Ach Freitag, was heute so erscheint

Songs zum Sonntag /// 040623

Bildschirmfoto 2023-06-04 um 15.42.17/// „Wir wollen alles und ein Happy End.“, singt Anika Auweiler in ihrem neuen Song, der auch so heißt: Wir wollen alles. Das erwünschte Happy End ist ihr programmatischer Ausruf zum Beginn des Pride Month, und mit allem, das sie wollen, meint Auweiler queere Sichtbarkeit im Alltag- und Mediengeschehen. Dazu hat sie sich für das Musikvideo von 16 Vereinen und Netzwerken kurze Clips schicken lassen, die sie zu einem Kurzfilm montiert hat. Cover1Der Song selber ist eine Piano-Uptemponummer bei der der Einsatz von Autotune für mich ein wenig fehlplatziert klingt - es passt einfach nicht recht zum sonst sehr authentischen Gestus des aktivistischen Liedes. /// Auch bei AMAU gibt es Autotune - aber hier scheint häuslicher: Deutsch-Soul mit Funk-Gitarre. Der Song „ich und meine Homies“ klingt, als wäre AMAU eine ein Wiedergänger des leider schon verstorbenen Edo Zanki. Kann man machen - ist aber nicht so sehr meine WIese. /// Auch Gloria Bildschirmfoto 2023-06-04 um 15.35.53Nussbaum nutzt den Stimmefekt Auotune - sie aber  eher für flächig geschichtete Hintergrundchöre ihrer neuen Single „INK“. Der Song klingt damit, als würde eine Synthiepopband in einer Kirche auftreten. Während wir es bei ihrer kürzlichen erschienenen Single „Maze“ und auf der seit Anfang des Jahres erhältlichen EP „Camel Blues“ eher mit elektronisch unterfütterteten Indierock zu tun hatten, sind wir mit „INK“ nun bei blubberndem Elektropop. Wenn noch irgendwo Gitarren zu hören sind, gefällt mir der Nussbaumsche Popentwurf besser, aber die tremolofrei eingesetzte Folk-Stimme mit jazzigem Timbre dieser tollen Sängerin macht das allemal wett. /// Videos /// "Wir wollen alles" /// "ich und meine Homies" /// INK - ist noch nicht erschienen ///


Songs zum Sonntag /// 280523

Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.33.39/// Die trotzige Popfarbe, die Carla Lina ersingen kann, macht auch ihre neue Single „Lift Me Up“ zu einem Song, bei dem man sich in zweiter Instanz fragt, ob er eigentlich aus dem Jazz oder dem RnB kommt; was aber ja auch wurscht ist. Carla Lina ist auf jeden Fall eine tolle Sängerin, „Lift Me Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.34.27Up“ ist kompositorisch vielleicht nicht der Originalität letzter Schluss, aber Pop erfindet selten das Rad neu, und das wird mit dem Songtitel, der auch schon mal da war, auch nicht suggeriert oder gar versprochen. Ich verspreche aber, dass ich Carla Lina im Auge behalte. Oder im Ohr, je nachdem. /// Das neue Album von Peter Fox muss ich nicht auch in den Himmel heben, aber glücklich macht mich, und das sei eben doch erwähnt, Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.34.04ein Song darauf: „Toscana Fanboys“ im Duett mit dem wunderbaren Adriano Celentano - das Ding ist so relaxed und reduziert, es klingt schon fast nach Gorillaz - für mich einer der besten Popsongs des bisherigen Jahres. /// Da kann man natürlich hintendrei auch noch den diesjährigen ESC-Beitrag aus Italien hören, „Due Vite“ von Marco Megini - ein italiano-Schmachtfetzen aus dem Lehrbuch von Eros Ramazotti. Das kann kaum blöd finden. /// Links /// "You Lift Me Up" (video) /// "Toscana Fanboys" (audio) /// "Due Vite" (video) ///


Von der Verheissung zur Presets

Drei Newcomer:innen und ihre heute, Freitag den 05.04.23, erscheinenden Singles

Bildschirmfoto 2023-05-04 um 12.59.48/// „Du hörst den Trapbeat viel zu laut / isst deinen Mettigel und kaust mit Mund auf. / Ich glaub ich raste aus / Du fragst mich “hast du PMS, / oder vielleicht zu selten Sex?” / Reiß dein Maul noch weiter auf / und es gibt Stress!“, singt Paula Carolina zu Beginn ihrer neuen Single „Bitte Bitte“, und wer ihren Popentwurf aufgrund dieser Zeilen irgendwo zwischen NDW und Deichkind einsortiert, hat schon irgendwie Recht damit, aber die und Art und Weise, wie hier jegliches Blatt vor dem Mund in Grund und Boden gesungen wird, die Selbstverständlichkeit wie hier die globale Mensplaining-Lobby zum Schweigen aufgefordert wird, das ist so leichtfüssig eigen, dass selbst NDW und Deichkind vermischt noch zu kurz greifen. Paula Carolina ist in ihrer popgewordenen Wut die größte Verheißung, seit es Ideal nicht mehr gibt. /// Ähnliche Hoffnung weckt Gloria Nussbaum - allerdings in einem ganz anderen Sub-Genre der Popmusik. Während ihre ersten beiden Singles „twenty“ und „highest“ die Fühler in elektronischen Soul ausstreckten, ist ihre heute erscheinende, dritte Single „Maze“ fast schon in der Indietronica oder in synthesiertem Folk zuhause. Zwar übertreibt Nussbaum hier an mancher Stelle das Gehauche, und hin und wieder möchte man ausrufen: NUN SING DAS DOCH MAL MAZE CoverAUS! UND RAUS! - aber dennoch überwiegt der Eindruck, dass hier eine großartige Songschreiberin und Sängerin nach einem Sound für ihre Ideen sucht, und dass das mal riesig werden könnte. /// Ein Pop-Suchender ist sicher auch Filo, der seine Musik selber als Optimism-Pop bezeichnet. Mit seiner großen Brille bringt dieser Filo aber nicht nur Optimism sondern auch Nerdism in seine Musik, womit man auf Umwegen auch wieder bei Indietronica wäre, ein Substil, für den vor zehn, zwölf Jahren der auch irgendwann mal eine gewisser Caribou konstatierend war. 1OTwTTRY
Vielleicht ist es abwegig, sich an diesen kanadischen Musiker zu fühlen, wenn man nun das neue Lied von Filo „places“ hört, aber man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die melancholische Verspieltheit eines Caribou, für die es eben vor eben einem Jahrzehnt noch ein hohes Mass an Know-How brauchte, um sie in Sounds zu suchen und zu giessen, heute zu den verfügbaren Presets gehört, die man ohne viel Umstands am Apple erspielen kann. Wenn man von dem teils etwas ungelenkem Englisch absieht, ist der Newcomer Filo auf jeden Fall ein hörenswertes Beispiel, auf welchem Niveau man sich Pop-Mittel klauen kann, ohne verstohlen zu klingen, wenn man einen guten Song im Gepäck hat: und den hat Filo. /// Videos /// verlinkt um 10 Uhr ///


Songs zum Sonntag /// 230423

Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.37/// „Lawine“ heißt der Song von Olliso, den der Berliner Musiker nun zusammen mit der Sängerin Chiara Innamorato veröffentlicht hat. Die Lawine des Liedes ist eine Gefühlslawine, die eben durch sprechen ausgelöst wird, sondern eben durch ein, durch dieses Lied: „Und deshalb sitze ich hier, zuhause an meinem Klavier, die Töne sprechen mit mir, Gedanken bei Dir.“ Das Lied handelt damit sozusagen auf zweiter Ebene von Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.48ebenso der Chance als auch vom Dilemma vieler Lieder des Deutschpop: Die Emotionalität wird sozusagen von erster Sekunde derart massiv behauptet, dass das Lied fast daran zerbricht, und wenn man dann nicht mehr hinterher kommt, enteilt der Song in den unendlichen Weiten des Kitsch. Wenn man aber hinterher kommt und mitgeht muss man gleichzeitig auch schmachten und könnte in Tränen ausbrechen. So ist „Lawine“ je nach Disposition des Hörers mal großartig, mal peinlich entrückt. /// Irgendwann habe ich auf diesem Blog mal den Begriff der Coverstabilität erfunden. Er meint, dass ein Song eine Form von Affinität mit sich bringen kann, von Anderen nachgespielt zu werden und Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.11eben auch in anderen Genres als dem des Originals zu funktionieren. Die Band „Jante“ hat sich nun des Hits „Lila Wolken“, im Original von Materia, Yasna uns Miss Platnum , angenommen und ihn als Folk- bis Country-Nummer eingespielt - samt Flanell-Hemd und Banjo. Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.30Die lila Wollen erweisen sich hier als eben coverstabil, das funktioniert wunderbar und wirkt souverän und melancholisch. Tolle Version eines tollen Songs einer tollen Band. /// Einen auf seine Weise recht merkwürdigen Popsong hat die Sängerin Anika Auweiler aufgenommen - merkwürdig weil der spacige Synthpop nicht zu der Interpretin passt: „Ich will mit Dir tanzen, Baby  heißt der Song und ist ein Selbst-Cover, das in vielerlei Hinsicht aus der Zeit zu gefallen zu sein scheint und genau deswegen in die Zeit passt, wenn man auch tanzen will. /// Kann man gleich hinterher  it will be alright“ von Carla Lina hören, das wirkt, als hätte jemand einen Jazz-Standard in einen britisch Tee-affinen Soul gehüllt. Carla Lina hat ein trotziges Timbre in der Stimme, mit dem man vielleicht gerne auch mal ein etwas tiefer gehenderen Song hören würde, aber „it will be alright“ ist schon alright. /// Video-Links /// < Lawine > /// < lila Wolken > /// < ich will mit tanzen, Baby > /// < i will be alright > ///


Ohren auf beim Deutschopopkauf

Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.28.57/// „Hier auf meiner langen Reise bist Du der einzige Passagier“, singt Poul Jacobsen in seinem Song, der auch „Passagier“ heißt. Klassischer Deutschpop könnte man im ersten Moment attestieren, aber hier hört man vor allem aber Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.18Rock durch, einen sehr basslastigen Sound-Teppich zudem, wie Indiepop, manchmal klingt PeterLicht so, auch wenn die doppelten Böden hier durch den Rocksieb gefallen sind. Jacobsen schickt dieses Lied einer EP voraus, die den sehr schönen Namen „ein Weg, der so nicht in den Büchern steht“ tragen wird, und auch wenn hier melodisch und lyrisch das Rad nicht neu erfunden wird, ist das Poprock mit einer sehr gesunden Mischung aus Melancholie, Wut und Understatement, das sehr in unsere Zeit passt. /// SOPHIA passt auch in unsere Zeit, in der sich der Schlager beim Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.30.01Deutschpop bedient und der Schlager sich den Deutschpop aneignet - irgendwo auf der Mittelspur der beiden Fahrwasser hat sich ein Subgenre herausgebildet; was erst einmal ein normaler Effekt der Popkultur ist: Scheinbar gegenläufige Phänomene graben sich gegenseitig das Wasser ab, nähern sich einander an, um dann schliesslich im eigenen Substil aufzublühen. So gesehen ist SOPHIA eine Art Kapitänin des neuen deutschen Schlagerpops: Ihre Einsamkeitsgassenhauer blähen Schlagertopoi wie Himmel, Ewigkeit, Kairos, behaupteter Kontrollverlust und so weiter mit den Verheissungen des Bubblegumpops auf: „Ich würde für dich tausend Sterne bewegen, ja, jeden Planeten / Die Erde soll beben / Ich will nur, dass du weißt / Du bist niemals allein!“ - so heißt es in dem Titelsong "Niemals Allein" ihres soeben erschienenen Debütalbums. Unter diesem lyrischen Empowerment liegt ein Soundteppich irgendwo zwischen Mark Forster und Helene Fischer, jedes Lied ist Uptempo gehalten und je nach Euphoriezustand als Ballade oder Eurodance zu antizipieren. Saugut gemacht und überragend öde. /// Da nimmt sich RAUHM einen ganz anderen Raum, obgleich man auch zu der Musik sagen könnte, dass sie sich aus zwei Quellen speist, die sich gegenseitig befruchten: Mit Mitteln des Cloud-Rap zieht RAUHM einen Deutschpopsong über Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.36das Wachsein in die epische Breite, die teils eine Breite erreicht, dass der Sing durchfällt. Dennoch: Zeilen, wie die, mit denen der Song „zwei Züge“ beginnt, muss man auch erst einmal schreiben können: „Wir reden übers wach sein /Pupillen werden weit. Zwei Züge später die Gedanken breit dann / Reden wir übers wach sein. Ich meine echte Worte. Sich nicht zu verlieren und jeden Satz auch so meinen.“ - das ist schon mehr als die low fruits allgemeiner Textbaukästen. /// Die neue Platte von „AnnenMayKantereit“ heißt „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ - und so klingt sie auch: Drei junge Männer sitzen bei sich. Ich kann damit nicht so viel anfangen, aber es ist natürlich völlig okay und gut und wichtig, dass es diese Band gibt: „Erdbeerkuchen, den musst Du mal versuchen.“ - wer kann da schon widersprechen? ///

Links /// < website > von SOPHIA /// und von AnnenMayKantereit /// Video von Poul Jacobsen /// Video von RAUHM ///


Songs zum Sonntag /// 010423

SMALLCover_Criminal2/// Sophie Hallberg hat am Freitag ihre zweite Solo-Single „Criminal“ veröffentlicht - ihre erste war < hier > auch schon Thema. Der neue Song ist glasklarer Jazz-Soul in verschlepptem Uptempo, Akustikgitarre und E-Piano und walking-bass, fantastisch gesungen und sucht im easy-listening-Gewand versierte Tiefe. Der Song handelt von der Sehnsucht, sich vom Ballast des Alltags im gegenständlichen wie abstrakten Sinne zu befreien, sowie von der Hoffnung, Freiheit in der Liebe zu finden. Zum großartig Folowmemusikalischem Gewand gesellt sich hier also auch wunderschönes Songwriting: Von allen Newcomer:innen, die ich in letzter Zeit so gehört habe, ist Sophie Hallberg die Vielversprechendste - das ist erhabene, wunderschöne Popmusik. /// Zu den Überraschungsgästen in den Charts in diesen TikTok-Zeiten kommt in dieser Woche nun noch Amanda Lear, deren sphärischer Diskohit „follow me“ urplötzlich auf Platz 11 der Single-Charts steht - keine Ahnung warum. (Letzte Woche begrüßten wir in Jeniffer Rush in der Hitparade, ach!) - Grund genug, mal wieder Amanda Lear zu hören, deren queerer Metapop 2023 zeitgemäss ist, woran man erkennen kann, dass er Ender der 20er seiner Zeit voraus war. /// Links /// Amanda Lear mit "follow me" in "ZDF Disco" 1978 < hier > /// Sophie Hallberg " Criminal", audio < hier > ///


Brav kann schöner Widerspruch sein

Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.02.18/// „Hide & Seek“ ist die zweite Single der Münchner Sängerin Dimila - aber die erste unter diesem Künstlernamen, der zuvor Meela lautete. Das getragene Folk-Lied wird hier angegangen wie ein Jazz-Song und bekommt davon eine soulige Tiefe, derer die Stimme von Dimila auch gewachsen ist, zumal sie auch die Beiläufigkeit von Pop streifen kann, ohne ihren eigenen Song zu verraten. Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.05.26 Mögen Zeilen wie „Wrong direction, heading home / Physically in company / Being here alone / Even though it’s quite early / I drive into the unknown.“ auch nicht der lyrischen Weisheit letzter Schluss sein, so ist der Song dennoch eine Pop-Perle, und man darf bei der frisch getauften Dimila gespannt sein, was da noch so alles kommt. /// Andere Wiese, anderes Genres „Kicker Dibs“ machen astreinen Postpunk, der ja derzeit wieder angesagt ist, und sie veröffentlichen Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.02.41heute ihre neue Single "die Pointe". Hier geht’s nach vorne, auch wenn man Zeilen wie „Für ein kleines bisschen Liebe / Wär der Moment jetzt gerade nicht schlecht.“ in einem anderen musikalischen Genre verankern könnte, von Deutschpop bis Schlager wäre hier alles denkbar. Dadurch schimmert immer auch ein wenig Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.06.02Bravheit durch, aber vielleicht ist gerade dieser Gegensatz der Reiz. /// Naja, bisschen brav wirken auch „Schnaps im Silbersee“, aber eventuell liegt das am Namen, und der damti verknüpften Erwartung, dass man Schnaps-getränkten Partypop bekommt. Bekommt man irgendwie auch mit ihrer neuen Single „nichts mehr“ - aber er kommt lässig und im Reggae-Offbeat daher, und wer „Kunst ist voll mein Thema, ich geh ab zu Moritz Krämer:“ reimt, den finde ich sowieso erstmal gut. /// Leichter Tom-Beat, jazzige Gitarren-Licks, wenig Synthies - mehr braucht Peter Fox nicht für seine neue Single „weisse Fahnen“ - so reduziert hat er noch nie geklungen, sehr chillig, sehr trocken, sehr gut gemacht. /// Video-Links /// Dimila < hide & seek > ///Kicker Dibs < die Pointe > /// < Schnaps im Silbersee > /// Peter Fox < weisse Fahnen > ///


Unterkühlter Pathos

„Fight Back“ von Michael McCain und Agnetha Ivers

Die Single „Fight Back“ ist die zweite Kooperation zwischen dem Produzenten Michael Mc Cain und der Sängerin Agnetha Ivers - mit der ersten hatten wir uns bereits < hier > beschäftigt. Das ist in hohem Masse ungewöhnliche Musik: Ein klöpplender Beat bildet das Cover_fight_back30-sekündige Intro, auf dem sich dann weitere 30 Sekunden die Zeilen „Nobody will listen, will you hear me wiederholen.“, erst dann beginnt das, was man Strophe nennen könnte, indes orchestrale Effekte den Song auf Breitwand ziehen, dann crescendiert ein B-Teil das Lied zu einem theatralen Höhepunkt, ehe es dann, obgleich noch eine Minute übrig sind, auszutropfen scheint. Aber weit gefehlt: Nach 2:45 wechselt urplötzlich noch mal die Tonart.

Dieser  so verschachtelte Song scheint einem Film entsprungen, den wir nicht kennen. Er verfolgt eine stete Dramaturgie ohne sich klassischen Songstrukturen anzubiedern, und die Melodie ist auch nicht überliefertes Pop-Know-How, während der Text ein Echo, ein Rant gegen Schweigen in Zuständen der Unterdrückung ist. Wer immer sich hinter dem Namen Michael Mc Caine verbirgt - dieser Mensch weißt, was er tut, und er scheint es zu geniessen, nun unter anderem Namen, den keiner kennt, einen in allen Belangen ungewöhnlichen Popsong zu machen, der alle wesentlichen Effekte von Pop konterkariert, und in Agnetha Ivers hat er eine Sängerin gefunden, die in tremolofreiem, klarem Gesang unterkühlten Pathos hineinsingt. Ein aussergewöhnlicher Song von einem aussergewöhnlichem Duo.

Link: < musikvideo >


"Vielleicht bin ich einfach nur ein Dickkopf"

Der Sänger- und Songwriter Sören Vogelsang ist seit 14 Jahren hauptberuflich Musiker, seine Musik ist Folk mit deutschsprachigen Texten. Am heutigen Freitag den 10. März 2023 erscheint seine neue Single "Nerd", und ebenfalls mit dem heutigen Tag beginnt Vogelsangs Crowdfunding-Kampagne für sein neues Album. Grund genug mal ein paar Fragen zu stellen - das erste waschechte Interview des Poptickers, das wir diese Woche per Mail geführt haben

Lieber Sören Vogelsang, ihr neues Lied heißt „Nerd“, ihr letztes war „Asoziale Medien“. Gleichzeitig liebäugeln Sie und ihre Musik immer ein wenig mit dem Mittelalter, dem man den Nerd und Instagram eher nicht zuordnen würde. Welcher Zeit fühlen Sie sich näher - dem Heute oder dem Mittelalter?

Nerd CoverDefinitiv dem Heute. Ich habe 2008 mit Songs auf YouTube angefangen, mache seit mittlerweile 4 Jahren regelmäßig Musik auf Twitch und das neue Album heisst „Optimismus Prime“, was sehr offensichtlich nichts mit Mittelalter zu tun hat. Ich würde tatsächlich auch nicht sagen, dass ich mit meiner Musik mit dem Mittelalter liebäugele. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Auf meinem ersten Album „Augenblick“ war die Mittelalter-Folk Musik noch sehr stark vertreten, aber auch hier gab es mit Irgendwann, oder Langeweile schon Lieder, die man auf einem Mittelaltermarkt eher weniger hören würde. Mit dem zweiten Album „Fernweh“ habe ich mich dann komplett dem Singer-Songwriter/Pop zugewandt, da gab es keine mittelalterlich anmutenden Songs mehr, weder musikalisch noch textlich.

Ich habe allerdings in diesem Bereich 2010 angefangen Musik zu machen und habe aus der Zeit auch noch viele Fans. Wir haben mit der Band das CD Projekt „LARP“, auf dem wir bekannte Songs der Liverollenspielszene live im Studio (ohne Dubs) spielen. Auch treten wir weiterhin mit unserem Mittelalter-Programm noch immer auf solchen Veranstaltungen auf. 

Dank der in den letzten 10 Jahren stark gewachsenen Szene ist es heutzutage auch keine „Frevelei“ mehr, wenn die Songs auf der Bühne durchaus einen modernen Touch haben und der Sänger dort eben nicht mit Knickhalslaute, sondern mit Gitarre steht. Es ist schön, dass wir mittlerweile auch auf diesen Konzerten zwischendurch eigene, moderne Songs singen können, ohne anzuecken.

Ich liebe die Szene und ich mag auch mittelalterlich anmutende Folk Songs, aber meine und unsere Richtung ist mit dem letzten Album gelegt worden und wird mit dem kommenden Album konsequent weitergeführt. Aber wie gesagt: Es sind zwei Seiten einer Medaille und es wird auch eine LARP Vol. III erscheinen.

Die Musik, die es von Ihnen gibt, hat, egal ob sie vom Mittelalter oder von heute erzählt, einen sehr unverstellten Klangcharakter, sehr akustisch und wenig „produziert“ im Sinne von Sound-Effekten (sieht man mal von einem kurzen Autotune-Einsatz in „asoziale Medien“ ab), auch die Texte kommen auf sehr direkte Weise auf den Punkt, den sie machen wollen. Das Ganze wirkt dadurch sehr unverstellt. Macht man sich mit einem solchem Popentwurf nicht auch furchtbar angreifbar?

Bildschirmfoto 2023-03-09 um 16.05.43Ich bin tatsächlich kein großer Fan vom Drumherum-reden. Weder im Alltag, noch in der Musik. Hamburger Schule, in denen alles zerfasert und ver-metaphert wird, finde ich eher anstrengend. Ich kann nicht nachvollziehen, dass man Menschen ohne ein bestimmtes Bildungsniveau aktiv von seinen Songs ausschließen möchte. Klar mache ich mich damit auf der einen Seite absolut angreifbar, aber auch ohne das „an“, ich mache mich und meine Musik greifbar. Meine Texte sind leicht zugänglich, aber, (so hoffe ich zumindest) trotzdem nicht platt. Sehr viel im Radio ist komplett platt-produziert. Da fehlt für mich die Seele, das Atmen.

An die letzte Frage anknüpfend: Sie sind auch Schauspieler und haben sich in der LARP-Szene („Live Action Role Playing“) einen Namen gemacht. Wie viel Kunstfigur steckt in Sören Vogelsang, wenn sie nun unter diesem Namen Lieder singen?

Kurz: Nichts.

Ich bin so wie ich bin. Ich habe keine Lust mich zu verstellen. Klar, wenn ich schlecht drauf bin, versuche ich es mir natürlich nicht anmerken zu lassen und den Leuten natürlich trotzdem eine schöne Zeit zu machen, aber auch das kennt sicherlich jeder.

Anders ist das bei meinem Comedy-Musik Duo „Das Niveau“. Hier spiele ich immer wieder auch eine Rolle auf der Bühne.

PressefotoIn vielerlei Hinsicht wirkt ihre sehr authentische Musik aus der Zeit gefallen, ich habe den Eindruck, sie schert sich auch in keiner Weise darum, auf Streaming-Plattformen zu funktionieren. Finden Sie es blöd, wenn ich daraus schliesse, dass sich Ihre Musik eher nicht an junge Leute richtet?

Nein, Sie haben durchaus Recht. Klar, auch ich habe jetzt so einen TikTok Account, aber eher, weil mich Technik und Neues interessiert, nicht, weil ich auf „Teufelkommraus“ versuchen will dort jetzt „meine Brand zu platzieren“. Ich finde die Musikwelt sehr anstrengend. Ich habe viele gute Freunde, die in den letzten Jahren mit ihrer Musik sehr bekannt geworden sind und mit großen Labeln im Rücken im Mainstream stattfinden. Versengold, Saltatio Mortis, Faun, Mr. Hurley und die Pulveraffen. Das ist immer ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite spielt man in ausverkauften Hallen, findet im TV statt, ist „relevant“, auf der anderen Seite muss man immer auch Dinge tun und Lieder spielen, auf die man selbst absolut gar keine Lust hat. Es ist eben ein Business. Auch ich bin natürlich in diesem Business tätig, aber ich versuche das so gut es eben geht, nach meinen Regeln zu tun, ohne das ich mir von außenstehenden sagen lassen muss, was ich als nächstes zu tun habe. Reich werde ich damit sicherlich nicht, aber das ist auch nie mein Ziel gewesen. Ich mache Musik und kann davon Dank meiner Patreons und den Unterstützern auf YouTube und Twitch okay leben. Das reicht mir. Ich mache das, was mir Spaß macht.

Anders gefragt: Sie nutzen zur Promotion Crowdfunding-Plattformen wie eine Patreon-Seite und ab dem 10. März sammeln Sie nun Mittel zur Finanzierung ihres nächsten Albums - macht sie das unabhängig von Druck von Plattenfirmen, Promotor:innen und so weiter, oder raubt das auch Zeit, die Sie als Künstler dann weniger haben?

Man ist immer abhängig. Das ist in jeder Kunstrichtung so. Ob nun von großen Plattenfirmen, oder von den Fans. Aber ich muss sagen, ich bin lieber von den Menschen abhängig, die meine Musik schätzen, als von Leuten, die meinen zu wissen, was gut für meine Musik ist.

Noch mal zurück zur ihrer neuen Single „Nerd“, denn aus Anlass ihres Erscheinens findet dieses schriftliche Interview ja statt: Früher war der Nerd eher eine Figur Abseits der Gesellschaft, heute ist sie eher positiv konnotiert, und irgendeinen Spleen pflegt jeder, der was auf sich hält. Haben Sie auch einen?

Einen? Hahahahaha!

Im Lied „Ich bin ich“ aus dem letzten Album „Fernweh“ besinge ich sogar einige davon.

Ich denke man muss sich nur das Video zum Song angucken um genug zu sehen. Es ist in meinem Wohnzimmer gedreht worden.

- VIDEO-PREMIERE "Nerd" am 10.03.23 um 19 Uhr -

Und auch noch mal zurück zur ihrer letzten Single „asoziale Medien“ - dafür, dass Sie soziale Medien für asozial halten, sind Sie im Netz unfassbar präsent - facebook, twitter, twitch, instagram, discord, blog, reiseblog und irgendein gaming-Kanal, den ich nicht mal verstanden habe. Wie ist ihre Abneigung aus dem Lied mit dieser doch recht hohen Präsenz im Netz in Einklang zu bringen?

Hm, ich denke jeder hat schon mal länger als eigentlich beabsichtigt durch irgendwelche Social Media Timelines gescrollt und sich danach eher schlechter al besser gefühlt. Nun, genau davon handelt der Text. Jeder kennt es, niemand hat so wirklich ultimativ Lust darauf und doch kommt auch niemand so ganz davon los.

Auf der anderen Seite: Ich liebe die Möglichkeiten und ich war schon immer extrem Technik- und Internet-affin. Ich liebe Twitch, die Möglichkeit zu haben dort interaktiv für meine Community Musik zu machen und gleichzeitig, ähnlich einem Konzert, mit den Menschen die zuhören zu interagieren. Wie großartig ist das denn? Auf der anderen Seite sehe ich mit meinen 70 Zuschauern Kanäle auf denen eine leichtbekleidete Dame ihre nur sehr marginal verschnürten Brüste präsentiert und mit keinerlei erkennbaren Talenten von ihren 1500 Zuschauern mit Geld beworfen wird.

Bei sowas wird einem die Ambivalenz der Welt in der man sich dort bewegt erst so richtig bewusst.

Und dann habe ich noch ein über 2-stündiges Gespräch mit Ihnen und Jens Böckenfeld von Große „Freiheit TV“, ein  „libertärer Klima-Wandel-Skeptiker“ - Ihre Geduld dort ist bewundernswert, aber ich habe mich gefragt: Warum tut man sich das an?

Hahaha, gute Frage. Ich hatte erst letzte Woche ein Gespräch mit einem Schauspiel-Kollegen aus dem eher linken politischen Spektrum, der derzeit Memes von rechten Trollseiten auf seinem Facebookprofil postet und sich offen auf seinem Profil mit Russland solidarisiert. Klar, eine Möglichkeit wäre nun den Kollegen schlicht zu blockieren. Aber davon zieht sich seine Bubble ja nur noch enger zu. Also suche ich das Gespräch und versuche zu verstehen, wie man solche für mich völlig abstrusen Gedankengänge vor sich selbst rechtfertigen kann. Ich glaube das geht ein bisschen in die Richtung Chez Krömer. Ich will es einfach nicht unversucht lassen.

Gestern Abend hat mich meine Frau gefragt, an wen sich die Fragen, die da formuliere eigentlich richten, was für ein Mensch das sei, und meine erste Antwort war: Dieser Sören Vogelsang scheint ein ziemlicher Freigeist zu sein. Sind Sie das?

Ich fürchte alle meine Freunde würden hier sehr klar mit einem vehementen „Ja“ antworten.

Ich selbst bin mir tatsächlich gar nicht so sicher. Vielleicht bin ich einfach nur ein Dickkopf. Klar, ich habe Schauspiel studiert, mache seit 12 Jahren hauptberuflich Musik, habe nerdige Hobbies, schlage mich irgendwie durch… das könnte man schon als Freigeist bezeichnen. Auf der anderen Seite führe ich ein eigenes Musiklabel mit mittlerweile knapp 30 Künstlern, mache meine Buchhaltung selbst und bin in ziemlich vielem, ziemlich normal. Das klingt schon fast konservativ. Ich nehme an die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Lieber Sören Vogelsang, ich wünsche Ihnen viel Glück für Ihre vielfältigen Aktivitäten - vor allem natürlich für Ihre Musik & Ihr kommendes Album - bis demnächst.

Vielen herzlichen Dank, bleiben sie gesund und bis hoffentlich bald.

Links:

< Website > von Sören Vogelsang

(wiederum mit Links zu seinen vielfältigen Online-Präsenzen)

 


Womit füll ich jetzt die Strophen?

- Ach Freitag, was heute so erscheint #01 -

/// Die Berliner Band, „Schatz im Sibersee“, im Kern ein Trio, oft, wie es auf ihrem Youtube-Kanal scheint, mit mehr Menschen auf der Bühne, sind an ihrer eigenen Vision eines Klimaschlagers mit Pauken und Trompeten und schönen Streichersätzen herrlich gescheitert; denn ihr heute erscheinender Song „Die Arktis brennt“ mag vieles sein - Schlager ist er nicht: „Ich hab ganz kurz überlegt: Womit füll ich jetzt die Strophen doch dann schaute ich mich um: überall nur Katastrophen! / Hitze, Dürre, Hurricane – Seychellen gehen Baden / Ich frag mich manchmal: Juckt das wen? Wann folgen Worten Taten?“ Zunächst ist das Gesamtpaket dieser sympathischen Band so gar nicht berlinerisch, diese Musik kommt eher vom Land, von Biohöfen in der Uckermark, durchspült von kollektiven Gedanken und netten Leuten. Wenn ich also Scheitern sage, dann meine ich das, vermutlich klang das durch, Kraft meiner Ohren, durchweg positiv. Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Zuhause dieser Musik das Konzert ist - und nicht so sehr die aufgenommene Musik: Wenn man sich den Folk der neuen Single und der anderen Lieder dieser Band anschaut, dann bekommt man sofort Lust, diese Band live zu sehen. Aber gut - wenn das das Ergebnis einer Single ist, ist die Single ganz sicher nicht gescheitert. ///Bildschirmfoto 2023-02-10 um 10.58.57/// Vom Popentwurf her ist Sören Vogelsang sicher nicht so weit weg von „Schatz im Silbersee“ - auch seine Musik ist handgemacht und kaum als Pop produziert. Seine Texte sind jedoch eine Spur melancholischer, zumindest bei seiner neuen, ebenfalls heute erscheinenden Single „Große Freiheit“ ist das so: „Ist díe Straße ausgelatscht, und du wanderst ganz allein, kein Ausweg und kein Trampelpfad schlägst du dich mühsam querfeldein (…), auf dem Weg Richtung Meer.“ - wir befinden uns also höchstens zu Beginn des Liedes in der Uckermark und hören von einem Menschen, dessen Utopie der Weg zum Meer ist. Wobei etwas unscharf bleibt, wer sich hier warum nach dem Meer sehnt, aber das macht ja nichts. Das ist, ich bin da ehrlich, nicht so sehr meine Musik, aber in einem gewissen unerschütterlichen Glauben an die Musik und an den Song ist diese Musik mutig und bewundernswert. ///

Die Videos beider Lieder feiern heute 10.02.2023 um 19 Uhr ihre Premiere

"Schnaps im Silberseee" < HIER > und das von Sören Vogelsang < HIER >