Menschen, Leben, Tanzen, Welt: All das zieht plötzlich nicht mehr - eine Spurensuche
Wir schreiben das Jahr 2017, der Zenith des Deutschpoperfolgs, und beim Echo-Verleih in Berlin singen zur Eröffnung Wincent Weiss, Max Giesinger und Tim Bendzko zusammen < ein Medley aus drei Hits >: „Feuerwerk“, „Wenn sie tanzt“ und „Maschine“. Die Zusammenstellung ist in sich stimmig, denn alle drei Songs haben ähnliche Harmonien und Tempi, und zudem beschreiben sie ähnliche Gefühlslagen: In Max Giesingers Song vergisst eine Frau ihre 50-Stunden-Woche nur dann, „wenn Sie tanzt“. Im Lied von Tim Bendzko beteuert das singende Ich trotz Hamsterrads des Alltags „doch keine Maschine“ zu sein; während Wincent Weiss sich einst schwor, „nie auf morgen zu warten“, sondern zu „leben wie ein Feuerwerk.“ Die drei Lieder beschreiben also die Sehnsüchte von Singenden oder Besungenen nach Ausbrüchen aus standardisierten Zuständen und stehen damit als geballtes Medley an diesem Abend in Berlin pars pro toto für den Deutschpop an sich. Denn dieses Subgenre lebte und lebt nie davon, Sehnsüchte zu wecken oder sie gar in direkter Weise zu evozieren, nein, die Songs dieses Subgenres kreieren im Allgemeinen Narrative, in denen es Menschen gibt, die sehr viel fühlen und sich sehr doll sehnen. Erzählt wird von diesen Menschen dann so, dass wir ihre Gefühle und Affekte auch gerne hätten. Seitens der Hörer:innen kann man also von Sehnsüchten nach Sehnsüchten sprechen, und diese Sehnsüchte zweiter Ordnung werden immer befriedigt, denn wir sind ja keine Maschinen, wenn wir tanzen und leben wie ein Feuerwerk. Fakt jedenfalls ist: 2017 bevölkerten mehr als 20 Deutschpop-Alben die Top 50 Jahrescharts.
Schaut man < hier > in die Liste der erfolgreichsten Alben des vergangenen Jahres, muss man bis Platz 72 herunter scrollen, um auf einen einsamen Johannes Oerding mit seinem „Plan A“ zu stossen - die 2023 erschienenen Platten von Mark Forster, Tim Bendzko, Lea, Adel Tawil oder Madeline Juno haben es nicht einmal in die Top 100 geschafft; auch das Formatradio hat das Abspielen von Deutschpopsongs massiv reduziert - Deutschpop ist 2023 einen leisen Tod gestorben. Woran könnte das liegen? Mir würden drei Erklärungsansätze einfallen.
Erstens: Wenn es stimmt, dass Deutschpop bei den Hörer:innen Sehnsucht nach Sehnsüchten generiert, dann liegt vielleicht in diesem Emotionskonzept zweiter Ordnung ein sich selbst erfüllendes Rezeptions-Paradox. Denn in den Narrativen der deutschen Songs, in denen sich Menschen nach Leben, nach Tanz und Welt sehnen, steckt natürlich auch immer deren Befriedigung - selten scheitern die Protagonisten all der Giesinger-, Bendzko- oder Lea-Songs, sondern sie finden in irgendeiner Form, was sie begehren. Täten sie es nicht, würde niemand auf Dauer wie sie fühlen wollen. Und daher ist die Sehnsucht nach Sehnsucht im gewissen Sinne auch im Moment ihrer Entstehung befriedigt, und diese sich selbst erfüllende Emotionsschleife funktioniert natürlich nicht ewig. (Oder aber ich müsste jedenfalls hin und wieder irgendwelchen tief-depressiven Gothic hören, um mich danach wieder nach den Sehnsüchten der Frau mit der 50-Stundenwoche sehnen zu können - jaja, wenn die tanzt!)
Der zweite Grund für den Niedergang des Deutschpop ist ein ökonomischer: Ein Überangebot hat den Markt zerstört - immer mehr Interpret:innen veröffentlichen immer mehr Musik, und noch immer kommen von den Popunis und den TikTok-Thinktanks junge Popsänger:innen, die ihren Platz in einem Genre suchen, das ökonomisch ausgequetscht ist - hier kann man also durchaus eine Parallele zur NDW ziehen, welche von der Musikindustrie Mitte der 80er totgeritten wurde (nachdem der eigentlich deutsche Postpunk zuvor inhaltlich mürbe ironisiert wurde.) Das Überangebot und die Unfähigkeit des Deutschpop, sich zu verändern, hat den Markt übersättigt.
Ausserdem ist, drittens, die Sehnsucht zweiter Ordnung schon das Erfolgskonzept eines anderen Pop-Subgenres - nämlich des Schlagers; und hier ist aus der sich selbst erfüllenden Emotionsmaschine im Grunde doch das geworden, was Deutschpop nicht erreicht hat: Das Perpetuum Mobile der Sehnsüchte, Gefühle und Affekte. Das liegt zum Einen daran, dass es im Schlager viel mehr als Vereinbarung gilt, dass die auf der Bühne denen im Publikum etwas von Gefühlen vorsingen. Und zum Anderen daran, dass Schlagerstars ihre Musik viel eher an sich binden und somit zu den Protagonisten der Gefühle werden, deren Sehnsüchte sie wecken wollen. Denn Schlagerstars inszenieren sich mit dem Mittel aus der Trickkiste des Rock: Ich bin für Euch durch die Hölle gegangen (oder tue dies noch): Wenn < Michelle > bei ihrem gefühlt vierten Comeback nach Krisen, Scheidungen, und Selbstzweifeln vom Kuss in < Hotel in Saint Germain > singt, glauben wir ihr sowohl den Kuss - als auch die Krisen. Nino De Angelo mag uns nicht sympathisch sein, gelebt hat der Kerl irgendwann, und so ausgedacht die Kunstfigur < Ben Zucker > sein mag: Ihr Protagonist hat auch schon Tiefen durchlebt; machen wir uns nichts vor: Gegenüber den Deutschpopstars erscheint jeder Schlagerstar als Authentizitätsvulkan.
Max Giesinger glauben wir nichts von dem, was andere junge, weisse Männer in Songwritingcamps ihm auf den Leib komponiert haben, und selbst die Ich-Form bei Tim Bendzko reicht nicht aus, um das Gefühl zu vermitteln, er sei tatsächlich Derjenige, der noch die Welt retten müsse, bevor er zu uns käme. Den Sänger:innen der < Menschen-Leben-Tanzen-Welt >-Pop-Ära ist es nicht gelungen, Identitäten und Erscheinungsfiguren hervor zu bringen, welche die ohnehin sehr unscharfen Popentwürfe des Deutschpop an sich binden könnten. Den wirklich unfassbar sympathischen Wincent Weiss zum Beispiel, nimmt man nur als vagen Trabanten um die Musik war, die er eher zu verkörpern vorgibt. Das Verhältnis von Deutschpop-Sänger:innen zu ihrer Musik scheint dem eines Techno-DJs zu seinem zweiten Remix eines bewährten Tracks zu ähneln. Daher hat das Format obgleich über Jahre sehr erfolgreich keine wirklich schillernden Stars hervor gebracht.
Aber vielleicht wird das Ruder ja doch noch rumgerissen, denn ein paar Gegenbeispiele kommen nun doch um die Ecke, einige Popsängerinnen, die Starappeal haben und vor allem aber tolle Musik mitbringen: < Mia Diekow > zum Beispiel hat kürzlich per Crowdfunding ein neues Album finanziert und bereits bewiesen, dass Blues und Folk in deutschen Songs schlummern können. Die sehr junge < Rahel > hat erst wenige Songs veröffentlicht - diese aber lassen aufhorchen. < Antje Schomaker > hat Ende des Jahres mit ihrem Album „Snacks“ bewiesen, dass auch Kraft, Relevanz und Humor im Deutschpop möglich sind - und nächste Woche erscheint mit „Baum! von < Mine > ein mutmassliches Meisterwerk. Vielleicht sind diese Künstlerinnen ja die Rettung für ein siechendes Genre.
Hallo David,
interessante Analyse!
Es gibt aber noch andere, hier nicht genannte deutsche Künstler*Innen.
Ich denke da an Nina Tschuba oder Ayliva oder Bands wie Blumengarten. Vermutlich wurde der typische Deutschpop vom RAP adaptiert.
Auch wenn die Platten der bekannten Deutsch-Popper nicht mehr so erfolgreich sind, zu den Konzerten kommen immer noch genügend Fans und Interessenten.
LG
Kommentiert von: Teufelchen | 30. Januar 24 um 14:35 Uhr