Der Schlager macht Popstars zunehmend Identitätsangebote
Vielleicht ist es eine Momentaufnahme und noch kein Trend, aber derzeit scheint das, was man im Allgemeinen Deutschpop nennt, zurück gedrängt: Waren noch vor gut ein, zwei Jahren die Charts von deutsch-sprachigem Pop durchdrungen, herrscht heute in diesem Genre-Segment ziemliche Leere. Fast könnte man eine Parallele zur Neuen Deutschen Welle, zur NDW in den
80er ziehen: Die Aufbruchsstimmung verkam zum ideenfreien Franchise, und die Folge war eine Inflation, bis der Markt schließlich kollabierte. Inzwischen haben wir auch eine Szene mit etlichen Menschen, die unter ihrem Vornamen mit Ouh-Oh-Chorischen Flächenpop den Markt überschwemmen, und schon jetzt muss man befürchten, dass von diesem Heer an Musiker:innen nur die Erfolgreichsten bleiben werden - Mark Forster würde dann, was Nena zur NDW war, während einer so großartigen Songschreiberin wie Antje Schomaker das Schicksal von Ina Deter droht?
So weit ist es sicher noch nicht, und die Situationen sind auch nur zum Teil vergleichbar. Das, was wir heute NDW nennen jedenfalls, war im gewissen Sinne auch der Postpunk der BRD, eine Subversion, welche die Popkultur und den Schlager mit Unsinn und Widerstands-Geist unterwanderte. Daraus entstanden so groteske Situationen wie die, als Dieter-Thomas Heck sich weigerte, eine harmlose Band wie „Geier Sturzflug“ und ihre zweite Single „Besuchen Sie Europa, so lange es noch steht“ anzusagen, weil ihm das zu frech war. (Wirklich politische Bands oder gar Punks wie Fehlfarben, Hansa-A-Plast oder Extrabreit schafften es freilich gar nicht erst in die ZDF-Hitparade.) Dementsprechend aufrührerisch und aus heutiger Sicht historisch wirkte es dann, wenn Trio ihren Dada-Punk-Pop in eben dieser Sendung aufführten. Während also vor 40 Jahren Pop im Geiste des Punk Schlager enterte, fehlt dem Deutschpop dieses beginnenden Jahrzehnts jeglicher aggressive Gestus, um sich der umgekehrten Unterwanderung des Schlagers zu erwehren. Der Schlager hat sich geöffnet, und Pop war darauf nicht vorbereitet.
Dass der deutschen Popmusik der Schlager auf die Pelle gerückt ist, daran ist diese Popmusik letztlich selber schuld. Sie hat, wie Jan Böhmermann in seinem bis heute relevanten Rant und dem damit verbundenen Song „Menschen Leben Tanzen Welt“ gezeigt hat, einen Setzkasten an musikalischen und lyrischen Stilmitteln heraus gebildet, der der Gleichförmigkeit des immanenten Konservatismus im Schlager in nichts mehr nach steht. (Was wiederum doch auch wieder eine Parallele zur NDW sein mag, die erodiert ist, nachdem ihr ursprüngliches Kapital, die Phantasie, zur Regelsammlung verkam.) Die Nähe zwischen zwei Genres, deren Trennschärfe eigentlich der Pop kultivieren sollte, gibt dem Schlager wiederum die Möglichkeit, nicht ausreichend erfolgreichen Interpret:innen der Popmusik Identitätsangebote mit seinem Spielregeln zu machen.
Und es gibt diese Angebote, und zwar sowohl an Sänger:innen, die neu sind und noch keinen Popentwurf heraus gebildet haben, ebenso an Intererpret:innen, die im Pop schon mal erfolgreich waren oder sogar noch sind. Für die erste Kategorie gibt es das Beispiel Ben Zucker, dessen neues Album „jetzt erst recht“ gerade recht erfolgreich ist - Zucker ist in seiner Rockattitüde eigentlich prädestiniert dafür, Deutschpop im besten Sinne zu singen, aber irgendwie reicht es dafür nicht, und so biegt er seinen Popentwurf in Richtung Schlager, welcher ihm aufgrund dieses Zugeständnis eben einen Platz in seinem Kreis anbietet: Seien Sie doch bitte, Herr Zucker, ein wenig wie Hans-Hartz, aber nehmen Sie auch Gitarren rein, denn die weißen Tauben sind noch lange nicht müde. Zucker singt also mit schlagerschem Emotions-Tremolo und Whisky in der Stimme eine Art rück-authentifizierten Schlagerpoprock, und als hätte Böhmermann nie statistisch die Häufigkeit der Begriffe Menschen, Leben, Tanzen und Welt in der Deutschpoplyrik konstatiert, so heißen denn die ersten drei Lieder auf erwähnten Zucker-Album: „Guten Morgen Welt“, „Bist Du der Mensch“ und „Das ist nicht das Ende der Welt“.
Ähnliche Identitäts-Angebote für Interpretinnen macht der Schlager in Falle von zwei Comeback-Versuchen ehemaliger Popstars: Da sind zum Einem die No Angels, welche die Neuauflage ihres ersten Hits „Daylight in your eyes“ kürzlich in der TV-Show
„Schlagerchampions - Das große Fest der Besten“ zum Besten gaben. (Am Bühnenrand tanzte Ross Anthony, der wie die No Angels einst als Popstar durch die Sendung „Popstars“ Erfolg hatte, und und sich heute als Schlagersänger verdingt. Ebenso wie Giovanni Zarrella, sein ehemaliger Bandkollege bei „Bro’sis“, der derzeit in den Charts mit einer bi-lingualen
Songsammlung instant-italienisches Lebensgefühl in Musikform verkauft.) Da ist zum Anderen Jasmin Wagner, die einst in den 90ern als Blümchen bekannt war. Nach ihrem ersten Comeback-Versuch 2006, mit an sich ganz charmanten deutschsprachigen Chansons, die sie mit Bernd Begemann schrieb, erscheint nun in Kürze ein Schlager-Album, dessen Titelsong „Gold“ bereits die Richtung vorgibt: Eurodance mit viel goldener Haut und einem, mit Verlaub, selten dämlichen Text: „Gold! Ein Herz aus Gold / hab’ ich immer schon gewollt.“ - nun ja.
Man könnte also sagen, dass der Schlager denjenigen, die aufgrund der Deutschpop-Inflation hinten runter zu fallen drohen, Ablösesummen bietet und mit Handgeldern wedelt. Vom Gestus her ist das sektengleich: Du kannst jederzeit zu uns kommen. Bei manchen schlagen diese Angebote dann voll durch, siehe die bisher genannten Interpret:innen, wieder bei Anderen bleiben Hintertüren im Popentwurf - man höre sich einmal das aktuelle Album von Sarah Lombardi an. Es heißt „im Augenblick“ und hat somit schon einen klassischen Topos des Schlagers UND des Deutschpops im Titel (Kairos und Ewigkeit), und es klingt in seiner synthetischen Beiläufigkeit anschlussfähig an beide Genres, mit denen wir uns heute beschäftigen. Man höre dazu dann einmal im Vergleich
die aktuelle Single von Mark Forster und Lea, den Song „Drei Uhr Nachts“, in dem die titelgebende, nächtliche Uhrzeit symbolisch für die Einsamkeit der oder des Singenden steht. Bösartig gesagt ist dieser Song ein Paraphrase auf den Signature-Hit von Helene Fischer. Zumindest ist der Topos Nacht ähnlich eindimensional verwendet wie im Schlager. Die Charakteristika, mit denen sich Lombardi, Forster und Lea noch vom Schlager abheben, sind Nuancen. Wer sich einmal durch den Sampler „Ich find Schlager toll 2021“ klickt, der merkt wie entgrenzt sich dieses traditionell eigentlich verharrend und bewahrende Genre geriert: Rockgitarren, pseudonordische Mystik, queere Thematiken, Mittelalter, Klimaschutz und Techno - eine bunte Wiese der Möglichkeiten, und doch klingt alles recht einheitlich.
Wer Pop auf Deutsch singt, der muss sich also was einfallen lassen, um die verlockenden Angebote aus dem Nachbar-Genre auszuschlagen. Geschieht dies zu wenig, droht dem Deutschpop der Kollaps wie einst der NDW.
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