Das Phänomen Miley Cyrus und ihr aktuelles Album
Eines Tages wird wahrscheinlich irgendeine Stimmtrainer:in oder eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin zu Miley sagen: „So geht es nicht weiter, Frau Cyrus. Wenn sie jeden noch so blubbernden Bubblepop so rau übersingen, werden irgendwann Ihre Stimmbänder abschmieren.“ Wer weiß, ob sie sich das jemals wird sagen können, aber in jedem Fall können wir uns beim aktuellen Miley Cyrus-Album „endless summer vacation“ darüber freuen, dass Miley die Lieder, die sie mit nerdigen Songwritingcampteilnehmer:innen geschrieben und mit top Produzent:innen eingespielt hat, in einer einer Hingabe singt, als wären ihr die Stimmbänder wirklich schnurzpiep. Nach Ausflügen in verschiedenste Sub- und Subsubgenres des Pop und nicht zuletzt anschliessend an verschiedene Rockpopcover im Rahmen ihres vorletzten Albums, haben die Lieder der endlosen Sommerferien in einer Art Contry-Blues-Rock ein Zuhause gefunden, indem die immer auf Anschlag singende Miley Cyrus ein ideales Bett für ihren Popentwurf gefunden hat. Ihre stets doppeldeutigen, nämlich auf sie und oder auf allegorische Schnittpunkte beziehenden Geschichten, Andeutungen und Metaphern ihrer Lyrics tun ihr Übriges, um sich in jedwede Art von Popmusik zu verbreiten. Das hat diese Platte zu dem ersten großen Popkonsens dieses Jahres gemacht - das Album also, auf das sich von Teenager:innen bis hin zu über 60 jährigen Ex-Spex-Leser:innen alle einigen können.
Es gibt einen großartigen Live-Moment von Miley Cyrus, der verdeutlicht, warum sich vermutlich so viele auf sie einigen können, der zeigt, auf was sie sich alles einlässt und wohin sie überall Augen hat. Da kommt sie 2019 in Glastonbury auf die Bühne, sie setzt erst mit der ersten Zeile ihres Gesangs zu spät ein, kürzt ein zwei Silben, kommt auf die Spur, sagt dann noch kurz Mark Ronson an, um im nächsten Moment mitten in der ersten Strophe die „nice titties“ irgendeiner Zuschauerin zu loben - vor einem Publikum von geschätzten 50 000 Menschen: Hier ist ein Vollprofi am Werk, der nach Disney-Star-Dasein und innerer wie äusserer Befreiung durch Skandälchen nun die große Brückenbauerin im amerikanischen Popbusiness geworden ist. Mal ganz abgesehen davon, dass es kaum einen Menschen auf der Welt gibt, dem es in aller Öffentlichkeit gelingt, Brüste zu loben, ohne dass das irgend jemand peinlich finden wird, erntet Miley auf ihrem aktuellen Album flankiert von der Über-Single „Flowers“ nun eben von den Brücken, die sie gebaut und bepflanzt hat. Der Folkpop bis Poprock dieser Platte ist der Soundtrack ihrer Versöhnlichkeit, und seine Urheberin ist die einer der erstaunlichsten Entertainer:innen unserer Zeit.
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