Songs zum Sonntag /// 040623

Bildschirmfoto 2023-06-04 um 15.42.17/// „Wir wollen alles und ein Happy End.“, singt Anika Auweiler in ihrem neuen Song, der auch so heißt: Wir wollen alles. Das erwünschte Happy End ist ihr programmatischer Ausruf zum Beginn des Pride Month, und mit allem, das sie wollen, meint Auweiler queere Sichtbarkeit im Alltag- und Mediengeschehen. Dazu hat sie sich für das Musikvideo von 16 Vereinen und Netzwerken kurze Clips schicken lassen, die sie zu einem Kurzfilm montiert hat. Cover1Der Song selber ist eine Piano-Uptemponummer bei der der Einsatz von Autotune für mich ein wenig fehlplatziert klingt - es passt einfach nicht recht zum sonst sehr authentischen Gestus des aktivistischen Liedes. /// Auch bei AMAU gibt es Autotune - aber hier scheint häuslicher: Deutsch-Soul mit Funk-Gitarre. Der Song „ich und meine Homies“ klingt, als wäre AMAU eine ein Wiedergänger des leider schon verstorbenen Edo Zanki. Kann man machen - ist aber nicht so sehr meine WIese. /// Auch Gloria Bildschirmfoto 2023-06-04 um 15.35.53Nussbaum nutzt den Stimmefekt Auotune - sie aber  eher für flächig geschichtete Hintergrundchöre ihrer neuen Single „INK“. Der Song klingt damit, als würde eine Synthiepopband in einer Kirche auftreten. Während wir es bei ihrer kürzlichen erschienenen Single „Maze“ und auf der seit Anfang des Jahres erhältlichen EP „Camel Blues“ eher mit elektronisch unterfütterteten Indierock zu tun hatten, sind wir mit „INK“ nun bei blubberndem Elektropop. Wenn noch irgendwo Gitarren zu hören sind, gefällt mir der Nussbaumsche Popentwurf besser, aber die tremolofrei eingesetzte Folk-Stimme mit jazzigem Timbre dieser tollen Sängerin macht das allemal wett. /// Videos /// "Wir wollen alles" /// "ich und meine Homies" /// INK - ist noch nicht erschienen ///


Songs zum Sonntag /// 280523

Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.33.39/// Die trotzige Popfarbe, die Carla Lina ersingen kann, macht auch ihre neue Single „Lift Me Up“ zu einem Song, bei dem man sich in zweiter Instanz fragt, ob er eigentlich aus dem Jazz oder dem RnB kommt; was aber ja auch wurscht ist. Carla Lina ist auf jeden Fall eine tolle Sängerin, „Lift Me Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.34.27Up“ ist kompositorisch vielleicht nicht der Originalität letzter Schluss, aber Pop erfindet selten das Rad neu, und das wird mit dem Songtitel, der auch schon mal da war, auch nicht suggeriert oder gar versprochen. Ich verspreche aber, dass ich Carla Lina im Auge behalte. Oder im Ohr, je nachdem. /// Das neue Album von Peter Fox muss ich nicht auch in den Himmel heben, aber glücklich macht mich, und das sei eben doch erwähnt, Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.34.04ein Song darauf: „Toscana Fanboys“ im Duett mit dem wunderbaren Adriano Celentano - das Ding ist so relaxed und reduziert, es klingt schon fast nach Gorillaz - für mich einer der besten Popsongs des bisherigen Jahres. /// Da kann man natürlich hintendrei auch noch den diesjährigen ESC-Beitrag aus Italien hören, „Due Vite“ von Marco Megini - ein italiano-Schmachtfetzen aus dem Lehrbuch von Eros Ramazotti. Das kann kaum blöd finden. /// Links /// "You Lift Me Up" (video) /// "Toscana Fanboys" (audio) /// "Due Vite" (video) ///


La dolce Vitamin B

Giovanni Zarrella hat ein Identitätsangebot angenommen, und Boss Hoss haben dem Genre-Karaoke-Cover entsagt

Genre-Karaoke ist ein Spielart des merkantilen Pops, bei dem sich Interpret:innen ein bestimmtes Musik-Genre zu eigen machen und in diesem dann Songs aufnehmen. Dann gibt uns Robbie Williams zum Beispiel den Rat-Pack-Crooner samt Swing-Orchester oder Jam Delay spielt Reggae. Es gibt aber auch ganzheitliche Bandkonzepte, die auf der Idee des Genre-Karaoke beruhen: The Baseballs“ spielen bekannte Pophits als Rockabilly-Songs, Señor Coconut implementiert südamerikanische Rhythmen in Klassiker der 70er, und die „Postmodern Jukebox“ spielen Hits als Jazz, Bebop, Swing oder Bluegrass - an diesen Beispielen kann man schon ablesen, dass diese Pop-Genre-Aneignungen vor allem durch Cover-Versionen funktionieren, und der Popticker hat für diese Sub-Sub-Spielart schon öfter den Begriff Genre-Karaoke-Cover verwendet.

Bildschirmfoto 2023-05-23 um 13.07.49Womit wir bei Giovanni Zarrella und seinem lupenreinen Genre-Karaoke-Cover-Album „Per Sempre“ wären, welches zwar bereits im letzten Jahr erschienen ist, nun aber um einige Songs erweitert noch einmal neu veröffentlicht wird. Zarrella singt hier Hits vor allem aus den 80ern und 90ern als Italoschlager - der Soundentwurf entspricht heutigen Eurodance-Schlagern im post-Atemlos-Standard mit italienischen Texten. Dabei funktioniert die alte, vom Popticker postulierte Mechanik, nach der wir im Pop das Neue wieder-erkennen, hier gleich auf zwei Wegen, und eben dies ist beispielhaft für Genre-Karaoke-Cover: Wir erkennen den Schlager wieder, wir erkennen eine vermutlich recht deutsche Variante Italiens wieder, und wir erkennen die Songs wieder - sei es „Angels“ von Robbie Williams („un angelo“), „careless whisper“ von George Michael („stretti fino al mattino“) oder „quit playing games“ von den Backstreet Boys („non puoi lasciarmi cosi“) - und doch ist das, was wir wieder erkennen, neu, denn in seiner Kombination ist es eben noch nie zuvor da gewesen.

Natürlich ist dieser Soundtrack für jede mittelgute Pizzeria ein auf den Markt zugeschnittenes Produkt, eine Dienstleistungsmusik für die Italien-durstige Bundesrepublik, aber was diese Musik verspricht, löst sie dann eben auch ein - will sagen: Dieses Album ist auf seine Art bescheiden, weil es auch wirklich nicht mehr behauptet zu sein, als es ist. Giovanni Zarrella, einst bei „Popstars!“ gecastet und dann in der Formation „Bro’sis“ bekannt geworden, irrt seit einigen Jahren nun schon durch die deutsche Medienlandschaft, bis schliesslich die Schlagerszene das getan hat, was sie so irrsinnig gut kann, nämlich verirrten Popseelen ein Identitätsangebot machen. Und Zarrella hat gesagt: Her mit der Identität. Das kann man natürlich moralisch verurteilen, aber meine Güte: Mit irgendwas muss auch ein Giovanni Zarrella sei Geld verdienen

Bildschirmfoto 2023-05-23 um 13.08.26Doch zurück zum Genre-Karaoke: Wir fragil es sein kann, auf diesem Konzept, eine ganze Band aufzubauen, kann man nunmehr bei Boss Hoss sehen, die ihren Stadioncountry einst mit Coversongs kreierten: Sie spielten dann Britney Spears mit kunstfigürlichen Cowboyhüten und zogen ihren Howdie-Sound derart in die Breite, dass er zum Mitgröhlen und Stagediving einlud. Dann aber haben sie das Covern ausgesetzt und eigene Songs geschrieben, und von da an ging’s bergab, denn für diesen, ihren Popentwurf Songs zu schreiben, erweist sich spätestens auf ihrem neuen Album „electric horsemen“ als Himmelfahrtskommando: Was hier die ursprünglichen Hit-Cover beim Genre-Karaoke ersetzt, kann mal schwerlich Song nennen - das sind, nun ja, allseits bekannte Akkordfolgen, auf denen samt und sonders jeweils die absolut nahe liegendste Sing-Melodie ruht. Musikalisch hat man eine Art Techno untergehoben, so dass Boss Hoss nun klingen, als würde David Guetta „Truck Stop“ covern - absolut furchtbar. Wer also Zarrella hinter den Mond wünscht, weil er sein Lächeln dem Schlager verkauft hat, der höre sich diese unsägliche Boss-Hoss-Platte an, und schon muss man Giovanni Zarella für den Move gratulieren, das Beste der 70er und 80er als Italopop zu singen: Boss Hoss haben ihr Genre Country-Rock verraten, und sie covern nicht mehr, und siehe da: Es ist überhaupt keine Substanz mehr da, die ein Album rechtfertigen würde.


/// Songs zum Sonntag /// 210418 ///

/// Der Osnabrücker Sänger und Songschreiber Moritz Ley bedient UA-Q6eqssich aus eines pop-ökonomischen Betriebsmittels unserer Zeit, der EP - „wann dreht sich der Wind“ wird sie heißen und im Oktober erscheinen. Bereits jetzt aber gibt es einen Song daraus zu hören, „Charade“. Ley zeigt sich hier einmal mehr als pfiffiger Songtexter: „aus tausend menschen werden nur zwei / auf einmal sind wir allein / und ich red plötzlich von mir / es geht um kopf und kragen / kann stille nicht ertragen / drum wort verdoppelt, wahrheit halbiert“, so fokussiert er aus Gefühlswelten in sich selber, und auch die Masken der titelgebenden Charade finden sich in allegorischen Anspielungen von Halbwahrheiten, wenn man plötzlich von sich redet. Leider hat Moritz Ley eine catchy Melodie vergessen, wenn man nicht sogar konstatieren müsste, dass eine Melodie fast schon ganz ausbleibt: Artcover Bleachblonde by LUCIE_Picturecredit_ Adam LynchAuf zart verzerrter Gitarre geht die Stimme hier parallel einer Allerwelt-Akkord-Folge ohne rechte Idee. Man kann nicht alles haben, jedenfalls ist dieser sympathische Musiker es wert, mal die nächsten Singles abzuwarten - „Charade“ ist jetzt aber eben sicher noch nicht der Weisheit letzter Schluss. /// Synthiepop aus Berlin, was soll da schon schief gehen? Lucie nennt sich eine Sängerin, die nun ihre neue Single „bleachlonde“ heraus gebracht hat. In dem housigen Poptrack wird offensichtlich, dass, wenn sich die Retroschleifen der 80er und 90er überlagern, ein höchst originärer Popentwurf heraus kommen kann, in dem die Jahrzehntquellen in den Echokammern unserer Ewartungen verbleichen - nice & cool. /// In Sachen Retro-Entwürfen spielt Kylie Minogue Bildschirmfoto 2023-05-21 um 20.24.21 mit ähnlichen Sound- und Beat-Mitteln, aber bei ihr kommen natürlich noch etliche Selbstreferenzen und Feedback-Schleifen hinzu - ein neuer Song von Kylie bringt immer auch die gesamte Kylie-Discografie mit sich, Fachleute sprechen hier auch von der so genannten Kyliegrafie. 20 Jahren jedenfalls nach dem ikonographischem „La La La“ in „Can’t get you out of my head“ kommt nun die neue Lautmalerei aus dem Hause Minogue: „Padam Padam“ heißt die neue Single von dem dann im Oktober erscheinenden Album „Tension“. Der Song beginnt mit einem vorweg verhallten „Padam Padam“, elektrische Flächen mit viel Echos und einem glatten Sequencer-Bass, und erst zum Refrain binden sich die Räume, die Echo-Effekte werden abgestellt, und der Beat dotzt uns ins Tanzbein. Der Song ist nach zwei Durchgängen und 2:42 schon wieder vorbei, und wenn es jemals eine 55-Jährige gegeben hat, die die Geduld von Spotify-Hörer:innen und TikTok-Nutzer:innen kennt, dann ist es Kylie Minogue: „Padam Padam“ ist ein Kunstwerk der Kulturtechnik Popsong.  /// Musikvideos /// Links /// "Charade" /// "bleachblonde" /// "Padam Padam" ///


Diebische Freunde

Bildschirmfoto 2023-05-17 um 08.19.55Die Filmfreunde Michael McCain und Agnetha Ivers mit ihrer dritten Single

Keiner weiß so recht, wer Michael McCain & Agnetha Ivers tatsächlich sind, beziehungsweise sie fungieren mit Namen, die man meint zu kennen, in etwas kunstfigürlicher Anonymität, weil wir sie in Wirklichkeit nicht kennen - und mindestens Michael McCain ist ein Pseudonym. Was wir aber wissen, ist, dass dieses Duo im Genre des Filmsongs ohne Film operiert, und auch bei ihrer dritten Single „Peaceless“ ist das so, und somit mutmasslich auch auf ihrem für September 23 angekündigtem Album: „Peaceless“ wäre, wenn es einen Film zum Song gäbe, ein Psychothriller im James-Bond-Milieu mit Ingmar-Bergmann-Vibe - Michael Caine könnte gut und gern darin mitspielen, mithin ist der Künstlername Michael McCain sicher nicht völlig ohne diese Referenz erfunden worden. Und die Sängerin Agnetha Ivers kann dramatische Bögen, die aus einem wie beschriebenen Film zu stammen scheinen, in einen drei-Minuten-Song ersingen - das macht wirklich diebisch-dramatische Freude. /// Link /// "Peaceless" Video ///


Fünf Forderungen für den ESC 2024

Dsx

von Dietmar Poppeling

- wegen der unklaren Lage bei den Bildrechten vom ESC in diesem Jahr mit Fotos von Rüttelplatten

01 / Wir brauchen schleunigst eine schmissige Verschwörungstheorie zum steten Scheitern der deutschen Beiträge - 2023 wieder nur letzter Platz, da ist doch was oberfaul. Vielleicht ist Bill Gates dran schuld, oder die Jurys werden bestochen oder russische Hacker rächen sich an der waffenliefernden Ampel - an den Beiträgen kann es nicht liegen, denn die sind derartig unterschiedlich gewesen, dass … es an den Beiträgen nicht liegen kann.

02 / Die Zeit zwischen  Veröffentlichung der Songs und der ESC-Finalwoche sollte wenn irgend möglich verkürzt werden - oder man sollte eine Art Rezension-, Reaction- oder Wettsperre einführen, um zu verhindern, dass es zu schnell Favorit:innen gibt. Denn der psychologische Effekt, dass man gerne zur Mehrheit gehören möchte und somit favorisierten Beiträgen zugeneigt ist, darf nicht unterschätzt werden. Schweden hätte in diesem Jahr ohne diesen Effekt eher nicht gewonnen.

Apps03 / Die Anzahl der Finalist:innen sollte noch einmal verkleinert werden, von 26 auf 22, das wäre mein Vorschlag. Das Feld von 26 Songs ist zu groß, und es begünstigt, dass man sich nicht auf Beiträge fokussiert, die GEfallen, sondern auf Beiträge, die AUFfallen, die also sich in irgendeiner Weise von den anderen unterscheiden - und sei es auch nur, weil ein Beitrag favorisiert wird.

04 / Die Jury- und Zuschauer:innenvotes sind auch in diesem Jahr wieder extrem divergent, und tendenziell hat das Publikum klüger gewählt als die Jurys. Musik lebt vom Moment, und ich finde daher, 81bS23HC1CL._AC_UL640_QL65_dass die Jury ihr Votum schon der Generalprobe abgibt, gehört abgeschafft - auch die Jurys sollen nach dem ESC-Final-Auftritten über ihre Punkte entscheiden.

05 / Ich fände es gut, den deutschen Beitrag, auf gewisse Art und Weise zu kuratieren - von Musiker:innen: Ein Team von drei Musiker:innen entscheidet über den Weg der Auswahl, die Art des Liedes, des Beitrages etc. Nehmen wir doch nächstes Jahr einfach Herbert Grönemeyer, Stephanie Klos und Joy Denalane, und diese drei schreiben gemeinsam einen Song und suchen dann ein:e Interpret:in; oder sie suchen eine Interpret:in und schreiben ihr dann einen Song. Oder sie entscheiden sich, zur Dritt nach Stockholm zu fahren. Und im nächsten Jahr machen das dann Ute Lemper, Chima und Bela B - bildet absurde Teams und lasst sie kuratieren.


Von der Verheissung zur Presets

Drei Newcomer:innen und ihre heute, Freitag den 05.04.23, erscheinenden Singles

Bildschirmfoto 2023-05-04 um 12.59.48/// „Du hörst den Trapbeat viel zu laut / isst deinen Mettigel und kaust mit Mund auf. / Ich glaub ich raste aus / Du fragst mich “hast du PMS, / oder vielleicht zu selten Sex?” / Reiß dein Maul noch weiter auf / und es gibt Stress!“, singt Paula Carolina zu Beginn ihrer neuen Single „Bitte Bitte“, und wer ihren Popentwurf aufgrund dieser Zeilen irgendwo zwischen NDW und Deichkind einsortiert, hat schon irgendwie Recht damit, aber die und Art und Weise, wie hier jegliches Blatt vor dem Mund in Grund und Boden gesungen wird, die Selbstverständlichkeit wie hier die globale Mensplaining-Lobby zum Schweigen aufgefordert wird, das ist so leichtfüssig eigen, dass selbst NDW und Deichkind vermischt noch zu kurz greifen. Paula Carolina ist in ihrer popgewordenen Wut die größte Verheißung, seit es Ideal nicht mehr gibt. /// Ähnliche Hoffnung weckt Gloria Nussbaum - allerdings in einem ganz anderen Sub-Genre der Popmusik. Während ihre ersten beiden Singles „twenty“ und „highest“ die Fühler in elektronischen Soul ausstreckten, ist ihre heute erscheinende, dritte Single „Maze“ fast schon in der Indietronica oder in synthesiertem Folk zuhause. Zwar übertreibt Nussbaum hier an mancher Stelle das Gehauche, und hin und wieder möchte man ausrufen: NUN SING DAS DOCH MAL MAZE CoverAUS! UND RAUS! - aber dennoch überwiegt der Eindruck, dass hier eine großartige Songschreiberin und Sängerin nach einem Sound für ihre Ideen sucht, und dass das mal riesig werden könnte. /// Ein Pop-Suchender ist sicher auch Filo, der seine Musik selber als Optimism-Pop bezeichnet. Mit seiner großen Brille bringt dieser Filo aber nicht nur Optimism sondern auch Nerdism in seine Musik, womit man auf Umwegen auch wieder bei Indietronica wäre, ein Substil, für den vor zehn, zwölf Jahren der auch irgendwann mal eine gewisser Caribou konstatierend war. 1OTwTTRY
Vielleicht ist es abwegig, sich an diesen kanadischen Musiker zu fühlen, wenn man nun das neue Lied von Filo „places“ hört, aber man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die melancholische Verspieltheit eines Caribou, für die es eben vor eben einem Jahrzehnt noch ein hohes Mass an Know-How brauchte, um sie in Sounds zu suchen und zu giessen, heute zu den verfügbaren Presets gehört, die man ohne viel Umstands am Apple erspielen kann. Wenn man von dem teils etwas ungelenkem Englisch absieht, ist der Newcomer Filo auf jeden Fall ein hörenswertes Beispiel, auf welchem Niveau man sich Pop-Mittel klauen kann, ohne verstohlen zu klingen, wenn man einen guten Song im Gepäck hat: und den hat Filo. /// Videos /// verlinkt um 10 Uhr ///


Das! Ist! Gut!

Fulminant: Jessie Ware

Bildschirmfoto 2023-04-28 um 12.42.13Der britische R&B ist nicht erst seit Dua Lipa ein globales Phänomen geworden, das mit trojanischen Popmitteln auch in die USA schwappt. Um so erstaunlicher, dass Jessie Ware mit ihrem nunmehr sechsten Album nicht der Versuchung erliegt, sich eben diesen Trojaner:innen hinzugeben. Sie zitiert diese allenfalls in ihrem deutlich altschulischerem Soul-Entwurf: „That! Feels! Good!“ ist damit hin- und mitreissender Disco-Soul mit funkigen Off-Beats, Wall-Of-Sound-Streichern und unwiderstehlichen Melodien. Jenseits aller Modernismen und dennoch ohne Retro-Hörigkeit wird hier ein R&B gepflegt, der jeden Tanzmuffel zum Mitwippen zwingt: Der Opener und Titelsong klingt nach 70ern, Nile Rodgers und Donna Summer, „free yourself“ lädt in die Space-Disco von Daft Punk, „Freak Me Now“ surft auf Boney M-schen wellen, und mit „These Lips“ endet dieses Album, als hätte Jessie Ware Sade gecovert. Diese stilistische Vielfalt wirkt aber beiläufig und derart aus einem Guss, dass dieser durch und durch britische „Pop & B“ angenehm bescheiden und ebenso virtuos daher kommt. Ein fulminantes Album mit 10 Songs, von denen keiner misslungen ist.


Brücken säen

Das Phänomen Miley Cyrus und ihr aktuelles Album

Bildschirmfoto 2023-04-24 um 14.22.34Eines Tages wird wahrscheinlich irgendeine Stimmtrainer:in oder eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin zu Miley sagen: „So geht es nicht weiter, Frau Cyrus. Wenn sie jeden noch so blubbernden Bubblepop so rau übersingen, werden irgendwann Ihre Stimmbänder abschmieren.“ Wer weiß, ob sie sich das jemals wird sagen können, aber in jedem Fall können wir uns beim aktuellen Miley Cyrus-Album „endless summer vacation“ darüber freuen, dass Miley die Lieder, die sie mit nerdigen Songwritingcampteilnehmer:innen geschrieben und mit top Produzent:innen eingespielt hat, in einer einer Hingabe singt, als wären ihr die Stimmbänder wirklich schnurzpiep. Nach Ausflügen in verschiedenste Sub- und Subsubgenres des Pop und nicht zuletzt anschliessend an verschiedene Rockpopcover im Rahmen ihres vorletzten Albums, haben die Lieder der endlosen Sommerferien in einer Art Contry-Blues-Rock ein Zuhause gefunden, indem die Bildschirmfoto 2023-04-24 um 14.26.12immer auf Anschlag singende Miley Cyrus ein ideales Bett für ihren Popentwurf gefunden hat. Ihre stets doppeldeutigen, nämlich auf sie und oder auf allegorische Schnittpunkte beziehenden Geschichten, Andeutungen und Metaphern ihrer Lyrics tun ihr Übriges, um sich in jedwede Art von Popmusik zu verbreiten. Das hat diese Platte zu dem  ersten großen Popkonsens dieses Jahres gemacht - das Album also, auf das sich von Teenager:innen bis hin zu über 60 jährigen Ex-Spex-Leser:innen alle einigen können.

Es gibt einen großartigen Live-Moment von Miley Cyrus, der verdeutlicht, warum sich vermutlich so viele auf sie einigen können, der zeigt, auf was sie sich alles einlässt und wohin sie überall Augen hat. Da kommt sie 2019 in Glastonbury auf die Bühne, sie setzt erst mit der ersten Zeile ihres Gesangs zu spät ein, kürzt ein zwei Silben, kommt auf die Spur, sagt dann noch kurz Mark Ronson an, um im nächsten Moment mitten in der ersten Strophe die „nice titties“ irgendeiner Zuschauerin zu loben - vor einem Publikum von geschätzten 50 000 Menschen: Hier ist ein Vollprofi am Werk, der nach Disney-Star-Dasein und innerer wie äusserer Befreiung durch Skandälchen nun die große Brückenbauerin im amerikanischen Popbusiness geworden ist. Mal ganz abgesehen davon, dass es kaum einen Menschen auf der Welt gibt, dem es in aller Öffentlichkeit gelingt, Brüste zu loben, ohne dass das irgend jemand peinlich finden wird, erntet Miley auf ihrem aktuellen Album flankiert von der Über-Single „Flowers“ nun eben von den Brücken, die sie gebaut und bepflanzt hat. Der Folkpop bis Poprock dieser Platte ist der Soundtrack ihrer Versöhnlichkeit, und seine Urheberin ist die einer der erstaunlichsten Entertainer:innen unserer Zeit.


Songs zum Sonntag /// 230423

Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.37/// „Lawine“ heißt der Song von Olliso, den der Berliner Musiker nun zusammen mit der Sängerin Chiara Innamorato veröffentlicht hat. Die Lawine des Liedes ist eine Gefühlslawine, die eben durch sprechen ausgelöst wird, sondern eben durch ein, durch dieses Lied: „Und deshalb sitze ich hier, zuhause an meinem Klavier, die Töne sprechen mit mir, Gedanken bei Dir.“ Das Lied handelt damit sozusagen auf zweiter Ebene von Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.48ebenso der Chance als auch vom Dilemma vieler Lieder des Deutschpop: Die Emotionalität wird sozusagen von erster Sekunde derart massiv behauptet, dass das Lied fast daran zerbricht, und wenn man dann nicht mehr hinterher kommt, enteilt der Song in den unendlichen Weiten des Kitsch. Wenn man aber hinterher kommt und mitgeht muss man gleichzeitig auch schmachten und könnte in Tränen ausbrechen. So ist „Lawine“ je nach Disposition des Hörers mal großartig, mal peinlich entrückt. /// Irgendwann habe ich auf diesem Blog mal den Begriff der Coverstabilität erfunden. Er meint, dass ein Song eine Form von Affinität mit sich bringen kann, von Anderen nachgespielt zu werden und Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.11eben auch in anderen Genres als dem des Originals zu funktionieren. Die Band „Jante“ hat sich nun des Hits „Lila Wolken“, im Original von Materia, Yasna uns Miss Platnum , angenommen und ihn als Folk- bis Country-Nummer eingespielt - samt Flanell-Hemd und Banjo. Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.30Die lila Wollen erweisen sich hier als eben coverstabil, das funktioniert wunderbar und wirkt souverän und melancholisch. Tolle Version eines tollen Songs einer tollen Band. /// Einen auf seine Weise recht merkwürdigen Popsong hat die Sängerin Anika Auweiler aufgenommen - merkwürdig weil der spacige Synthpop nicht zu der Interpretin passt: „Ich will mit Dir tanzen, Baby  heißt der Song und ist ein Selbst-Cover, das in vielerlei Hinsicht aus der Zeit zu gefallen zu sein scheint und genau deswegen in die Zeit passt, wenn man auch tanzen will. /// Kann man gleich hinterher  it will be alright“ von Carla Lina hören, das wirkt, als hätte jemand einen Jazz-Standard in einen britisch Tee-affinen Soul gehüllt. Carla Lina hat ein trotziges Timbre in der Stimme, mit dem man vielleicht gerne auch mal ein etwas tiefer gehenderen Song hören würde, aber „it will be alright“ ist schon alright. /// Video-Links /// < Lawine > /// < lila Wolken > /// < ich will mit tanzen, Baby > /// < i will be alright > ///