Dass die deutschsprachige Musik vom Schlager immer mehr unterwandert wird, oder, wenn man es wahlweise positivistisch formulieren möchte, vorm Schlager keine Angst mehr hat, ist schon fast eine Erkenntnis, die man nicht mehr betonen muss - der Popticker hat zu diesem Phänomen ja bereits mehrfach das Sub-Genre des urbanen Schlagers ausgerufen (das sich mittlerweile verselbstständigt und in mehrere Sub-Sub-Genres gespalten hat - nachzulesen in der letzten Folge dieser Rubrik über Pop mit deutschen Texten < HIER >). „Gleis 8“ nun stehen nun mit ihrem zweiten Album „endlich“ auf dem Gleis des Bahnsteiges Schlager nicht wie die 7 auf Bahnsteig 8 - sondern auf dem Gleis zwischen Hamburg und Berlin, welches in der Hauptstadt immer das achte ist - daher der Name. Und irgendwie passt diese Musik auch zwischen Hamburg und Berlin wie die Faust aufs Auge. Es ist dies die Band von AnNa R., hauptberuflich die Sängerin von Rosenstolz, und „Gleis 8“ wirkt dann eben auch wie das Sub-Projekt von Rosenstolz oder anders gesagt: Rosenstolz ohne Peter Plate. Da geht es ein wenig rockiger zur Sache, aber es hilft nicht viel - bei mir springt kein Funke aus den Gleisen des Schlager-Rock, und AnNa R. singt: „Wenn ich nach vorn seh', blickst Du zurück / wenn ich Dich anschau', senkst Du den Blick / wenn's für mich hell wird, umhüllt Dich die Nacht / und wenn ich träume, wirst du wach“. Na ja. Das ist schon ein wenig individueller als blosser Nullachtfünfzehn Schlagertextbrei, aber es findet keine Mitte.
Auch ein Pendler zwischen Berlin und Hamburg ist der Hamburger Schullehrer und Blumfeldsänger Jochen Distelmeyer, den man auf dieser ICE-Strecke hin und wieder im Bord-Restaurant trifft, und der nun ein schlankes, abgespecktes Cover-Album veröffentlicht hat - verschiedene, nachgespielte Lieder also, unplugged und nackt mit der 12-String-Gitarre (mutmasslich) und wenigen anderen akustischen Instrumenten; Britney Spears, Lana Del Rey, Radiohead, The Verve - die Auswahl ist weit gefächert und überraschend, und um so stimmiger findet Distelmeyer eine Linie, auf der sich alle diese Lieder treffen können. Man kann daran schon erkennen: Diese Platte gehört eigentlich nicht in diese Rubrik, denn es finden sich hierauf keine deutschen Texte; aber Distelmeyer als solcher textet normalerweise natürlich schon auf seiner Muttersprache, und dieses Album verneint also explizit die eigenen (deutschen) Texte, und dann habe ich sie eben doch hier mit rein genommen. Tatsache ist: Distelmeyers Stimme klingt mit englischen Texten sehr anschmiegsam und voll. Und auch wenn die Songauswahl wie aus einem Guss wirkt, funktioniert das Covern hier doch sehr unterschiedlich. Die flächig-folkigen Versionen von „Toxic“ oder "Video Games" beweisen, was man zwar schon wusste, nämlich dass es sich hier um coverstabile, tolle Songs handelt, „Bitter Sweet Symphony“ (The verve) und "Pyramid Song" (Radiohead) überschatten in ihren Originalversionen jeden Bearbeitungsversuch. Summa summarum aber doch ein schönes, feines, kleines Projekt von einem bemerkenswerten Musiker.
Gefühlschaos, Pathos, Pop und Begleitumstände: „Tüsn“ aus Berlin sind ganz und gar rätselhaft und spalten die Hörerschaft. Sie musizieren mit Synthies und Band aufgebauschte Piano-Balladen, die so düstere Titel haben wie “Schuld“, „Hannibal“ oder „in schwarzen Gedanken“ („Ja, ich will krank sein, ja, ich will Geist sein / Für Geisteskranke haben Konventionen keinen Reiz / Wenn du den Ausbruch wagst, dich neu erfinden magst / Und du nach Sehnsucht fragst / Bin ich da, ich bin da, ich bin da“). Der Sänger pflegt für diese gothicschen Lieder einen Gesangsstil, den es in solch exaltierter Versenkung seit den 80er Jahren, wo man sich noch richtig rein gehangen hat, nicht mehr gegeben hat. Mit diesem hochemotionalen Popentwurf haben sich die drei jungen Männer einen eingeschworenen Fankreis und einige uneingeschworene Ablehner erspielt. Um sich auf irgendeinen Umweg diesem doch ziemlich eigenen Popentwurf zu nähern, sind es dann Vergleiche, die in ihrer disparaten Summe etwas über diese Band verraten. Tüsn sind schon als die deutschsprachigen Cure, die deutschsprachigen Muse oder die deutschsprachigen Hurts bezeichnet worden, und für alle diese Parallelen fänden sich Argumente. Dennoch haben alle genannten Bands einen Effekt, den Tüsn vermissen lassen: Bands wie Cure, Muse, Hurts - wenngleich allen einer andere Popidee verschriebeb - wissen in ihrem jeweiligen Anspruch an Ernsthaftigkeit immer auch um die Pose und die Lüge, die dem Pop als solchem innewohnt. Der Emotions-Authentizitäts-Wahn, den Tüsn jedoch vorgaukeln, lässt jedes popistische Augenzwinkern bei Seite, und jeder „schwarze Gedanke“ (oder Markt), jede „Schuld“ und jeder „Sturm“ und jeder „Frieden“, der in diesen Songs besungen wird, legt Wert darauf aus tiefster Seele empfunden worden zu sein, empfunden worden sein zu müssen, um besungen werden zu können. Das ist, mit Verlaub, derselbe Irrtum, dem Helene Fischer aufliegt: Pop muss auch lügen dürfen.
Dota hingegen mag ich sehr gerne, sie erinnern in ihren verschwurbelten Texten und dem popaffinen Band-Sound machmal wie die etwas formbewussteren „Wir sind Helden“ - die Sängerin Dota Kehr textet und singt schon ein wenig wie Judith Holofernes. Ihr Klangbild war bislang eher Strassenmusikfolk und Kleinkunstbühnenpop, Chanson; aber auf ihrem neuen Album „Keine Gefahr“ muten sie ihren lyrisch-prosaischen Lyrics ein deutlichere Prise Pop und Jazz, Schweineorgel, Klippern und Beats zu. Das hebt das Ganze dann in einen flirrenden Popzustand, die die dotasche Musik von jeder Kitsch- und Esoterikgefahr entfernt. Hier hat eine Band einen Sound gefunden, der originell, eigen und doch einheitlich und funktional ist. Tolle Band, tolle Musik, tolle Platte, tolle Texte - beispielsweise „vergiftet“: Da ist Sorbit, Nitrit, Nitrat, ein Präparat aus Glutamat, war das ein Huhn? / Das Brot hier hat auch nichts mit Mehl nichts mehr zu tun / Verkappt, verkippt, verklappt ein Kahn den Dreck auf hoher See / Ich aß gern Schnee, willst auch du weg?“ - wer hat sowas schon mal in einem Popsong gehört?
Oder so etwas hier: „Ich geh mit dem Hammer in zerfurchte Felsen / Mache keine Pause, muss Jahre wälzen / Haue Löcher in die Angst, in mein Gewissen / Erste Brocken sind aus Kindheit und Vermissen / Und dann sitz ich auf'm Bett und esse Steine / Deine, meine, große, kleine“ - ein Text auf dem neuen Album von Bosse, „Engtanz“ heisst es, und es ist ein merkwürdig. Einerseits pflegt Bosse ja einen Gesangsstil, der sich, um vorsichtig zu sein, eher an der gesprochenen Sprache orientiert als an dem Anspruch, Melodien zu finden, die noch keiner gesucht hat. Diesen Sprechgesang unterfüttert Bosse nun aber andererseits mehr als je zuvor mit Orchester, Streichern, Bläsern und einmal gar mit einer Leier - mit vielen Klang-Zutaten also, die weniger rhythmisch als vielmehr melodisch aufplustern. Hin und wieder schwingt in dem sympathisch narrativen Gesangs-Spuren so die Sehnsucht nach melodischem Chamberpop und Breitwand mit, einem anderen Popentwurf als dem realisierten, wenn man so will, und aus diesem Kräftemessen zwischen zwei Polen von Pop zieht dieses Album eine authentische Kraft, die tatsächlich sehr zu Bosse passt. Ich mag das irgendwie sehr, aber ich höre es mir nicht an, das Mögen ist eher der Wille zum Mögen, und man kann auf keinen Fall sagen, dass das schlechte Musik ist, tolle Texte sind es allemal, zum Beispiel „Steine“ - siehe das anfängliche Zitat.
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