Wer gerne noch Vinyl kauft, findet in älteren Platten manchmal noch so genannte Presse-Sheets, auf denen die Musik und ihr Image-Korridor im Popmarkt umrissen ist, damit man auch im Vorhinein weiss, was man zu hören bekommt. An sich wurden hier für mögliche Kritiker in Fachzeitschriften Informationen zum „Produkt“ zusammen gestellt, die Musik-Industrie schuf sich so eine eigene Sprache, um über Popmusik reden zu können. Diese Sprache verselbstständigte sich dann in dem Sinne, als das die Industrie Wirkungsweisen und Sound-Konstrukte sprachlich ersann, bevor es sie zu hören gab. Ähnlich der Konzeptkunst in der Hochkultur kam dann auch die Idee auf, Pop-Acts zu erfinden, die einem Erfolg versprechenden Konzept entsprachen, welches danach erst in die Tat umgesetzt wird. Diese Konzepte können freilich temporäre Erscheinungsfiguren bereits existierender Popstars sein - ebenso aber auch ganzheitliche Pop-Entwürfe, zu deren Realisierung dann MusikerInnen gesucht werden, die das vorformulierte Konzept verkörpern können (die Veröffentlichung dieser Suche hat dann wiederum die Castingshows hervor gebracht). Oder aber MusikerInnen ersinnen sich selber ein Pop-Konzept, das zu Ihnen passt, um es danach selber in die Tat umzusetzen. In einer neuen losen Reihe erinnert der Popticker an Konzept-Pop und Pop-Konzepte dieser Art - eine kleine Ideengeschichte der Popmusik von unserem Gastautoren Dietmar Poppeling.
Folge 01 dieser Reihe findet sich < HIER >
NO ANGELS
Was war wann die Idee?
Die Idee war, im Jahre 2000 eine Art regionaleres Konzept der Spice Girls in einer Castingshow zusammen zu casten.
Wer steckte dahinter?
Seitens der Caster natürlich die die damalige „Popstars!“-Jury, die man heute eigentlich nicht mehr kennt, seitens der Gecasteten Nadja Benaissa, Lucy Diakoska, Sandy Mölling, Vanessa Petruo und Jessica Wahls.
Wie hörte sich das an?
Blubberpop, Bubblepop, Blubber-Bubble-Schnipp-Schnapp-Pop. Für das Debut-Album holte man sich eine Riege nationaler und internationaler Pop-Experten wie Leslie Mandoki (Dschingis Khan, Jeniffer Rush), Torsten Brötzmann (Ace Of Base, Alphaville) oder Peter Plate (noch vor Rosenstolz und Bibi und Tina), insgesamt 5 Männer, die den 5 gecasteten Mädchen ein charttaugliches Track-n-Hook-Gerüst unter die Stimmen produzierten. Wenn man die No-Angels-Hits heute hört, wirkt es nicht trashig, nein, man merkt sogar, wie wenig in den Nullern der europäische Popsound im Gegensatz zu heute von amerikanischem RnB beeinflusst war, dass es den globalen Soulpop eben noch nicht gab. Das ist aus heutiger Sicht im gewissen Sinne ein erfrischender Hör-Effekt. Dem entgegen steht der Eindruck, dass das Ganze schon irre starr und verkrampft daher kommt. Mithin keine förderliche Pop-Nuance.
Wie sah das aus?
Sehr bunt, sehr poppig, sehr erzwungen sexy, sehr regional-Spice-Girl-like, sehr nach: Begabte Sängerinnen tanzen nach Männerpfeifen.
Wer hatte die Idee?
Der Ernährungswissenschaftler „Detlev Dee! Sost“
Hat es funktioniert?
Man erreichte mit den „No Angels“ kommerziell das, was man wollte, ob auch Nadja Benaissa, Lucy Diakoska, Sandy Mölling, Vanessa Petruo und Jessica Wahls das wollten, steht auf einem anderen Papier.
Und was ist draus geworden?
Detlev Dee Soost hat seine Coach-Tätigkeit von der Demütigung popstar-williger Teenies auf die Demütigung von Dicken verlagert. Die fünf Nicht-Engel haben sich alle mehr oder minder aus dem öffentlichen Leben zurück gezogen - Sandy Mölling arbeitet teils als Musical-Darstellerin, Vanessa Petruo studiert, Lucy Diakoska betreibt in Bulgarien ein Café. Das ist natürlich verständlich aber auch ein wenig schade. Alle fünf waren bessere Sängerinnen, als es in dem starren „no angels“-Konzept zur Geltung kam. Man wird das Gefühl nicht los, dass die Musikindustrie ein wenig Raubbau an den Talenten der Fünf betrieben hat.
Matt Bianco
Was war wann die Idee?
In den 80ern wollte man eine Art Jazz-Pop lancieren, den es so auch noch gar nicht gab. Matt Bianco waren durchaus eine Band, aber aus den verschiedensten Umbesetzungen kann man schon heraus lesen, dass der Popentwurf der Band als Konzept mehr Gewicht hatte als die jeweils aktuelle Band-Besetzung.
Wer steckte dahinter?
Im Kern Sänger Mark Reilly, Keyboarder Danny White und Bassist Kito Poncioni - die zunächst als Sängerin neben Reilly engagierte Basia Trzetrzelewska (wie immer man dies aussprechen mag) verliess die Band bereits vor Release des ersten Albums 1984 (kehrte 20 Jahre später dann aber noch mal für eine Tournee zurück).
Wie hörte sich das an?
Jazz-Pop mit Latin-Prisen, New-Wave mit Jazz-Anleihen, Easy-Listening mit Pop-Gewürzen, - und es hört sich bis heute so an, Mark Reilly, der Sänger tritt noch immer unter dem Namen Matt Bianco auf (und hat dafür auch adäquate MusikerInnen).
Wie sah das aus?
In den 80ern sah das ziemlich nach den 80ern aus, heute sieht das so aus, wie man damals wahrscheinlich auch schon aussehen wollte: Bar-Jazz in Anzügen.
Wer hatte die Idee?
Mark Reilly - er hält wie gesagt bis heute an seiner Idee fest.
Hat es funktioniert?
Künstlerisch ist die Rechnung voll aufgegangen, in den 80ern waren „Matt Bianco“ Vorreiter eines Pop-Entwurfs, der in dieser und anderen Dekaden von vielen anderen Bands aufgegriffen, kopiert und verfeinert wurde - man denke nur an Sade oder Curiosity Killed The Cat. Kommerziell war der Band nie ganz der absolute Durchbruch vergönnt. Aber es hat gereicht, um bis heute zu existieren.
Und was ist draus geworden?
Wie gesagt: Mark Reilly nennt sich immer noch Matt Bianco
Lordi
Was war wann die Idee?
Die Band wurde Anfang der 90er gegründet. Die Idee war die einer Hard-Rock-Band bestehend aus Monstern und Zombies.
Wer steckt dahinter?
Finnische Hard-Rock-Musiker.
Wie hört sich das an?
Wie finnische Hard-Rock-Musik mit englischen Texten.
Wie sieht das aus?
Wie Monster und Zombies in einem B-Horror-Streifen.
Wer hatte die Idee?
Der Sänger Tomi „Mr. Lordi“ Putaansuu. Der junge Mann ist Musiker, Make-Up-Artist und ausgebildeter Special-Effect-Künstler. Die Band „Lordi“ war zunächst ein Solo-Projekt, seit 1996 ist es eine Band.
Hat es funktioniert?
Bei Hard-Rock von Monstern ist das Wort Funktionieren vielleicht etwas fehl am Platz. Da Lordi aber 2006 den Eurovision-Songcontest gewannen, kann man schon sagen, dass das Konzept sogar Mainstream-Potential hat.
Und was ist draus geworden?
Die Band ist in der Hard-Rock-Szene nach wie vor sehr erfolgreich.
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