Einige Gedanken zum Authentizitätskonzept von Lena Meyer-Landrut
Kaum ein Text über Lena Meyer-Landrut kommt ohne den Verweis auf ihre Natürlichkeit und Authentizität aus; ihre unverstellte Art, öffentlich zu sein, ist also im wahrsten Sinne des Wortes das Geheimnis ihres Erfolges - Geheimnis deswegen, weil es unmöglich oder zumindest schwer ist, ihre Natürlichkeit zu theoretisieren. Drei Fragen sind, um doch darüber zu sprechen, zu klären: Was ist Authentizität? Wie kann man in der per se nicht gerade authentischen Kunstform Pop authentisch sein? Und was macht schliesslich das spezifisch Authentische von Lena Meyer-Landrut aus?
Im Onlinelexikon Wikipedia ist Authentizität in einem sehr ausführlich Artikel zunächst so beschrieben: „Authentizität bezeichnet eine kritische Qualität von Wahrnehmungsinhalten (Gegenständen oder Menschen, Ereignissen oder menschliches Handeln), die den Gegensatz von Schein und Sein als Möglichkeit zu Täuschung und Fälschung voraussetzt. Als authentisch gilt ein solcher Inhalt, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung, unmittelbarer Schein und eigentliches Sein, in Übereinstimmung befunden werden. Die Scheidung des Authentischen vom vermeintlich Echten oder Gefälschten kann als spezifisch menschliche Form der Welt- und Selbsterkenntnis gelten. Zur Bewährung von Authentizität sind sehr weitreichende Kulturtechniken entwickelt worden, die die Kriterien von Authentizität für einen bestimmten Gegenstandsbereich normativ zu (re-)konstruieren versuchen.“ Wenn hier also von Kulturtechniken die Rede ist, so muss man zunächst wohl konstatieren, dass Popmusik und -kultur zwar diesen Techniken zuzurechnen ist, nicht aber zu den spezifisch authentischen. Im Pop geht es vielmehr immer um die Schaffung von Oberflächen, auf denen sich bestenfalls überraschende Inhalte wieder finden. Zu diesem Zweck werden gerade in der Popmusik temporäre Erscheinungsfiguren erfunden, die den Transport der Musik dienlich sind - in dem Sinne, dass in diesen Erscheinungsfiguren Visuelles und Musik zusammenfallen. Zwischen dem vermeintlich privaten Popstar und seinen temporären Erscheinungsfiguren spannt sich sein jeweiliges, dementsprechend auch vorüber gehendes Image auf: Wenn zum Beispiel Madonna für eine Zeitlang als Cowgirl Madonna-Songs präsentiert, nimmt natürlich keiner an, dass Madonna nun ein authentisches Cowgirl ist, die sich neben den Kühen um Lieder kümmert. Der Cowgirlstyle ist das visuelle Vehikel, hinter der sich Madonna gleichermassen verschanzt wie auch sichtbar macht. In diesem Gefüge bleibt naturgemäss kaum Platz für die im zitierten Wikipedia-Ausschnitt beschriebene Übereinstimmung zwischen unmittelbarem Schein und eigentlichem Sein. Der Popfan akzeptiert den Popstar als Projektionsfläche für viele verschiedene Figuren möglichen eigentlichen Seins.
Verzichtet der Popstar nun auf die Etablierung temporärer Erscheinungsfiguren, nehmen um so mehr Projektionen seiner vermeintlichen Privatheit diese Leerstelle ein. Es ist allerdings nicht weniger absurd anzunehmen, die Person, die hinter einem Popstar steckt, sei tatsächlich so, wie ich sie mir vorstelle, als bei Madonna anzunehmen, sie kümmere sich um Kühe. Ein grossen Popphänomen der Nullerjahre, nämlich t.A.T.u., nutzte die Schwäche von Popfans, Popstars ohne Erscheinungsfiguren wahrzunehmen aus, um selbst bei Madonna die Frage aufzuwerfen, ob sie wirklich lesbisch seien, obwohl sie sich nur in einem Musikvideo küssten. Bei Madonna löste dies bekanntermassen den von mir so genannten Borgreiz aus: Sie fühlte sich von t.A.T.u. übergangen und wollte zur Assimilation des Poptopos‘ „vielleicht lesbischer Kuss“ auch öffentlich eine Frau küssen und küsste dann auf MTV Britney und Christina Aguilera. (mehr zu dieser Causa < HIER > im Popticker). Übertragen auf Lena Meyer-Landrut heisst das: Alles, was wir an ihr als authentisch einschätzen, dürfte dennoch ihrem Gespür, öffentlich und somit inszeniert zu sein, geschuldet sein.
Lena Meyer-Landrut wurde ja sozusagen von der ersten Sekunde ihrer Karriere an, als sie mit jenem „Ei Ei Ei“ aus Adeles Song „my same“ zu ihrem ersten USFO-Auftritt auf die Bühne kam, als Popstar wahrgenommen. Da sie zu diesem Zeitpunkt noch keine ersichtliche Erscheinungsfigur hatte, nahm man von vornherein ihre öffentliche Wirkung mit ihrem tatsächlichen Sein als identisch an. Sowohl sie selber als auch Stefan Raab erkannten in diesem Authentizitätsparadox eine grosse Chance und, man muss das auch einmal so unromantisch formulieren, eine grosse Popmarktlücke in Zeiten von hyperkünstlichen Lady Gaga-Popstars. Schon mit ihrem Erfolg in Oslo traten die Spötter aus den Plan, ihre unverstellte Art werde mehr und mehr zu einer Rolle, die sie spiele, aber dieser Vorwurf ist in etwa so leer wie die Annahme, Lena Meyer-Landrut sei 24 Stunden am Tag so, wie man sie öffentlich erlebt. Trotzdem gibt es natürlich Verhaltensweisen von Lena, die man sich gut und gern auch bei ihr vorstellen könnte, wenn sie mit zwei Freundinnen ins Kino geht - ihre Schlagfertigkeit beispielsweise ist unerreicht, und es ist kaum vorstellbar, dass sie nur öffentlich über sie verfügt. Gestern erst wieder trat sie in der in dieser Woche täglichen Show „Countdown für Lena“ um 18:50 Uhr in der ARD auf, und den von allen deutschen Moderatoren nach Fritz Egner für diese Show am zweitungeeignetsten Frank Elsner liess sie zu keiner Sekunde auflaufen, obgleich er ihr eine Menge Gelegenheiten dazu bot. Ihre Einfachheit war wieder entwaffnend, während sich Elners 70er-Jahre-Humor deutlich als Auslaufmodell präsentierte.
Inzwischen benutzt auch Lena temporäre Erscheinungsfiguren als Vehikel für ihre Musik. In dem Video zu ihrem diesjährigen Songcontestbeitrag „Taken by a stranger“ tritt sie nicht als authentische Lena Meyer-Landrut auf. Die hier singende Figur ist leicht in Richtung einer Femme Fatale inszeniert, und in dieser doch noch recht dezenten Figur tritt sie auch am Samstag auf die Bühne - in zwar schlichtem Kleid aber auf 14 cm hohen Absätzen. Die Ganzkörperkondomtänzerinnen werden sich auf den gigantischen LED-Bildschirmen vervielfachen und schliesslich wie die Spiegel in dem Videoclip zerbrechen. Andere Länder werden hingegen vermutlich gerade den im letzen Jahr schlichten, letztlich pseudo-authentischen Stil vom Vorjahr kopieren, und es steht zu vermuten, dass das Mass an Inszeniertem von Lena wiederum den Nerv dieses Jahres trifft, denn Authentizität im Pop gibt es nicht, und kopierte Authentizität ist einfach noch dämlicher.
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