist der Song aufbauend - ohne viel Ansprüche, was irgendwie eine sympathische Attitüde ist: „Es ist ok wie es ist .Ich hab vor morgen manchmal Schiss. Das ist ok. Keine Sorge ich komm klar. Bin ab Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.18.52morgen wieder da. Doch bin ok“; der komprimierte Poprocksound, der hier den Ton angibt könnte für meinen Geschmack etwas ruppiger sein, aber das ist eine sympathische Band. ::: YouTube Video ::: Und dann noch mal recht klassischer Deutschpop. Mh, nee. Deutschrock. Was aber ist Deutschrock? „Ich hänge mich auf an Deiner Welt“, singen farbfilter. zu klassischem Rockriff - auch hier kann man nicht anders, als die Band, die diesen Song „Schwarzer Sommer“ spielt, mögen - wenn es solche nicht mehr gibt, kann man alles Andere auch bleiben lassen, auch wenn ehrlich sagen muss: Dieser schwarze Sommer setzt sich mir nicht im Ohr fest. Aber da höre ich weiter hin, wenn was mit diesem Farbfilter daher kommt. ::: YouTube Video :::