Das Reeperbahnfestival als utopisches Model
Am Samstag ist das Reeperbahnfestival zu Ende gegangen - 45 000 Menschen, 90 Locations, 480 Konzerte in vier Tagen; ich selber habe 14 Konzerte gesehen und liege damit eher im unteren Bereich klassischer 4-Tages-Tickets-Hedonisten: Wenn man insbesondere Freitag und Samstag schon früh in den Tag startet, kann man ohne Weiteres 40 Auftritte besuchen. Okay, das schafft man auch nur, wenn man an einem Ort mit direkt mehreren Bühnen verweilt - wie dem Molotow, das insgesamt vier Locations beherbergt - und wenn man über die Jahre ein Gefühl dafür entwicakelt hat, wo man noch reinkommt, ohne 20 Minuten anzustehen.
Als Mensch, der ohnehin liebt, wenn Menschen Musik lieben - ganz gleich welches Genre - erlebte ich das Reeperbahnfestival in diesem Jahr einmal mehr als ein Ort realer Utopie, in dem Musik und Miteinander zu einer Art Sensibilität führen, die man sonst im Alltag vermisst. In Diskursen, in denen bereits von postwoken Zeiten die Rede ist, mögen die verschiedenen Verhaltenskodexe, für die sich Zuschauer:innen wie Musiker:innen hier verpflichten, die Awarenessteams, an die man sich wenden kann, abgrundtief naiv wirken, aber Tatsache ist, dass ich selten Konzerte erlebe, in denen es derart friedlich, empathisch und rücksichtsvoll zugeht wie während der vier Tage des Festivals.
Als die ukrainische Sängerin und Künstlerin Ganna zum Beispiel an Mikrofon und Loopmaschine ihre filigranen und eher stillen Folk-Jazz-Song schichten möchte, ist für eben dies der DJ draussen vor dem „Mojo-Jazz-Café“ zu laut und dreht seine Anlage dann für 40 Minuten leiser, obgleich ihm auch sehr viele Menschen bei Cocktails zuhören. Als die portugiesische Sängerin Ana Luna Caiano zu später
Stunde ihren ebenfalls sehr stillen Neo-Fado zelebriert, gehen die Leute nur in den Pausen zwischen den Liedern, und ohne, dass diesen Einlass jemand so regelt, kommen auch dann nur neue Zuschauer:innen herein. Das sind nur zwei kleine Beispiele für friedvolles, rücksichtsvolles Verhalten. Wenn eine solche Aufmerksamkeit und Solidarität die Folge sind, dann bin ich gerne woke.
Musikalischer Höhepunkt sind für mich die durch Zufall entdeckten Prismala, die aus Drums, Bass und zwei Telecastern einen Funk-Soul entfachen, der irgendwo zwischen Prince, Keziah Jones und der 80er-Band „The Christians“ einen ungeheuren Live-Sog entfacht. Der flibbernde Elektrodance von Noga Erez aus Tel Aviv brachte - für mich unmittelbar nach den genannten Prismala - die große Freiheit 36 in Ekstase, und mit Zoha De Sagazan habe ich am Freitag Abend nichts weniger als die Zukunft der Popmusik gesehen: Ihr Kraftwerk huldigender Synthie-Chansons zeigt noch einmal, dass große Traditionen die schöne Chance haben tradiert zu werden.
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