Lenas fast-Konzept-Album „Only Love, L“
Es gehört zu den Mythen der Popkultur, dass, wer durch die Zeit reist, sich aus der Geschichte heraus halten sollte, da sonst, wenn die Vergangenheit zur vorläufigen Zukunft des Zeitreisenden wird, die Vergangenheit dahin gehend verändert wird, dass die entsprechende Einmischung aufgrund dieser Einmischung gar nicht erfolgt wäre, wodurch man natürlich in einer Art Nichtzeitschleífe gerät. Nun hat Lena Meyer-Landrut natürlich keine Zeitreise gemacht, aber sie hat an sich selber in der Vergangenheit einen Brief in Form eines Songs geschrieben, und wenn dieser Brief bei ihrem früheren Ich angekommen wäre, hätte sie dieses Lied vielleicht gar nicht geschrieben.
Das wäre sehr schade, denn „Dear L“ ist ein grandioser Popsong, der zwischen bestürzend klarem Selbstbezug und fluffiger Pop-Leichtigkeit einen Mittelweg findet, von dem man vorher nicht geahnt hätte, dass es ihn gibt: Auf dem Riff einer leicht verzerrten E-Gitarre warnt sich Lena selber vor Rückschlägen, rät auf die Mutter und die eigene Intuition zu hören und überführt die fluffige Soulpopnummer in einen regelrechten Blues - schöner hätte ein neues Lena-Album kaum beginnen können. In Kombination mit dem dann folgenden „Thank You“, eine Anklagegesang gegen Hatespeech, Mobbing und Shitstorms im Internet, ist der Weg für ein durchweg fantastisches Pop-Album geebnet.
Verblüffend an der Souveränität, mit der hier in 13 Songs irgendwie jeder mitgenommen wird, der einen Bezug zu Lena hat, ist vor allem, dass sie an genau diesen Marktanforderungen des Popbetriebes gescheitert war, und die Arbeit an dem Album mit dem Arbeitstitel „Gemini“ einstellte. In dem sehr schönen Podcast der Reihe „Und was machst Du so?“ (auf Bento, Link < HIER >) schildert Lena Meyer-Landrut den Moment, an dem sie den Glauben an diese Platte verloren hatte - während einer Autofahrt: „Warum mache ich dieses Album? Ich hab’ gar keinen Grund, ich mach das nächste Album, um das nächste Album zu machen - das fühlt sich so kacke an.“ „Only Love“ nimmt die jungen Menschen mit, für die Lena auch eine Influencerin ist, ESC-Exegeten finden sich hier wieder, sie denkt an ihre LGBT-Fans, und auch die Indiepophörer jenseits der 40 (so wie ich) finden hier Songs, die sie prima finden. Das Album spaziert immer oben erwähnten Mittelweg zwischen banaler Oberfläche und überraschender Tiefe entlang, es nimmt und zitiert sich aus vielen Richtungen aktueller Popmusik ein paar Zutaten zusammen, wirkt aber nie kopistischj, abgeschmackt oder kalkuliert. Dass diese Musik generationsübergreifenden Zusammenhalt generiert, kann man allein daran ablesen, dass sie auch allen meinen drei Kindern und meiner Frau gefällt - das ist sonst noch niemandem geglückt. Ach doch: Billie Eilish.
Meine persönlichen Lieblingssongs sind der erwähnte Brief „Dear L“, das herrlich schwülstige und gleichzeitig leicht ironische „private thoughts“ sowie das trappig-hüpfende „sex in the morning“ - alles drei auch Lieder mit schönen Themen. Eine wunderbare Platte, ohne jeden Zweifel Lenas bislang Beste.
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