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Popticker: Platten des Jahres 2011

Musikvideogenres

Die wichtigsten Projekte des fast neunjährigen Poptickers übertrage ich nach und nach auf diese Blog-Plattform - heute also dieses hier: Bereits vor ca. zwei Jahren hat sich der Popticker im Zeiten der Musealisierung des Musikvideos an dessen Kategorisierung versucht und Musikvideogenres definiert anhand ihrer Musikdarbietungssituation.

 

SITUATIVES SINGEN

Situativessingen
 

Das situative Singen ist das weit verbreitetste Genre der Videoclips. Hierbei tun die jeweiligen Interpreten des betreffenden Liedes in realistischem Umfeld so, als würden sie singen (oder seltener: musizieren). Das kennzeichnende Merkmal des situativen Singens ist die Wahl einer Situation, in der man eigentlich nicht singen würde. Dabei spielt die Wahrscheinlichkeit, daß die InterpretInnen sich tatsächlich an dem Drehort aufhalten könnten, keine Rolle, denn situativ gesungen wird sowohl in realistischen Situationen wie im Restaurant, am Pool (Will Young "light my fire"), auf der Strasse (Santana "smooth") etc., als auch in Situationen mit symbolischen Charakter wie in der Wüste (ASD "fata morgana), auf dem Rollfeld (U2 "beautiful day") oder im Ambiente eines Filmstudios (Jeanette "rockin on heavens floor"). Das situative Singen schließt dabei sowohl den Gestus des in sich gekehrten Sängers ein (bei Balladen), als auch den des Sängers, bei dem das realistische Umfeld zur virtuellen Bühne wird. Eines der reinsten Videos des situativen Singens ist "uptown girl" von Westlife: Die vier Jungs betreiben einen Schnellimbiss und singen dabei.

 

SIMULIERTES MUSIZIEREN

Konzertsimulatio
 

Entscheidendes Merkmal dieses Genres ist die Auswahl einer Situation, in der man tatsächlich singen oder, hier öfter, auch musizieren würde; beispielsweise auf einem Konzert ("losin grip" von Avril Lavigne), bei Studioaufnamen ("all cried out" von den no Angels) oder im Bandprobenkeller (Beginn des Clips "guten Tag" von Wir sind Helden). Diese Momente des Musizierens können auch verfremdet dargestellt sein (Evanascence "going under").

 

TATSÄCHLICHES MUSIZIEREN: DAS LIVEVIDEO

Live
 

Hier werden die Interpreten gefilmt, während sie tatsächlich live das entsprechende Lied musizieren. Beispiele: "free" von Robbie Williams live in Knubsworth oder "business" von Eminem live in Barcelona. Das Livevideo eines einzelnen Liedes ist oft Teil von ganzen Konzertmitschnitten, die sich in Zeiten der DVD großer Beliebtheit erfreuen.

 

DAS TANZVIDEO

Tanzvideo

Der oder die Interpreten tanzen meist ergänzt von einigen Tänzern zu dem Song. Entscheidendes Charakteristikum des Tanzvideos ist, daß hier die Bewegungen der Tanzenden in Abstimmung mit der Kameraführung choreografiert sind. Singen und Musizieren ist auch hier oft simuliert ­aber eben nicht realistisch situativ, sondern als Teil der Choreografie. Das beste und bekannteste Tanzvideo in Reinform ist "vogue" von Madonna. Es gilt für das Genre Tanzvideo als stilbildend und ist als solches ein Meilenstein der Geschichte des Videoclips.

 

DAS SITUATIVE TANZVIDEO

Situationstanz

Das situative Tanzvideo ist ­wie der Name schon sagt- mit dem situativen Singen und mit dem Tanzvideo eng verwandt. Hierbei steht jedoch das Tanzen in Situationen, in denen man tatsächlich tanzen würde, im Vordergrund. Die Kameraführung fügt sich weniger der getanzten Choreografie als vielmehr der Tanzsituation ­zum Beispiel in einer Diskothek. Ein situatives Tanzvideo in Reinform ist der Clip zu "it’s like that" von Run DMC feat. Jason Nevins, in dem zwei Gangs sich gegenseitig ihre besten Breakdancemoves vorführen. (Ein Video, das oft zitiert wird ­gerade erst wieder von Christina Aguilera im Clip zu "can’t hold us down").

 

DER KURZFILM

Videogeschichte

Es gibt ein weites Feld der Musikvideos, die den Anspruch eines Kurzfilmes hegen, die ­sprich- das Erzählen einer Geschichte in den Vordergrund stellen. Das entsprechende Lied wird zur Filmmusik. Dabei treten die Interpreten des Liedes manchmal in Erscheinung, manchmal nicht. Ebenso kann die erzählte Geschichte direkt mit dem Text in Verbindung stehen, muß sie aber nicht. Hierzu zwei Beispiel, beide von Blur, beide sehr schöne Kurzfilme: in "coffee and TV" sucht eine Milchtüte einen Joghurtbecher, in den sie sich verliebt hat, und findet ihn in dem Probenkeller der Britpopband; in "out of time" wird ein Moment von Heimweh eines auf einem Flugzeugträger stationierten Soldaten geschildert (klingt saudumm, ist aber ein wunderbarer Clip).

 

ERFUNDENE WELT

Erfundenewelt

Der erste Videoclip, für den so viel Geld ausgegeben wurde, daß der Regisseur in der Lage war, eine ganze Welt zu kreieren, in dem sich die Handlung des Clips abspielt, war Duran Durans "wild boys" ­lange Zeit war dies das teuerste Video aller Zeiten. Nicht nur aus diesem Grunde ist es historisch: Das Genre des Clips in einer erfundenen Welt wurde hier insofern begründet, als daß zum ersten Mal nicht die Bebilderung des Musizierens im Vordergrund stand, sondern der Clip als eigenständige Inszenierung (auch wenn die "wild boys" dieses Kurzfilms auch Singen simulieren). Der Clip dominierte das Lied ­nicht umgekehrt. Dies ist allerdings nicht das entscheidende Merkmal dieses Genres. Das ausschlaggebende Charakteristikum ist vielmehr schlicht die Tatsache, daß hier nicht in einem realistischem Umfeld gefilmt wird. Viele Tanzvideos fallen nicht in dieses Genre, wenn man die Räume, in denen getanzt wird, als gefilmte Bühne ­und somit als realistisches Umfeld- betrachtet. Dieses Genre leidet wahrscheinlich am Meisten unter der ökonomischen Krise der Clipproduzenten, denn eine durchinszenierte Welt ist meistens teuer, und somit werden Clips wie Christina Aguileras "fighter", in dem sie als ein Käfer auftritt, der von lebensgroßen Stecknadeln in einer schwarzen, öligen Grotte beworfen wird, immer seltener. In Clips in erfundenen Welten treten die Interpreten des Liedes nicht zwangsläufig auf, und wenn sie es tun, simulieren sie nicht zwangsläufig das Singen und Musizieren.

 

DAS ANIMATIONSVIDEO

Animationsvideo

Das Animationsvideo ist, wie der Name schon sagt, ein in irgendeiner Form animiertes Video, zum Beispiel durch Zeichentrick, Knetfiguren und so weiter. Daß es sich bei den genannten Kategorien eher um Charakteristika handelt, denn um Genres, die in Reinheit existieren, wird beim Animationsvideo besonders deutlich, denn im Feld der animierten Clips findet man Beispiele für jedes andere Genre. So ist zum Beispiel keinesfalls ausgeschlossen, daß in einem animierten Clip der Interpret des Liedes auftritt (in "let love be your energy" erscheint Robbie Williams als Zeichentrickfigur, in "Californication" treten die Red Hot Chilly Peppers als Videospielfiguren in Erscheinung, in "take one me" wachsen A-Ha aus einem Comic heraus), und somit stellen sich hier genauso die Fragen, ob hier Singen simuliert wird oder, ob das Umfeld, in der der Clip spielt, erfunden oder realistisch ist. Ein Meilenstein in der Geschichte des animierten Musikvideos sind zweifelsohne die Gorillaz, deren Bandmitglieder ausschließlich auf Papier als Comicfiguren existieren. Trotzdem musizieren die fünf in den animierten Videos in teils realistischen Bandsituationen.

 

DER KUNSTVIDEOCLIP

Allisfulloflove

Im Gegensatz zum Clip als Kurzfilm hegt der Kunstvideoclip weniger inhaltliche Ansprüche sondern formale: den nämlich, ein eigenständiges Kunstwerk zu sein. Der kommerzielle Werbeeffekt tritt in den Hintergrund, im Vordergrund steht der Anspruch nach formaler Geschlossenheit, danach, sein eigenes Genre zu generieren. Das Feld der Kunstvideoclips ist relativ klein, oft werden sie gar nicht für den breiten Markt ­sprich: für die Musiksender- produziert, sondern für DVDs oder für Kunstausstellungen im Museum (bestes Beispiel hierfür sind viele Videos von Björk, die meisten sind von international renommierten, bildenden Künstlern inszeniert "all is full of love" von Chris Cunningham) Stilbildend für dieses Genre war zweifelsohne der Clip zu "sledgehammer" von Peter Gabriel, der vielen, auch dem Popticker, noch immer als eines der besten Musikvideos aller Zeiten gilt.

 

HÄUFIGE MISCHFORMEN

Bildschirmfoto 2011-10-31 um 14.59.30
 

Kaum ein Clip ist wie gesagt eindeutig einem hier genannten Genre zuzuordnen. Dennoch kann man meist eine Grundtendenz ausmachen. Nehmen wir zum Beispiel noch einmal Jennifer Lopez‘ "my love don’t cost a thing": natürlich wird hier auch situativ getanzt und gesungen, der Grundgestus des Clips bleibt aber der der Inszenierung der Interpretin.

Eine Mischform, die fast so oft vorkommt, daß man in ihr ein eigenständiges Genre sehen könnte, ist die zwischen Kurzfilm und simuliertem Musizieren (Nickelback "long road"): Der Clip schneidet von einer gezeigten Handlung zur Band und umgekehrt (Zu diesen Clips könnte man auch die zählen, die Singles aus Soundtracks promoten: Die gezeigte Handlung sind Szenen aus dem entsprechenden Kinofilm). Oft auch stehen an Orten der gezeigten Handlung mehr oder minder zufällig die Interpreten und bewegen die Lippen (Nicole Russo "you might be wrong"): ein Zwitter also aus situativem Singen und Kurzfilm.

 

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