Wer gerne noch Vinyl kauft, findet in älteren Platten manchmal noch so genannte Presse-Sheets, auf denen die Musik und ihr Image-Korridor im Popmarkt umrissen ist, damit man auch im Vorhinein weiss, was man zu hören bekommt. An sich wurden hier für mögliche Kritiker in Fachzeitschriften Informationen zum „Produkt“ zusammen gestellt, die Musik-Industrie schuf sich so eine eigene Sprache, um über Popmusik reden zu können. Diese Sprache verselbstständigte sich dann in dem Sinne, als das die Industrie Wirkungsweisen und Sound-Konstrukte sprachlich ersann, bevor es sie zu hören gab. Ähnlich der Konzeptkunst in der Hochkultur kam also die Idee auf, Pop-Acts zu erfinden, die einem Erfolg versprechenden Konzept entsprachen, welche danach in die Tat umgesetzt werden. Diese Konzepte können freilich temporäre Erscheinungsfiguren bereits existierender Popstars sein - ebenso aber auch ganzheitliche Pop-Entwürfe, zu deren Realisierung dann MusikerInnen gesucht werden, die das vorformulierte Konzept verkörpern können (die Veröffentlichung dieser Suche hat dann wiederum die Castingshows hervor gebracht). Oder aber MusikerInnen ersinnen sich selber ein Pop-Konzept, das zu Ihnen passt, um es danach selber in die Tat umzusetzen. In einer neuen losen Reihe erinnert der Popticker an Konzept-Pop und Pop-Konzepte dieser Art - eine kleine Ideengeschichte der Popmusik von unserem Gastautoren Dietmar Poppeling.
NANA
Was war wann die Idee?
Ghetto- und Gangster-Rap waren Mitte der 90er schon eine Hausnummer im deutschen Pop-Markt, aber die Ghettos und Gangster waren weit weg. Man wollte einen US-Star vor Ort, einen Gangster, der auch zu Echo- und Bambi-Verleihungen kommt; und erfand Nana.
Wer steckte dahinter?
Nana Kwame Abrovka, ein gebürtiger Ghanaer, der im Alter von 12 Jahren mit seiner Mutter nach Hamburg kam, sich als DJ versuchte und für seine Rolle Gangster-Rapper ein kleines Vorstrafenregister vorzuweisen hatte.
Wie hörte sich das an?
Für damalige Verhältnisse sehr amerikanisch und authentisch gangstrig: Boom-Bässe, Bing, Bling und Synthie-Strings und darauf oder vielmehr darunter eine tiefe Rap-Stimme.
Wie sah das dann aus?
Die an der Hand abzählbaren Musikvideos erzählen die Geschichte eines Schwerverbrechers, der mehrere Lieder lang von mehreren Swat-Teams gejagt wird und dabei unter verschiedensten Umständen häufig in Autos einsteigt und fast ebenso oft auch aussteigt. Das Ganze hatte ein vergleichsweise hohes Budget, mit dem sich eine visuell adäquat amerikanische Ästhetik für Nana inszenieren liess.
Wer hat's erfunden?
Tim Renner. Der also offensichtlich immer wieder mal Ideen hat - manchmal auch sehr gute. Chris Dercon und Nana gehören eher nicht dazu.
Hat es funktioniert?
Künstlerisch tendenziell weniger. Aus heutiger Sicht hört sich das an wie ein Eurodance-Zwischenrap, der zu ganzen Liedern aufgeblasen wurde. Kommerziell war die Ausbeute immerhin bei zwei Top-10-Alben, einen No-1-Hit und drei weiteren Liedern in den Top-10 der deutschen Singlecharts - ähnlich nahmen sich die Charterfolge in Österreich und der Schweiz aus.
Und was ist daraus geworden?
Nana verwaltet sein Oeuvre mit Auftritten und Remixen.
Was war wann die Idee?
Vorbild war hier die Comic-Figur Betty Boop - eine der ersten populären, weiblichen Comic-Charaktere, welche nicht geschlechtslos daher kam - wie zum Beispiel Minnie Maus. Es waren die späten 80er Jahre, und mit der comichaften Erscheinungsfigur einer Popsängerin sollte die innerhalb Punk-Szene entstandene, feministisch subkulturelle Bewegung der Riot Grrrls in den oberflächlich schimmernden Pop-Mainstream übersetzt werden. Hierfür bekam die Figurenkonstruktion noch ein Prise Emma Peel.
Wer steckte dahinter?
Die 1970 in London geborene Alison Moira Clarkson kam zur Musik ursprünglich als Toningenieurin, bevor sie in Eigenregie ihr technisches Know-How nutzte um selber Songs aufzunehmen.
Wie hörte sich das an?
Eine Mischung aus Neneh Cherry, Deee-Lite und Salt N Peppa mit einer Prise britischem Skas.
Wie sah das aus?
Ein wenig wie der Comicrealfilm "Falsches Spiel mit Roger Rabbit": Bunt, reingemalt, britisch und retrofuturistisch wie ein Star-Trek-Spin-Off. Die Plattencover waren allesamt Comics.
Wer hat's erfunden?
Alison Moira Clarkson selber.
Hat es funktioniert?
Kommerziell hatte man sich vermutlich mehr erhofft - es fielen nur ein paar Top-Ten-Platzierungen und eine Nummer 1 in den amerikanischen Dance-Charts ab. Künstlerisch ist der Betty-Boo-Popentwurf freilich durchaus auch heute noch interessant - Lily Allen, Kate Nash, Katy Perry sind alles Sängerinnen, die wahrscheinlich wissen, wer und wie Betty Boo war.
Und was ist draus geworden?
Betty Boo als Figur existiert nicht mehr, aber Alison Moira Clarkson tritt mit dem alten Material noch vereinzelt auf, schreibt Songs für andere und taucht immer mal wieder in Bands und Kollaborationen auf.
Was war wann die Idee?
1975 Punk. Punkt.
Wer steckte dahinter?
Johnny Rotten, Steve Jones, Glen Matlock, Paul Cook und der 1979 verstorbene Sid Vicious
Wie hörte sich das an?
Punk. Punkt.
Wie sah das aus?
Punk. Punkt.
Wer hat's erfunden?
Malcolm McLaren
Hat es funktioniert?
Ja.
Und was ist draus geworden?
Ob Punkt noch lebt, darüber lässt sich lange diskutieren - die Sex Pistols haben sich laut Wikipedia inzwischen viermal aufgelöst. Für ein fünftes Mal müsste man sich erst einmal wieder zusammen rotten.
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