Gesteinsformationen und Aggregatzustände: Hat Björk noch alle virulenten Tassen im Schrank?
„Biophilia“ ist nicht einfach nur der Name eines Albums von Björk, es ist eine Arbeitsphase in ihrem Schaffen, dessen Zentrum die Platte mit diesem Titel ist. Und um diese Platte scharen sich verschiedenste andere Arbeiten und Kooperationen der isländischen Sängerin: Björk hat mit entsprechenden Experten neue Instrumente gebaut, sie geht mit diesen Instrumenten drei Jahre auf Tour, sie hat eine App für das iPad programmieren lassen, das als Portal für Sub-Apps dient, mit denen sich die musikalischen Bögen einzelner Lieder mittels der appleschen Multitasking-Gesten verändern und remixen lassen, sie hat Filme gedreht, die teils auf den Konzerten, teils im Internet und wohl auf einer DVD zu sehen sein werden. Von allen diesen Vorhaben hat man in den letzten Monaten vieles gehört, wenn man sich für Björk interessiert, nun aber ist zunächst einmal das Album erschienen, wo die Lieder in der Form zu hören sind, wie man Lieder kennt: Man sieht weder selbst gebaute Instrumente noch Apps auf einem Bildschirm.
Die Musik auf dieser CD hört sich erst einmal an, wie sich Lieder von Björk eben anhören: Einerseits organisch, ländlich, landschaftlich und andererseits elektronisch, verstörend, rumorend - diesen inneren Widerspruch treibt Björk auf „Biophilia“ allerdings auf die Spitze. Über allen gebauten Orgeln und daher gezutzelten Beats thront Björks Stimme in diesen merkwürdigen björkschwülstigen Melodien und dem isländischen Englisch-Akzent: Niemand könnte unter diesen Gesang Musik erfinden, niemand könnte auf diese Musik singen. An sich sind die Lieder im Popsinne wieder zugänglicher und prinzipiell auch melodischer geworden als auf den beiden letzten Alben „Medulla“ (2004) und „volta“ (2007), und doch fragt man sich immer wieder und wie immer, ob diese Frau wohl noch alle Tassen im Schrank hat; wenn etwa das erst von einer fast kirchlichen Energie einer Orgel getragene „thunderbolt“ in einen künstlich verlangsamt wirkenden Dub-Bass mündet, der mehr oder minder zufällig zum Ende hin auszuswummern scheint, oder wenn „mutual core“ wahllos dahin driftet, als hätte Björk jede ordnende Macht über ihre Musik verloren, wenn man diese nicht mit einer App zähmt. So ist es dann aber auch wieder nicht: Dieses Album in seiner blossen Album-Form ist so kunstvoll und virtuos ausproduziert, wie man in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sicherlich keine Musik gehört hat. Selbst auf meinem mittelmässigen Computer-Lautsprechern erlangen die Songs eine räumliche Dichte, die eine so starke, tragende innere Spannung erzeugen, wie man sie Popmusik eigentlich gar nicht mehr zugetraut hätte. Mir fiel in meiner ersten Begeisterung eigentlich nur eine Referenz ein, das Album „homogenic“ (1997) ebenfalls von Björk. Sie hat tatsächlich die „full artistic controll“, wie sie es einst bei Harald Schmidt sagte, und sie nutzt sie nach wie vor wie keine andere Popsängerin auf diesem Planeten.
Dann sind da aber auch die Texte: Björk singt hier über Viren, Gesteinsformationen, Aggregatzustände, kosmische Kreise und komische Planeten; einerseits macht das Laune und Spass, (wenngleich die Platte dann doch recht humorfrei daher kommt), anderseits aber fragt man sich nach drei, vier Liedern dann schon: Könntest Du, liebe Björk, auch mal über etwas singen, das in dem Kosmos, in dem ich, Dein Hörer, lebe, eine Rolle spielt - und nicht nur in dem von „Biophilia“? Das ist dann aber auch Augenwischerei, denn zweifelsohne: Eine Musik wie diese hat man noch nicht gehört, und das passiert dann eben auch nur alle 10 bis 15 Jahre, das letzte mal ging es mir 1997 so: Erstes Hören von „Homogenic“ auf dem kleinen Ghettoblaster in der Küche der Knaackstrasse 90, Berlin. Nun bin ich gespannt ob ich dieses Erlebnis in diesem Monat zweimal haben darf: Morgen erscheint „Ilo Veyou“ von Camille.
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