Camilla Cabellos neues Album ist herrlicher Referenz-Eskapismus
Die Musik von Camilla Cabello ist eine Salsa-Essenz im Fahrwasser von Bubblegumpop. Der Signature-Song dieses Entwurfs ist natürlich ihr erschreckend eklektischer Über-Hit „Havana“, der vier Minuten auf dem Ur-Pop-Riff E-moll, C-Dur, B-Dur7 beruht, und mit dessen Video Cabello auch die Signature-Visualisierung ihrer Musik gezeigt hat: < In dem Clip > ist sie sowohl Zuschauerin als auch Schauspielerin einer Soap und deren Spin-Off im Kino, und diese Soap ist in einer Community angesiedelt, die ohne finanzielle oder sonstige Probleme einem Hedonismus nachhängt, in dem Erotik, Leidenschaft, Tanz und Musik die wesentlichen Tugenden sind. Von Cabello gespielte Kunstfiguren träumen sich einerseits in diese Welt hinein und sind anderseits deren wichtigste Repräsentantinnen. Der Eskapismus, der in diesem Konzept steckt, ist also mithin vielschichtig: Die gezeigte Community scheint ihren eigenen Soundtrack einerseits hervor zu bringen, andererseits richtet sich die Musik wiederum an seine fiktiven Urheberinnen. Als würde eine Telenovela sich auch an die Charaktere ihrer eigenen Handlung wenden, und die Charaktere dieser Handlung bringen diese auch hervor, weil sie sie als Zuschauer:innen verfolgen und deuten.
Welch wundervolle Rückkopplungen! Die Musik von Camilla Cabello ist die Referenz an einen Latino-Pop, den es in seinem Aggregat eines fiktiven Soundtracks in Wahrheit eigentlich nicht gibt, der von Cabello nur dadurch, dass sie sich auf ihn bezieht, herauf beschworen wird - ein Popentwurf im Geiste des Perpetuum mobile. Das heißt im Übrigen nichts Anderes, als dass diese Musik brillant ist: Auf ihrer neuen Langspielplatte „Familia“ zelebriert Camilla Cabello diesen, ihren Minimal-Latinpop in bescheidener Virtuosität. Mit wenig Pinselstrichen werden da Beat-Betten aus Reaggeton und Samba mit klassischen Latin-Harmonien besprenkelt („Celia“), synthetische Streicher als Salsa-Bläsersätze arrangiert („la buena vida“) oder fluffiger Synthiepop in psychodelische Hallräume überführt („Psychofreak“ feat. WILLOW) - und von dem Song, den Cabello gemeinsam mit Ed Sheeran gemacht hat, war < hier > schon die Rede.
Cabellos bunt gesprenkelte Zucker-Welt mit antiseptischem Rum und sanfter Tanz-Erotik ist somit visuell wie akustisch eine Scheinwelt, mit der nicht gezeigt werden muss, dass vieles in Wirklichkeit doch komplizierter ist. Mit dieser Strategie kreieren sich aus dem Nichts in banalen Popräumen merkwürdige Meta-Ebenen, und was anderes ist denn Pops Hauptanliegen, wenn nicht unter bestürzend banalen Mitteln ungeahnte Tiefen aufscheinen zu lassen: Wer so wundervoll und offensichtlich lügt, kann auf die Wahrheit verzichten.
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