Die Klingeltonmarkt ist tot - hat aber seine Spuren hinterlassen
Hypes und Trends sind vermutlich die wichtigsten Marktmechanismen der Popkultur. Sie sind es freilich nicht zuletzt aufgrund ihrer oft nicht im Fokus stehenden Endlichkeit: Neue Trends kann es nur geben, wenn es ältere irgendwann nicht mehr gibt - der Hype ist eine Wellenbewegung, und es gibt merkwürdige Moden, bei denen man im Rückblick das Gefühl nicht los wird, dass diese nur aufgrund der intuitiv erahnten Kurzlebigkeit entstehen konnten; Phänomene, die unversehens hochkochen und dann ebenso schnell wieder verschwinden - zum Beispiel die Klingelton-Industrie: Vor 25 Jahren hätte vermutlich niemand sich auch nur vorstellen können, dass man im Jahre 2002 Geld für den Klingelton eines mobilen Telefons würde ausgeben können, und als dem vor 16 Jahren dann so war, war nicht zu erwarten, daß dieser gigantische Markt so schnell wieder einbrechen, ja verschwinden würde.
Klingeltöne als Produkt entstanden natürlich zunächst in einer Zeit, als noch keine Musik auf die Handys passte, und also der den Anruf signalisierende Ton einen eigenen technischen Standard hatte - das waren, kurz gesagt, noch keine MP3s. Zudem kam der Hype in einer Phase auf, in der man das Gefühl hatte, die Zukunft steht vor der Tür, und wer nicht mir der Zeit geht, der kann auch gleich zuhause bleiben. So dienten die Klingeltöne eben auch als Signal an die Aussenwelt: Freunde der Nach, ich habe ein Handy (heute gilt ja eher als Depp, wer sein Handy mehr als vibrieren lässt).
Als in den Jahren 2001 bis 2006 der Hype am Grössten war, hatte der Klingelton-Wahnsinn virtuelle Popstars, eigene Charts, Firmen, Labels und Subtrends hervor gebracht. Im Jahre 2005 wurden in Deutschland um die 14 Millionen Klingeltöne verkauft bei einem durchschnittlichen Preis von 1,99 €. Schätzungen zu Folge machte alleine der verrückte Frosch mit seinen Ringtones, Bildern und mobilen Kurzvideos einen Umsatz von 15 Millionen Euro. Der TV-Werbe-Etat des ehemals größten Klingelton-Anbieters „Jamba“ betrug im Jahre 2004 sage und schreibe 90 Millionen Euro. In den ersten Jahren des Hypes bis 2003 waren die meisten verkauften Töne kurze Melodie-Linien aus den Refrains von zu diesem Zeitpunkt populären Liedern, und die KonsumentInnen gaben in diesen Jahren mehr Geld für diese klanglich minderwertigen Surrogate aus als für die Lieblingslieder selber.
Da überrascht es wenig, dass man im Hause Jamba damals auf die Idee kam, die Klingeltöne nicht mehr nur Songs zusammen fassen zu lassen (und somit Geld an die Urheber dieser Lieder abzutreten), sondern originäre Tonfolgen für Handys zu kreieren. Im nächsten Schritt aber blies man die meisten dieser Kurz-Melodien auf Song-Länge auf und verkaufte sie als Pop-Singles. Es dauerte nicht lange, da eroberten so die Klingeltöne auch die Popcharts. Sinnbildlich für die Krise der Pop-Musik im Würgegriff der Klingelton-Industrie wurden die britischen Singlecharts von 29. Mai 2005 interpretiert: Der „Crazy Frog“ landete mit seiner Ringtone-Single „Axel F“ auf Platz 1 landete und zwar vor den handwerklich emotionalen Poprockern Coldplay und ihrer damaligen Single „Speed Of Sound“ - die Musik, so der damalige Tenor, hatte seine Seele an den Teufel des Hypes verkauft.
Da dauerte es nicht lange, und den den Klingeltönen schlug blanker Hass entgegen. Nicht nur weil sie Bands wie Coldplay von der Chart-Spitze vertrieben, sondern auch weil Jamba das Musikfernsehen - MTV und Viva - regelrecht totkaufte: Stundenlang bekam man nur noch hysterische Jamba-Spots um die Ohren, stundenlang riefen euphorisierte Stimmen „Sende Frosch5 an die 333“ oder boten „EIN FURZ ALS KLINGELTON?????“ feil. Hinzu kam, dass sich hinter diesen Bestellungen oft Flatrate-Modelle versteckten - wer also tatsächlich „Frosch5“ an die 333 sendete, der hatte in Wirklichkeit ein Klingelton-Abo abgeschlossen und das oft genug ohne es zu wissen oder zu merken, denn was man da tatsächlich bestellte, hätte man im nur einige Sekunde eingeblendeten Kleingedrucktem lesen müssen. Die Folge waren etliche Teenager deren Prepaid-Karten meist schon beim Aufladen wieder leer waren, weil sie Schulden bei Jamba hatten. Nicht selten hatten Handy-NutzerInnen gar mehr als eines dieser Halsabschneider-Abonnements über dasselbe Handy laufen. Jamba wurde öfter verachtet und verklagt als heute Monsanto. Der Backclash-Hass aber wurde von Ring-Ring-Firmen sogleich auch wieder kapitalisiert: Video-Klingeltöne, in denen zum Beispiel Tweety ermordet oder der crazy frog gefoltert wurde, verkauften sich wie geschnitten Brot.
Die aus heutiger Sicht und auch Sicht der 90er vollkommen absurd erscheinende Bereitschaft, für eine 15-sekündige, klanglich billige Tonfolge 2 Euro auszugeben, kam aber eben auch in einer Zeit auf, in der im Pre-Napster-Musik-Markt deutlich weniger Menschen Geld für Lieder und Popmusik als solche auszugeben bereit waren, und das legt die Vermutung nahe, dass der Klingelton-Hype weniger mit dem Kaufverhalten bei Popmusik zu tun hatte; vielmehr waren Klingeltöne Distinktionsmerkmal und Norm-Korridor im kapitalisierten Individualisierungs-Druck und in diesem Sinne eigentlich Vorläufer der Smartphone-APPS: Mit ihnen liess sich die erste Massen-Generation der Mobiltelefone individuell ausgestalten, die Klingeltöne waren Handyschmuck.
Das Marktmodell, das die Klingelton-Anbieter so für ihre Zwecke geformt haben, hat Schule gemacht. Es besteht darin, einen an sich genormten Gegenstand durch Zusätze, Applikationen und Ergänzungen so zu gestalten, dass er nicht mehr genormt erscheint. So ist der Markt für Klingeltöne heute zwar nicht mehr vorhanden, aber es gibt es ähnlich absurde Segmente, bei denen das Kaschieren von Normen in genormten Bahnen ähnlich absurd zu Geld gemacht wird - Waffen und Ausrüstung für das Spiel „World Of Warcraft“ kosten in spezifischen Online-Plattformen drei bis vierstellige Dollar-Summen. Handy-Hüllen oder die seit Neustem populären Popsockets (ausfaltbare Telefon-Halterungen) geben dem Handy auch einen scheinbar individuellen Look. Neuester Hype im Geschäftsmodell der Normkorridore ist die Smartphone-App „musically“, bei der die grösstenteils weiblichen Nutzerinnen im Alter von 9 bis 13 Kurz-Musikvideos zu aktuellen Hits drehen - innerhalb weniger Monate hat sich hier ein Alphabet von Gesten, Tänzen und Video-Effekten ausgebildet, deren geschickte Kombination zwar durchaus Kreativität fordert, deren Grund-Ästhetik aber letztlich seltsam unvariabel erscheint. (Die App wurde kürzlich umbenannt und heisst nun „tiktok“, warum auch immer).
Im Kapitalisierungsmodell dieser Normkorridore wird der Konsument zum Franchise-Nehmer des Anbieters - er übersieht seine Ausgaben, da diese virtuell erfolgen, vor allem aber weil das Gefühl, etwas auszuformen, überwiegt. In diesem Sinne waren Klingeltöne stilprägend für den inzwischen herauf beschworenen Begriff des Kunden als Prosumer. Der Markt für Klingeltöne ist eingebrochen - er hat aber seine Spuren in der Populärkultur hinterlassen.
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