Breitwandpop und Kleinkunstrap
/// Songs zum Sonntag /// 060222 ///

Kräuter der Provence

Sound und Parolen sind heute narrativer: Die neue Platte von Tocotronic

Drei Menschen wünschen sich „nie wieder Krieg“ in dem Lied „nie wieder Krieg“ von Tocotronic: Ein Mann auf einer Raststätte, eine Frau auf einem Balkon und ein vom Mond und von Dir beobachtetes Kind. Wie diese spezifischen Skizzen von Situationen, in denen die geschrieene, auf behauchtes Fenster und an eine Wand geschriebene, jeweils sehr subjektive Sehnsucht, es möge nie wieder Krieg geben, eine klassische Tocotronic-Parole in eine Geschichte dreht, steht ein wenig für die Dramaturgie der Band Tocotronic im Allgemeinen: Ihre Anti-Floskeln sind heute Narrative.

Bildschirmfoto 2022-02-03 um 09.15.09Daran kann man wiederum auch, noch allgemeiner dann eigentlich, ablesen, wie schwer es ist, den Kern von so etwas wie einer Band, immer wieder funkeln zu lassen: Popmusik ist so sehr in der Zeit verwurzelt und somit auch in der Alters-DNA der Mitglieder einer Band eingeschrieben, dass der Weg dahin, so zu klingen, wie man eben klingt, immer völlig anders sein kann, auch wenn man dann im Ergebnis hört: Ah, klassisches Tocotronic-Album. Bei „nie wieder Krieg“ wird dennoch deutlich, dass sich nicht nur die Floskeln zu Narrativen gemausert haben, auch der Klang der Band ist sozusagen in den Lücken fülliger geworden, der Sound ist auch narrativer, wenn man so will: Streicher, Gitarren-Arpeggi oder die Sängerin Soap & Sink ziehen die klassischen Toco-Riffs in die Breite, in dem sie sich in die Lücken setzen. Einmal singt Dirk, der noch immer nicht in Seattle ist, fas t schon über diese Vorgehensweise, wenn er eine Pizza aufpeppen will: „Mit Kräutern der Provence / hab’ ich keine Chance“.

Gleichzeitig wird auch die alte Technik, mit einer Zeile der Lyrics die vorangehende in einen anderen Bedeutungszusammenhang zu drehen, perfektioniert: „Ich geh unter / ferner liefen / in die Geschichte ein /das muss dir klar sein / wenn du dich mit mir triffst / die Welt verändert sich / ohne mich“, singt Dirk von Lowtzow in dem Lied „Ich geh unter“, und damit nicht genug, treiben Tocotronic die Sinndrehung über das Zeilenende hinaus auch über Liedergrenzen hinweg, wenn auf der Platte diesem Song „Ich geh unter“ das Stück „Ich tauche auf“ folgt, obgleich, wie wir eben gehört haben, das Untertauchen gar nicht vom Wasser handelt. Und auch der schon erwähnte Titelsong „nie wieder Krieg“ dreht die Parole auf der Rückseite seines Narrativs wieder in die Parole, indem Song und Album mit dem Refrain beginnen.

Vielleicht ist diese Sprachkunst auch überwundener Naivitätsverlust von von Lowtzow, der früher Zeilen schrieb, die partout in kein Lied passten und gerade dadurch ihre Reize entfalteten. Will sagen: Die Nerdigkeit und Weigerung ist dem Formwillen gewichen, und dies stellt sich als sehr würdevolle Art der Alterung einer Band heraus. Ich habe allerdings nie viel Tocotronic gehört, aber dieses Album ist wirklich großartig.

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