Grazie per questa musica
Nicht mehr alle Tassen

Binnenpool und Brainironie

Das Video zu „Taken by a stranger“ und einige Gedanken zum Entertainmentverständnis von Stefan Raab

Wenn heute, am 24.02.2011 um ca. 19:56 das neue Musikvideo „Taken by a stranger“ von Lena Meyer-Landrut auf der ARD urgesendet wurde, so ist dies nur ein weiteres Detail einer Karriere, die sich fern von heutigen Popvermarktungsstrukturen abspielt: Die Ursendung eines Musikvideos zur besten Sendezeit? Das muss lange her sein, wenn es dies überhaupt schon mal gegeben hat. An und für sich ist das Musikvideo ein Medium, das Lena Meyer-Landrut bislang kaum bedient oder gebraucht hätte: Für „Satellite“ hatte man noch in der Nacht von Lenas Sieg bei „Unser Star für Oslo“ mit den mobilen Kameras der Liveshow ein Video zusammen gezimmert, das wahrscheinlich sogar ihre grössten Fans nicht wirklich ernst nehmen konnten. Von ihrer Debutplatte koppelte Lena dann noch eine Single aus, für die dann wirklich ein Video gedreht wurde: „Touch a new day“ war ein an Popreferenzen recht geschickt gespickter Kurzfilm, der ausser einigen Wochen in den Charts auf iTunes und einer stattlichen Klickzahl auf YouTube wohl nicht gerade in die Geschichte des Musikvideos einzog, was freilich weniger an Lena, dem Lied oder dem Clip lag, als vielmehr an der Tatsache, dass das Musikfernsehen weitestgehend erodiert ist und Lena ja gerade mit einem Musikfernsehformat der Post-MTV-Ära berühmt geworden ist: Der Castingshow. Im Falle von „Taken by a stranger“ gibt es seit Samstag - also einen Tag nach der Wahl zum Eurovisionsong - ähnlich wie bei „Satellite“ ein Video, das wohl zur Studiotonspur aus den Live-Auftritten mit „Taken by a stranger“ zusammen gestellt wurde. Das ist einerseits verständlich, weil der internationale Markt der Grand-Prix-Verrückten auch danach verlangt, aber es trägt natürlich auch Anforderungen an jenes Video heran, das dann heute um kurz vor acht urgesendet wurde: Wenn sozusagen ein temporär offizieller Clip die Wartezeit auf den offiziellen Clip verkürzen soll, dann muss der eben schon etwas bieten, so dass sich das Warten gelohnt haben wird. Der Popticker kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man im Zuge dessen auch noch ein bisschen mehr Zeit für dieses Video hätte verwenden können: Derzeit tritt Lena ohnehin wieder jeden Tag bei „TV total“ auf und spielt live und in Jeans und T-Shirt nach und nach ihre Platte mit den Heavy Tones. Die Entspanntheit, die sie in diesem ihrem medialen Wohnzimmer inzwischen erreicht hat, und die, als sie dies mit der ersten Platte auch so machte, noch leider meist in Unterspanntheit kippte, ist bewundernswert, und die Version, die sie gestern zum Beispiel von „Mama told me“ sang, wird kaum zu toppen sein: Wozu also die Eile mit einem Musikvideo, das so ohnehin niemand erwartet? 

Bild 2
Um so überraschender dann der soeben urgesendete Clip: Ein in Sepiaton älterer Filme gehaltener, optischer Loop einer offenbar ein wenig psychopathischen Lena in einem verspiegelten Hotel, dessen Düsternis ziemlich gelungen adäquat zum Song funktioniert, würden nicht wieder diese komischen Tänzerinnen auftauchen, die vielleicht für den Grand Prix funktionieren werden - in Songscasting und Musikvideo wirken sie fehl am Platz.

Lena macht eben doch alles ein wenig anders, als man es im Pop gewöhnt ist, und die Tatsache, dass man ihrem Musikvideo einen Sendeplatz kurz vor der Tagesschau frei räumt, ist auch noch mal ein Machtbeweis von Stefan Raabs omnipräsenten Entertainment-Imperium Brainpool. Schon erstaunlich: Aus der Keimzelle „TV total“, welche auf dem banalen Prinzip der Zweitverwertung beruht, hat Raab nach und nach ein Unternehmen geschaffen, das einerseits sämtliche boulevardistischen Erscheinungen des Fernsehens aufs Korn nimmt, andererseits Stars hervor gebracht hat, die es erfreulicherweise vor eben diesem Boulevard schützt. In diesem Gefüge hat Brainpool ganz eigene Marktgesetze geschaffen, in welchem der ironische Charme einer Lena Meyer-Landrut einerseits die mediale Dauerverfügbarkeit jenseits von „TV total“ bedient, sie aber auch ständig wieder in Frage stellt, wenn Lena ihre eigenen Auftritte backstage in ihrem Videotagebuch sarkastisch kommentiert. Dem längst eingetretenen Rollback des Lena-Hypes im Form von Leuten, die sie nicht mehr sehr wollen und ihr inzwischen Arroganz und verlorene Leichtigkeit unterstellen, ist die brainpoolsche Form der Binnenironie so zuvor gekommen.

Auch Lenas Album ist das Produkt der brainpoolschen Unterhaltungsvermarktung: Einerseits erscheint es durchaus im Anspruch ein Album zu sein, andererseits leugnet es auch nicht die Kollektion von 12 potentiellen Grand-Prix-Songs zu sein. Das Sammelsurium an Liedern aus verschiedenen Songschmieden wird zusammen Bild 3 gehalten durch den loungigen Gebrauchspopsound, mit dem Stefan Raab auch schon die Musik andere InterpretInnen eingelullt hat, und dieser Sound schafft eben doch eine Einheitlichkeit, die es vermag, die Idee eines Albums zu simulieren. Die Platte spiegelt so das Entertainmentverständnis eines vom Zweitverwertung geschulten Unterhaltungsproduzenten, der sämtliche Fehler vermeidet, mit denen andere in seine Show rutschen. Um sich von solchen Fehlern rein zu waschen und ein ähnliches ironisches Verhältnis zum eigenen Tun zu suggerieren, kommen nach wie vor Gäste zu „TV total“, die dort eigentlich veräppelt werden.  Und so schafft Raab eben immer wieder eine Ambivalenz: Einerseits nervt er total, andererseits hat sein Marketingsverständnis eine Popmarktlücke für eine Lena geschaffen und ausgefüllt, einerseits ist mir Lenas Album zu öde, andererseits schicken wir mit "Taken by a stranger" den besten Popsong zum Grand Prix, den Deutschland je dorthin entsendet hat.

 

 

Kommentare

Pardon, Link zum Video Link2dance Boot Camp 2009 vergessen.
Hier geht es lang: http://goo.gl/7dxLS

Recht hat er, der Herr Gieselmann. Und wie immer mit Sachverstand und Respekt gegenüber anderen geschrieben, ohne erhobenen Zeigefinger. Das ist zu großen Teilen im deutschen Blätterwald ja leider den Bach runter gegangen.
Da schrieb am 08. Februar ein schweizerischer Bloger aus seiner geografischen Sicht: "Was nach den zwei Sendungen auffällt, ist, dass Lenas "Wildheit", "Zappeligkeit", ihre "Ungelenktheit", sowie ihr zielloses "Händeverwerfen" fast vollständig verschwunden sind oder nur noch vereinzelt und abgeschwächt zum Zuge kommen. Und trotzdem erkennt man sie immer noch als DIE Lena und das ist das wirklich Beruhigende an dem ganzen "Theater", das um Lena gemacht wurde in den letzten paar Wochen, ohne dass es dabei jeweils um Lena ging. Es zeigt sich, dass Lena sich selber eben nicht als Produkt, Masche oder Marke wiedererkennt, sondern als Performerin. Toll!" Quelle: http://goo.gl/NoSux
Und was die Tänzerinnen anbelangt: 2010 bekam sie ihren Song durch ein Voting. Sie hat das allerbeste daraus gemacht. 2011 konnte sie sich selbst von Beginn an einbringen. Auch das, was sie bis vor USFO machte, nämlich Tanz. Hier mal ein Link zu Link2dance 2009 in Hannover. Video laufen lassen. Sie erscheint mehrfach. Man wird vergleichen können mit dem jetzigen Video. Das ist einfach nur LENA

Ein guter Artikel, finde ich. Aber das Wort "Songcasting" hätte sich vielleicht vermeiden lassen. Es sollte jenen Leuten vorbehalten bleiben, die sich abstrampeln, um Lena in Klischees zu packen.

Ich finde in dem Blog, lieber Herr Gieselmann gut, dass Du von Deiner Meinung sprichst und nicht verallgemeinerst.
Ich für meinen Teil finde das Album "Good News" gut. Es macht gute Laune, und bei den vermeintlich langweiligen Songs, genieße ich Lenas schöne, rauchige und den Song schön interpretierende Stimme. Ich stehe da ja nicht alleine ;) Viele junge bis jüngste Lena Fans machen sich da wahrscheinlich überhaupt keine Gedanken und hören es einfach gern ;)
Was das Video betrifft, ich finde es genial gemacht. Die Tänzer sollen wahrscheinlich ein Bindeglied zum Auftritt in Düsseldorf sein - ohne die, würde es auch sehr gut funktionieren - aber wahrscheinlich hat man sich was dabei gedacht.
Lena go Düsseldorf und make it spuky ;)
L.G., Jens

"Das muss lange her sein, wenn es dies überhaupt schon mal gegeben hat. "

Ca. ein Jahr?

"das wahrscheinlich sogar ihre grössten Fans nicht wirklich ernst nehmen konnten."

Doch, schon deshalb, weil der Zeitdruck groß war und der Fokus ganz auf Lenas Spiel mit der Kamera lag, eine logische Fortführung ihrer USFO-Autritte. Das Video war perfekt, wie die stattliche Zahl von mittlerweile 70 Millionen YT-Views der offiziellen Videos zeigt (tvtotal, eurovision, bbc).

"würden nicht wieder diese komischen Tänzerinnen auftauchen, die vielleicht für den Grand Prix funktionieren werden - in Songscasting und Musikvideo wirken sie fehl am Platz."

Lena wollte sie, Lena hat sie bekommen. Musikvideos sind keine Spielfilme.
Das VHS-Samenballett wird zum Kult avancieren, wir werden noch in Jahrzehnten davon sprechen.

"und die Tatsache, dass man ihrem Musikvideo einen Sendeplatz kurz vor der Tagesschau frei räumt, ist auch noch mal ein Machtbeweis von Stefan Raabs omnipräsenten Entertainment-Imperium Brainpool."

Es liegt doch im ureigenen Interesse der ARD, daß Zuschauer gefesselt vor der Glotze sitzen und mitfiebern, wenn der ESC übertragen wird, da ist es nur logisch, daß sie das Video prominent plazieren. Die ARD wird in der Woche vor dem ESC in einstündigen Sondersendungen berichten, da wird sie wohl niemand getreten haben...

Vielen Dank für ihren überlegenswerten Artikel, der eigene Gedanken formuliert, statt sich dem allgemeinen Trend des Rabb- und Lena-bashings anzuschließen. Ja, wir schicken den besten Popsong zum Grand Prix, den Deutschland je dorthin entsendet hat. Genau DAS war das Ziel von USFD. Dafür hat Stefan Raab auch das Risiko schlechter Quoten in Kauf genommen. Was ist auf dem Mann herumgeprügel worden, nur weil keiner den Sinn der Sendungen verstehen wollte. Gut, dass es Menschen gibt, die Sachen, die sie für richtig halten auch gegen Widerstände durchziehen. Wie Stefan Raab und Lena Meyer-Landrut.

Das letzte mal dass ein Musikvideo auf diese Weise vorgestellt wurde ist etwas mehr als ein Jahr her. Nur da waren auch noch Pro7, sat1, Kabel1 und N24 mit von der Partie. Jetzt rate welches Video von welchem Künstler das war und was der mit dem ESC zu tun hat.

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