Schafft Transparenz! Pop-Charts haben mal Spass gemacht
Wenn man die aktuellen iTunes-Charts (Mittwoch den 17. März habe ich diesen Text angefangen) mit den offiziellen deutschen Albumcharts vergleicht, stellt man fest, dass sie zur Gänze unterschiedlich sind. Nehmen wir nur mal die Top 3: Auf iTunes finden sich die Drei Fragezeichen, Puccini mit Boccellli und ein völlig unbekannter Country-Star, in den „offiziellen Albumcharts“, was immer hieran offiziell ist, finden wir zweimal deutschen Rap sowie einmal Meta-Seemannsmusik. (Alle drei Charts-Neueinsteiger übrigens, die mit sieben Alben ohnehin die Top-Ten dominieren). Diese extremen Unterschiede sind derzeit ständig zu beobachten, und sie bilden einen Musikmarkt ab, in dem Menschen, die Musik runterladen, zur Gänze andere Musik hören, als solche die streamen, Vinyl kaufen oder noch andere Kauf-Vorlieben haben. Der Versuch in einem übergreifendem Marktsinn abzubilden, was in der Popmusik derzeit angesagt ist, ist zum Scheitern verurteilt und eine überkommenes Ritual aus alten Popzeiten. Der Markt ist so ausindividualisiert, dass ein Vergleich durch Listen gar keinen Sinn mehr macht.
Konsequenter Weise rücken bei Streaming-Diensten andere Prinzipien in den Vordergrund. Die dortigen Listungen bilden das eigene, individuelle Hörverhalten ab - Selbst-Charts sozusagen. Diese Selbst-Charts vergleichen nicht mehr das Hörverhalten vieler sondern beschreiben das des Einzelnen für ihn. Natürlich kann man sich auch auf Spotify Charts anschauen, aber diese kann man mit Schiebereglern näher zu sich führen, indem man Hört-Ort, Zeitraum, Genres, Stimmungen und so weiter anhand seinen Interessen anpasst. So verkleinert sich mit Pop-Up-Menüs die Hörer:innen-Bubble bis hin zu erwähnten Selbst-Charts also, welche nur noch mein eigenes Hörverhalten kartografieren.
Natürlich aber analysiert Spotify das Hörverhalten seiner Nutzer:innen dennoch übergreifend und sicherlich auch mit dem ein oder anderen Tool, das der Idee von Charts ähnelt. Vor allem aber sucht man hier nach Parallelen: Nutzer, die dies und das gehört haben, haben auch dies und jenes gehört. Im gewissen Sinne sind das die eigentlichen Streaming-Charts, die Charts 2.0, denn diese Parallelen bilden das Herzstück des Online-Marketings, und beim Streaming inzwischen auch das der erwähnten Selbst-Charts. Um die Sache persönlicher zu gestalten, ernennt man diese Parallelen einfach zu Subsubgenres und gibt ihnen einen Namen - zum Beispiel „Escape-Room“, „K-Witch-House“ oder „Signum-Echo“. Diese Genres sind im musikalischen wie popkulturellen Sinne teils völlig absurd - unter ihnen können sich Metal wie Techno oder der neueste Schrei „Hyper-Pop“ subsumieren. Würde Amazon dieselbe Idee realisieren, würde, weil mehrere Menschen Einlegesohlen, Erotik-Krimis und Fimo-Knete gekauft haben, daraus eine Produkt-Kategorie kreiert werden, und man würde sie zum Beispiel „Chip-Crow-Objects“ nennen. Zu Ende des Jahres würde jeder Amazon-Kunde seine Selbst-Charts erhalten, laut derer er in den vergangenen 12 Monaten am meisten „Chip-Crow-Objects“ und „Sarry-Dots“ gekauft habe.
Anders als bei dieser absichtlich abwegigen Idee, verfolgt Spotify mit seinen individuellen Jahres-Resümees („Du hast in diesem Jahr 17 neue Genres entdeckt - weiter so“) eine Strategie: Die Hörerinnen werden gelobt und bekommen daher das Gefühl, aktiv ihren Musikgeschmack zu erweitern. Sicherlich stimmt das auch, aber sich dabei auf extra erfundene Subsubgenres zu berufen, die de facto keinen Sinn machen, ist doch schon recht abenteuerlich. Hier offenbart sich, dass es Spotify nicht um Musik geht, man muss sich wohl im Gegenteil davon verabschieden, dass der Streaming-Dienst ein Musik-Anbieter ist: So sehr auch Playlisten kuratiert, Hörverhalten kartografiert und Genres benannt werden, so sehr ist Spotify vor allem daran interessiert, dass man möglichst viel Zeit in ihren Datenströmen verbringt. Spotify verführt wie Facebook oder Instagram zu endlosem Scrollen.
Doch zurück zu den Charts: Wie könnten Listen darüber, was gerade am meisten angesagt ist, heute aussehen? Zu allererst müssten sie transparent werden, um sie wieder in Beziehung setzen zu können. Wer weiß zum Beispiel gerade, wie die aktuellen „offiziellen Single- und Albumcharts“ entstehen? Wikipedia sagt dazu Folgendes: „Zurzeit umfasst das Portfolio rund 2.500 Anbieter, die eine für die Chartermittlung hinreichende Meldung abgeben können. Neben dem Einzelhandel oder Onlineanbietern, können auch spezielle Vertriebsformen (Download, Großhandel, Streaming oder Teleshopping) ihre Berücksichtigung finden, wenn sie den Direktverkauf am Endkunden statistisch erfassen und melden können. Über die Teilnahme am Panel entscheiden Prüfungsbeauftragte.“ - tja, was heißt das nun? Was machen diese Charts für einen Sinne, die keine Sau begreift? Oder: Was bilden die wichtigsten Downloads-Charts auf iTunes ab? Welchen Zeitraum? Warum ist ein Lied dort auf Platz eins? Weil es in der letzten Stunde oft gekauft wurde? Innerhalb der letzten 24 Stunden? Keiner weiß es, und wenn die Charts abbilden sollen, was angesagt ist, man aber gar nicht weiß, wodurch die Behauptung entsteht, es sein angesagt, was macht das dann noch für einen Sinn.
Die einzigen Charts, von denen ich weißt, wie sie entstehen, sind die Album-Charts des auf Vinyl spezialisierten Versandhändlers JPC - sie werden täglich gegen 10 Uhr aktualisiert, hat man mir auf Anfrage mitgeteilt. Derzeit auf Platz 1: „Pink Floyd live in Knebworth 1990“.
Hinweis: die Abbildungen sind Screenshots der "offiziellen Albumcharts", der "iTunes-Charts Albums" und den "JPC-Viny-Charts von 19. März 2021 um 10 Uhr
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