Bess Atwell zoomt mit ihrer Musik aus sich heraus
Zwar könnte, wenn es nach mir ginge, Bess Atwell, auch das Telefonbuch von Brighton singen, und ich würde es mir anhören, weil mir ihre warm-füllende und gleichzeitig zurückhaltende Stimme einfach gefällt, aber die alte Telefonbuch-Metapher würde ja nichts darüber erzählen, was für großartige Songs die britische Folksängerin schreibt. Über das britische Songwriting wird ja oft gesagt, es bestehe in der Kunst, in privaten, subjektiven Beobachtungen, größere, gar gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge mithören zu lassen, ohne diese plump in die Welt zu schreien. Bei Bess Atwell kommt noch eine Prise Poesie dazu, die sie nutzt, um innere Zustände zu beschreiben - „time comes in roses“ heißt zum Beispiel einer der schönsten Songs auf ihrem aktuellen Album „Already, Always“: „But time comes in roses, I really love ya / I’m tired of being like my mother / I get excited, I get depressed / I’m never happy with how I'm dressed“ - und ehe man sich in das singende Ich einhört, hat man das Lied bereits auf sich bezogen.
„Silver Fir“ hat die visuelle Kraft von Filmeinstellungen, als wäre der Song auch ein Drehbuch: „Pink house with the circular / Windows and a silver fir / Peanuts in my sandwiches / On the white bread / In your basement“ - wenig Worte und doch wird viel erzählt, faszinierend. In „How Do You Leave“ fragt sie dann auf einmal, wie man sich trennt - auch dieses Lied scheint nahezu unverschämt privat und gleichzeitig sezierend objektiv.
Für diese großartigen Lieder, und als Bett für ihre Stimme hat Atwell einen Folkentwurf mit Mitteln von Rock-Klängen ersonnen, einen flächigen, geraden Sound mit E-Piano, E-Gitarren und fluffigen Beats, der sanft durch das Ohr trägt. Aber diese Musik ergeht sich nicht in Harmonie, hinter den tragenden Riffs lauern eben Verwerfungen, weil die Themen, über die Atwell singt, keinen Anschluss mit den Mitteln der Harmonie finden. Wer sich je gefragt hat, was britischer Folk eigentlich sein soll, der findet auf diesem Album die Antwort.
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