Alben 2023

Pop durch die Hintertür

Bildschirmfoto 2023-11-17 um 09.58.10::: Was heute erscheint: Die Freitagskolumne ::: Den Song „collapsing“ habe ich gestern auf meinem Rechner laufen lassen, als es an der Tür klingelte, und als ich von der Tüt zurück kam, dachte ich: Jetzt läuft hier aber ein anderer Song. War aber nicht so: Die neue Single von „still sane“ hat zwei höchst unterschiedliche Teile. Während die Strophe fast klassischer, akustischer Folk und uptempo daher kommt, ist der Refrain deutlich langsamer, flächiger, elektronischer, chorischer. Daraus ergibt sich eine selbst für weirden Folk recht ungewöhnliche Dramaturgie, weil sich stetig etwas Neues aus den Schaltstellen zu drängen scheint. Das kann ich zumindest nicht beiläufig hören, aber wenn man sich dem widmet, ist es textlich wie musikalisch wie autogenes Suchen nach sich selbst - also eine in allen Belangen ungewöhnliche Musik. Der Stuttgarter Michel Stirner Foosteps Artworkstecht hinter dem Namen „still sane“, und ohne jetzt all zu schubladig klingen zu wollen: Hört sich an wie Bon Iver aus Stuttgart. Die EP „i thought that i’d know“ jedenfalls, die von "collapsing" flankiert wird, lohnt sich allemal. ::: Bon Iver nennt das Trio „Varley“ auch als Referenz für ihren Sound, aber bei Bildschirmfoto 2023-11-17 um 10.03.36ihnen hört man das nicht in erster Instanz durch - Elektrojazz hat man das in den 90ern wohl mal genannt. Ihr neuer Song „Footsteps“ handelt zwar von innerer Angst, kommt aber in der Summe ein wenig harmlos daher. Auf der anderen Seite macht auch das seinen Reiz aus: Man misstraut beim Hören der Oberfläche, und ehe man sich es versieht, hat man einen Ohrwurm - Pop durch die Hintertür. ::: And then there were three: Nachdem die wunderbare Band „ok danke tschüss“ zunächst ihren Drummer verabschieden musste, dann ieine neue Drummerin (Pauline) fand, muss diese nun aus gesundheitlichen Gründen leider pausieren - die Band ist nun wieder offiziell ein Trio. Die rhythmische Vakanz hält die Band aber nicht davon ab, stetig neue Singles zu veröffentlichen: Nachdem bereits seit letzter Woche das sehr launige, bisher nur auf YouTube in einer jazzigen Version zu findende „Teesorten“ im gewohnten Ok-Danke-Disko-Rock-Gewand erhältlich ist, bei der auch der Text leicht überarbeitet wurde, erscheint heute „Joel“ - bei der es um einen CoverTypen gleichen Namens geht (nicht um Weihnachten) - und auf einmal klingen Ok Danke nach Wir sind Helden, jedenfalls erinnert mich der Song an deren "Aurelie" - ach wie dem auch sei: Vielen Dank für jedes Lied an diese wunderbare Band. ::: Und dann haben wir noch klassischen 80s retro-Synthiepop im Gepäck, konkret die Band „King Pigeon“ mit ihrem neuen Song „Home With You“: Funky Gitarre und pointierte Synth-Keys legen hier das Flussbett für melodischen Hippie-Wave samt Solo, Chor-B-Teil - saugut gemacht, retro kann so neu klingen. :::

::: Links :::

::: still sane "collapsing" < video > ::: Varley < YouTubeChannel > :::

::: King Pigeon "Home with you" (Videopremiere 17.11. 18 Uhr) :::

::: ok.danke.tschüss videos: < Teesorten > ::: < Joel > (Premiere 17.11. 12 Uhr) :::


Wikipedia-Seemannsgarn

Der Popticker arbeitet sich einmal wieder an dem Phänomen "Santiano" ab

Der Shanty-Rock-Entwurf von Santiano ist ein in sich so klar definiertes Sub-Sub-Genre mit gleichzeitigem Mainstream- und Erfolgsanspruch, das in seiner Praxis kaum mehr Spielraum für Veränderungen bleibt - die Band liefert linear und in stetem Zeit-Rhythmus ihr Patentrezept als Album ab, Dagegen kann man nicht viel haben, denn das Rezept hat sich nun mal bewährt, aber für Bildschirmfoto 2023-11-06 um 14.05.38den Aussenstehenden ist in diesem strengen Output kaum ein Unterschied zwischen den Alben auszumachen. Das ist auch im Falle von „Doggerland“ so, ihrer neuesten Platte - wieder hören wir Männerchöre und Mittelalter, Hardrockanleihen und Folkarrangements. Erstaunlich an dem Santiano-Konzept ist dass dessen starrer Popentwurf seinen Authentizitätsanspruch aus der Vorstellung generiert, hier seien Musikanten am Werk, deren Anspruch und Könnerschaft es ist, dies diese Musik hervor bringen. Komponisten und Texter der Lieder der aBand sind aber vielbeschäftigte Songschreiber und Produzenten, die zumeist aus den Schlager und dem Mittelalterrock stammen und einer Band wie Santiano die Lieder auf den scheinbaren Seemansleib schreiben. An der Idee Santiano ist also an sich nichts authentisch und alles männlich.

Doggerland ist im Übrigen ein Gebiet im Nordsee-Becken, das heute überflutet ist - früher aber als Landzunge das Jütland mit Großbritannien verband. Sein mythisches Potential erkannten nicht erst die Song- und Schlager-Schreiber von Santiano sondern in der Vergangenheit auch immer wieder nationalsozialistische Ideologen, die in jenem Doggerland die Urheimat der Germanen phantasierten. Damit will ich nun nicht der Band Santiano nationales oder gar rechtes Gedankengut unterstellen, aber wenn ein paar googelende Texter für Santiano dies hier dichten: „Ich war in Doggerland / Und ich sah seinen Untergang / Jeden der dort verschwand / Hab’ ich gekannt / Ich war in Doggerland / Tief versunken im Nordseeschlamm / Dort liegt das Doggerland“ - dann hätte sich schon einer von diesen dichtenden Männern überlegen können, jegliche ideologische Vereinnahmung mit ein paar Zeilen zu unterbinden. Dass das besungene Doggerland nun anschlussfähig in alle Richtungen in den Tiefen der Nordsee versunken liegt, erscheint mir ein wenig naiv - das müsste nicht sein. Aber statt sich des riskanten Fahrwassers, in das man sich hier begeben hat, bewusst zu sein, geht man lieber kein ökonomisches Risiko ein, potentielle Hörer:innen zu verprellen, deren Weltbild man vielleicht nicht gerade teilt.


zwischen Indiestatement und Popitüde

Gestier/// heute neu: Die Freitags-Kolumne /// Wer indie klingen möchte, verbaut in seinem Popentwurf gern ein gewisses Understatement, woraus bestenfalls, da Pop ja schon auf sich selber und die eigene Coolheit verweist, gegensätzliche Bewegungen resultieren. Das kann natürlich dann ein schmaler Grad sein, denn wer zu wenig Aufhebens um sich selber macht, verliert den Pop aus den Augen, und wer zu sehr nach vorne prescht, vergisst leicht die Kunst der Bescheidenheit. Der neue Song von Moritz Ley könnte für meinen Geschmack ein klein wenig mehr Popluft atmen - fast verschwindet „Geisterstadt“ hinter dem Indiewillen des Genre-Entwurfs. Was an sich schade Lenaist, denn hinter den melancholischen Texten des Songwriters scheint immer auch ein lakonischer Hedonismus auf, und das hört man dieses Mal nicht recht raus; ändert aber nichts an meinen Sympathien für den Musiker Moritz Ley. /// < Video > /// Lena leidet nun nicht gerade daran, sich zu wenig nach vorne zu trauen - im Gegenteil, man weiß schon fast nicht mehr, was der Hauptberuf von Frau Meyer-Landrut ist: Musikerin oder Influencerin. Nun. In Wirklichkeit sind die Grenzen eben fliessend, und auch wenn ich Lena nichts wirklich übel nehmen kann, so muss man doch konstatieren, dass sie bei ihrer AMF Cover Finalbrandneuen Single „Straitjacket“ selber durcheinander kommt und das eher der Popsong einer Influencerin ist als von einer Musikerin: Alles klingt hier perfekt - Dua-Lipa-Disco-Beat, 4-to-the-floor, Autotune, klare Melodie, Synthiestreicher, B-Teil - aber es bleibt nichts davon hängen, nichts scheint besonders, nichts klingt lenalike. Macht aber ja auch nicht. Vermutlich bin ich eh nicht mehr der Adressat der Musik von Lena. /// < YouTube-Audio > /// Zurück zum Indie-Understatement: „colin“, ein Duo aus Köln, suchen ihre Musik eher in bescheidener Melodie-Melancholie; und haben ihrem Indiepop-Genre, das in den Folk reinschnuppert, schon den ein oder anderen tollen Song abgerungen. Ihr neuer Streich, „all my fault“, mag ein wenig höhepunktlos daher kommen, aber in der Summe hören wir hier beiläufigen, wunderschönen Softrock. /// < YouTube-Audio > /// Die für mich Amazoneswichtigste Neuveröffentlichung heute ist die erste Single des dritten Albums von „les amazones d’afrique“ - das Kollektiv aus weiblichen Popstars des afrikanischen Kontinents: „Kuma Fo“ vereint auf einem fluffiigem Dancebeat mit weltigen Breaks die Stimmen (und was für Stimmen!) von Mamami Keïta, Fafa Ruffino und Kandy Guira, die wir auch schon auf dem ersten beiden fantastischen Alben hören konnten, und von dem neuen Mitglied Alvie Bitemo. „Kuma Fo’ is about women’s freedom of expression.“, heißt es im Promotext, und dem ist fast nichts hinzuzufügen: Dieser Track ist frei und befreiend, und das kommende Album, welches bei Peter Gabriels Label „Real World“ erscheint, macht der Platte von Gabriel selber nur deswegen keine Konkurrenz um dem Titel des Album des Jahres 2023, weil es erst nächstes Jahr erscheint. /// Grandioses < Video > ///


Postironie

Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.16.52 ::: neue Singles von Newcomern ::: Der britisch unterkühlte Soul oder RnB oder beides unterspült nach und nach den globalen Pop mit seiner postironischen Dancebarkeit und seiner 90er-Attitüde. Nicht nur im Hyper-Minstream kommen die Popentwürfe von Rita Ohra (aus dem Kosovo, heute in London ansässig) oder Dua Lipa (aus Albanien, heute in London ansässig) an, jetzt geht das los, dass diese von noch jüngeren Künstlerinnen nachgebaut und eigen-variiert werden. Womit wir bei Leonora wären, eine junge Wuppertalerin, die mit dem heutigen Erscheinen ihres Songs „Mamas Favourite“ eine 5-Track EP komplettiert - und dieser neue Song ist mitreissend funky und zeitgemäss produziert - gute-Laune-Uptempobeat-Soul wie eine Schwebebahn - prima. ::: YouTube Audio Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.17.33::: Eine merkwürdige Härte sucht Fahrlænd, das Projekt des Sängers und Musikers Daniel Fahrländer. Er sucht diese Härte aber nicht mit den Soundmitteln des Rock, sondern mit denen des Elektropops. Verzerrte Synthieflächen, stolpernde Beats und etwas nöliger Gesang prägt seine neue Single „kaputt“; die mit dem O-Ton des Meme gewordenen Tischzertrümmerers Nikel Palat beginnt: „… und deshalb mache ich jetzt diesen Tisch hier kaputt“ - ein wenig hinkt der Song selber dann der Wut des ehemaligen Ton-Steine-Scherben-Managers Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.18.04 hinter her - und dennoch denkt man: Alles, was diese Musik erreichen möchte, ist, so weit man das beurteilen kann, gut in die Tat umgesetzt, aber ich kann mit dieser Tat nicht so viel anfangen; ausser vielleicht zu rufen: Ironie kann manchmal auch Spass machen. ::: YouTube Video ::: Würden Scooter einen Song namens „Kaffkiez“ machen, würde HP Baxxxter wahrscheinlich „How much is the Kiez in diesem Kaff?“ rufen. Fraglich, ob das funktionieren würde, aber es ist eben auch umgekehrt: Die Band Kaffkiez hat einen Song namens „Scooter“ gemacht, in dem die Zeile „Kommst eh nicht lebend raus sagte Scooter irgendwann“ vorkommt, und mit diesem Scooter könnten tatsächlich die Techno-Ruf-Formation „Scooter“ gemeint sein. Davon unabhängig ist der Song aufbauend - ohne viel Ansprüche, was irgendwie eine sympathische Attitüde ist: „Es ist ok wie es ist .Ich hab vor morgen manchmal Schiss. Das ist ok. Keine Sorge ich komm klar. Bin ab Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.18.52morgen wieder da. Doch bin ok“; der komprimierte Poprocksound, der hier den Ton angibt könnte für meinen Geschmack etwas ruppiger sein, aber das ist eine sympathische Band. ::: YouTube Video ::: Und dann noch mal recht klassischer Deutschpop. Mh, nee. Deutschrock. Was aber ist Deutschrock? „Ich hänge mich auf an Deiner Welt“, singen farbfilter. zu klassischem Rockriff - auch hier kann man nicht anders, als die Band, die diesen Song „Schwarzer Sommer“ spielt, mögen - wenn es solche nicht mehr gibt, kann man alles Andere auch bleiben lassen, auch wenn ehrlich sagen muss: Dieser schwarze Sommer setzt sich mir nicht im Ohr fest. Aber da höre ich weiter hin, wenn was mit diesem Farbfilter daher kommt. ::: YouTube Video :::


Das Schmierfett von Pop

Bildschirmfoto 2023-09-29 um 10.26.27/// Augen auf beim Deutschpopkauf & Die Freitagskolumne treffen sich /// Ehrlichkeit ist eine Tugend - da trifft die Band Jante den nagel auf den Kopf: Jemand, wahrscheinlich ein Paar, war bei jemandem, wahrscheinlich auch ein Paar, zum Essen und zum Spielabend eingeladen: „Doch irgendwie, wenn ich ehrlich sein soll, jetzt wo wir uns besser kennen, find’ ich euch gar nicht mal so toll, und die Stimmung ist gedrückt, weil sich keiner traut Bildschirmfoto 2023-09-29 um 10.26.00 zu sagen, was doch offensichtlich ist: Lass uns bitte bitte keine Freunde sein.“ - den Song finde ich prima, zumal ich über die Situation eines misslungenen Paar-Abends mal ein recht pessimistisches Stück geschrieben habe. Wenn die vier Personen in „Herr Kolpert“ so ehrlich gewesen wie die in dem Song von Jante, es wäre uns viel Theaterblut erspart geblieben; und ich wäre heute allerdings auch kein Theaterautor. Aber hier soll es ja um Pop gehen: Prima Band, prima Thema, melodischer Gitarrenpop, prima Song: Bildschirmfoto 2023-09-29 um 10.25.21Danke! /// Bisschen rauher geht es im Allgemeinen bei der Band „Kicker Dibs“ zu, aber die Veröffentlichung ihres Album „Die Pointe“ flankieren sie jetzt mit dem Song „irgendwo“, der mutmasslich mal als Ballade geplant war und jetzt doch als Song eher Uptempo geworden ist. Aber ist ja auch wurscht: „Ich will irgendwohin mit dir“, heißt es im Refrain, und da ist natürlich eine herrliche Rockzeile; überhaupt: So beiläufig „selig“ machenden Gitarrenrock hört man nicht alle Tage - wenn es solche Bands nicht mehr gibt, können wir’s auch gleich lassen. /// Wer den Neo-Hype und das Comeback der Poptugenden der NDW noch immer nicht glaubt, dem sei auf die Band „Die neue Zärtlichkeit“ verwiesen, die heute ihre zweite Single „Ein Replikant geht durch die Wand“ veröffentlichen: Butterzarter Synthiepop, zurückgehalten produziert und gesungen, dass man sich in der Lakonie an die „Dreiklangdimensionen“ Bildschirmfoto 2023-09-29 um 10.24.49 von Rheingold erinnert fühlt: „Traurige Roboter lesen Zeitung, traurige Roboter sitzen auf Arbeit.“ - irgendwo zwischen konstruierter Naivität und angeeigneter Technikskepsis findet dieser NDW-2.0 seine Skizze, die sich dann schon als Ausformulierung entpuppt. /// Nico Gomez hat mit seiner letzten Single im wehmütigen Pianopop gebadet, sein neuer Song heißt „Keine Lust“ und ist eher wieder tanzbarer Synthiepop: „Verpass meiner Todoliste einen Arschtritt.“, heißt es darin - das ist nicht so unbedingt meine Wiese, aber als Song funktioniert das Ganze schon ziemlich gut, weil die Unlust hier euphorisch und lustvoll rüber kommt: Gegensätze können ja bekanntlich das Schmierfett von Pop sein /// Video-Links /// Jante /// Kicker Dibs /// Die neue Zärtlichkeit /// Nico Gomez ///


Reissverschluss klemmt - was heute erscheint

L7_Bqq3ADie Freitagskolumne /// Die Wohnung als solche oder die nach einer Bleibe ist natürlich ein fester Topos im Setzkasten der Poplyrik; weil das Dach über dem Kopf, ohne dass man etwas dafür tun muss, mithin allegorisch ist: Wo soll ich hin? Wo bin ich zuhause? Solche Fragen sind gestellt, wenn ich die Wohnung auch nur erwähne. Insofern nimmt es nicht wunder, wenn Julia Kautz, ihres Zeichen langjährige und erfolgreiche Deutschpop-Songwriterin, auf eben diesen Kniff zurück greift und den Text ihrer zweiten Solosingle „kaputt“ so beginnt: „Eine Zweiraumwohnung mit einer Einbauküche ist das Verliess der düsteren Gedanken“; dazu hören wir glasklare Synthieflächen und simplen Gesang - weit und breit kein Verließ und keine düsteren Gedanken. Das macht aber ja auch nix: Eine Musik-Text-Schere kann ja sehr produktiv sein, aber hier kommt nicht so recht Wind in das Lied, das auch immerhin kaputt heißt, ohne irgendwo kaputt zu sein. Da Julia Kautz aber aber eben gewieft genug ist, Sprachbilder für Popsongs zu kreieren, die zwar naheliegend sind, aber dennoch Räume eröffnen, merkt man nicht, dass dieser Song wohl ein wenig langweilig ist - und genau in diesen Widersprüchlichkeiten ist das Ganze dann doch wieder spannend oder macht jedenfalls Lust darauf, weiter zu verfolgen, was diese Sängerin noch so veröffentlichen wird. GhnnY7Ly/// Was Julia Kautz an Professionalität und Erfahrung mitbringt, kann Rahel, aus Wien, so nicht vorweisen, aber das ist vielleicht auch ganz gut so: Ihr in den 80ern, Austropop und Indierock gebadeter Soundentwurf lebt zumindest auf ihrer heute erscheinenden Single „Schaffner“ von einer gewissen Wuschigkeit, die sich ihrerseits aus einer gehörigen Portion Naivität speist. Mir gefällt das sehr gut; der Song klingt anfangs zumindest sehr nach Mia Diekow und ihrem fantastischen Album „Ärger im Paradies“ (kleine Randnotiz *), dann aber hört man auch sehr Wien und Pop aus Bilderbuch aufscheinen: „Siehst du jetzt wie gut es ist / Dass du doch noch geblieben bist / Das Tischtuch im Speisewagen / Passt zu rosa Schnurrbarthaaren / Alle ham vergessen / Ob sie männlich oder weiblich waren / Den Strohhalm durchs Fenster / Einfach in das Meer hinein / Es ist gar nicht salzig / Es ist echter Veltliner Wein.“ - wunderbar getextet! /// In den 80ern gab es ja das Internet noch nicht, aber es gab Posterversandhändler, die den Preis für jedes Einzelposter verringerten, je mehr man bestellte, und daher gab man dann die Kataloge in der Schule rum. Ein Subgenre der damaligen Postermotive waren die schicken Männer, die Autoreifen durch die Gegend trugen, wer immer so Bildschirmfoto 2023-09-08 um 11.30.51etwas bestellte, aber Ben Zucker, jene Kreuzung aus Helene-Fischer und Hans-die-weißen-Tauben-sind-müde-Hartz, hat sich nun an diese Autoreifen tragenden Männer erinnert und ist auf seinem neuen Album als Autoreifen tragender Mann zu sehen. Das Album heißt „heute nicht“, und es erscheint auch heute nicht, und auch nicht nächste Woche, sondern im Dezember, Weihnachtsgeschäft, ich hör Dir trapsen, aber der Titelsong „heute nicht“ erscheint tatsächlich heute nicht nicht, sondern erscheint heute. Und lässt Schlimmes erahnen: Zucker hat die restlichen Mikrokramm Rock aus seinem Schlagerentwurf gestrichen und klingt jetzt nur noch nach Bumm-Bounce; und mit diesen saudämlichen Texten („Seh ich auch dunkle Wolken am Horizont: Ist mir egal, heute nicht / Und wenn das Chaos auch immer näher kommt: Ist mir egal, heute nicht“), da hat man das Gefühl man hört einem Motivationstrainer bei der gesungenen Zusammenfassung seiner Show: „An einem Wochenende das Mindset für Dein Glück“ zu. Diese Musik ist wirklich entsetzlich. /// Herrlich bekloppt ist auch wieder der neue Song von Alexander Marcus: "Und keinen interessiert es, obwohl es wirklich brennt / Immer mehr Menschen erleben, dass ihr Reissverschluss klemmt" /// * Mia Diekow hat gerade eine Crowdfunding-Kampagne für ihr nächstes Album gestartet, dazu mehr in der nächsten Woche. /// Links: Website Julia Kautz /// Linktree Rahel /// Ben Zucker "heute nicht" /// Alexander Marcus "Reissverschluss klemmt" ///


Wie wird es schön?

Die vielversprechende EP des jungen Popmusikers Fabian Saller

ONhANPggDie soeben erschienene EP des Sängers und Songwriters Fabian Saller „place / time“ klingt nach Deutschpop auf Englisch. Und vielleicht trifft es das auch: 4 Songs über die Unsicherheiten eines jungen Mannes Mitte 20 oder auch (nur) die Suche nach Problemen, über die es sich singen lässt. Gegen dieses Konzept, um Pop zu entwerfen, ist erstmal nichts einzuwenden, und Fabian Saller mach auch handwerklich alles richtig, weiß, wie ein Refrain funktioniert, ist als Sänger in der Lage versiert ins Falsett zu singen, um in höheren Lagen eine Spur Soul mit in den Pop zu nehmen; auch findet er Zeilen jenseits der Lyric-Setzkästen, und seine Band beherrscht zudem den kompakten Instagram-Funk, den auf social Media eine junge Generation virtuoser Popmusiker:innen erfunden haben, die nicht recht wissen, was sie mit ihren Instrumenten spielen sollen, die sie so toll beherrschen. Das Meiste also wurde hier richtig gemacht; aber dennoch denkt man: Handelte Pop nicht, oder Rock zumal, auch mal vom Kontrollverlust? Und führte uns die Verlockungen des Hedonismus vor Ohren? Wenn man an allen Ecken und Enden alles gut macht, was bleibt dann am Ende des Tages übrig? Vielleicht sind es in der Popmusik auch manchmal die Momente, in denen man zumindest riskiert hat, dass irgendwas nicht funktioniert. Dass man an der einen Kreuzung mal links abbiegt, obgleich seit Generation von PopmusikerInnen mit dem linken Abzweig ganz gut gefahren sind. Das Unperfekte kann zur Schönheit führen, das risikofrei perfekt Gemachte bietet einen guten Grundstock, ein Fundament, aber es ist noch nicht die Musik an sich, die berührt. Mit Fabian Saller also ist ein großartiger Musiker am Werk, dem seine Versiertheit an manchen Stellen im Weg steht, den es sich aber weiter zu verfolgen lohnt; und hörenswert ist seine EP „place / time“ allemal. /// - LINK: < YouTube-Channel > mit Videos zu allen vier Songs der EP - ///


Heute neu - die Freitagskolumne

Cover - EP - HeißKalt - Paula Carolina credits_ Sophie LöwNicht völlig zu Unrecht spricht man im Jahr 2023 von eine Anstieg der NDW-Referenzen bei jungen Musiker:innen. Was dabei wiederholt vergessen wird, ist das die neue deutsche Welle durchaus auch der deutschsprachige Postpunk gewesen ist, dass diese deutsche Pop-Welle ihre Wut und ihren Humor aus dem Punk bezog damit Punk nicht (nur) überwand - sondern weiter schrieb und zitierte. Das ist ein Element der NDW, auf dass sich heute weniger bezogen wird - aber bei Paula Carolina ist das anders. Die hat den Wut- und Befreiungsgestus, den Witz, Zynismus und die Provokationsfreude des Punk, bezieht sich musikalisch ohne Retrogedöns auf die NDW - und hat dennoch oder gerade deswegen ihren eigenen, eigensinnigen und unfassbar heutigen Popentwurf. Ihre fünf letzten Singles bündelt sie nun, ein oft gesehener Move in der VÖ-Dramaturgie in heutigen Zeiten, zu einer EP, die wiederum benannt ist nach einem neuen Song - „heiß & kalt“. Dieser bunte Popstrauss-Potpurri erscheint heute, und wenn man die sechs Songs in einem weg hört, hat man unweigerlich gute Laune: Sprachwitz und Feminismus, Wortbiss und Rockriffs, Pop und Punk-Attitüde wie aus einem Guss, vor allem wie Paula Carolina vom rhythmischen Singen ins Rappen und zurück ins melodische Intonation wechseln kann, ist groß - ein Wahnsinnstalent deutschsprachiger Popmusik; und „heiß / kalt“ ist eine EP, die vom Ideenreichtum quasi ein Album ist.

< Website Paula Carolina >

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Bildschirmfoto 2023-07-21 um 14.29.27Der Song „Hirn“ der Hamburger Band „DiNA“ zusammen mit dem Berliner Liedermacher Tristan Brusch ist schwer zu ertragen, denn hier ist das singende Ich ein Mann, der offenbar seine Frau umgebracht hat. Femizid ist an sich schon ein nicht gerade oberflächliches Thema für einen Popsong, aber aus Täterperspektive gesungen wird das Ganze zu einem Vorhaben jenseits der Beiläufigkeit des Mediums Popmusik - hier bräuchte es fast schon eine Triggerwarnung. Denn das beiläufige Hören, das Weghören oder die temporäre Annahme, hier höre man nur die Metapher einer Trennung, die in tiefer Depression und Düsternis erzählt wird, bedarf schon so viel innerer Verdrängung, dass es in der Summe leichter scheint, sich der Wahrheit zu stellen: Dass das singende Ich in diesem Lied ein Mörder ist. Die Frage, was hier erreicht werden soll, muss erlaubt sein, und man kommt auf der Suche nach einer Antwort nur auf die Idee, dass der Song eine Art Katharsis mit sich bringen könnte, eine innere Reinigung durch Abschreckung. Das wiederum ist ein Effekt, der in der Popmusik quasi noch nicht versucht wurde, sieht man vielleicht einmal von Falcos „Jeanny“ ab, der als Popsong ökonomisches Kalkül der Provokation sowie Doppeldeutigkeit und Schmäh mit sich brachte; und spätestens mit dem Sequel „Coming Home“ konnte man zudem mit Fug und Recht annehmen, dass Jeanny lebt oder aber ohnehin nur das Hirngespinst eines Irren ist und also nie gelebt hat. In dem Lied „Hirn“ ist all zu deutlich, dass wer hier besungen wird, unwiederbringlich tot und ermordet in einem Flur liegt, das Ganze ist verstörend scharf getextet, mit emotionaler Tiefe und doch genügend distanziert gesungen und dramaturgisch geschickt gebaut. So könnte man also abschliessend sagen: Ein grandioses Lied; das ich persönlich aber trotzdem kein zweites Mal hören möchte.

< Video Hirn >


Songs zum Sonntag /// 090723

Bildschirmfoto 2023-07-07 um 12.40.38/// „Eine ganze Jugend in vier Minuten - „Gekommen um zu Bleiben“ ist eine Hymne an gestern, heute und morgen. Kritisch, bewegend, euphorisch.“, so beschreibt die Band farbfilter ihren neuen Song, und selten können Bands ihre eigene Musik mit adäquaten Worten selber beschreiben, denn Bands haben ja ihre Musik, und um über ihre Musik zu sprechen, brauchen sie keine Worte mehr. „Gekommen um zu bleiben“, so hieß übrigens auch schon mal ein Song von „Wir sind Helden“, handelt von der „Generation Y, Kurt Cobain war längst begraben, und von überall bescheidene Musik“, skizzieren farbfilter, und die Musik von farbfilter ist in dem Fall marschierender Indierock, straight, tanzbar und mit einem Hauch Disko-Partizani. Nichts, was man hier zu hören bekommt, hat man noch nie gehört, aber so lange der Spirit stimmt, und das tut er, so lange kann auch lang Bewährtes toller Pop sein. Bildschirmfoto 2023-07-07 um 12.40.51/// „So Much“ ist der siebte Song, den Peter Gabriel von seinem neuen Album „i/o“ veröffentlicht hat - mindestens 4 sind also noch übrig, denn 11 neue Songs spielt er auf
seiner derzeitigen Tournee. Bislang also sieben, sieben Meisterwerke, anders kann man es als Fan nicht sehen. „So Much“ ist der bisher purste bislang, er bleibt ganz Klavierballade und lässt sich 3,5 Minuten, bis er sich ein wenig orchestral ausbreitet, mit Bläsern, die eine Bridge ergänzen, um sich dann wieder zurückzuziehen. Der Text ist eine poetische Assoziation über Alter und Sterblichkeit, „so much can be done“ singt Gabriel, aber wie er es singt, schwingt immer auch ein wenig das Gegenteil mit: Nicht alles, was getan werden könnte, muss auch getan werden; und es kann dennoch ein wenig in der Welt sein. Als wäre in dem, was man dennoch tut, vieles von dem, was man nicht tut, enthalten. Vielleicht ist das auch das Credo dieses wundervollen Musikers, der sich 20 Jahre Zeit für ein Album genommen hat, das nun so erhaben geworden ist, weil er viele Alben auch nicht gemacht hat. Und auch wenn das überinterpretiert sein mag: Bildschirmfoto 2023-07-07 um 13.06.22„So Much“ ist ein derart nahe rückender Song, dass man ihn nicht so oft hintereinander hören mag, aufwühlend, so schön kann Popmusik sein. /// Olivia Rodrigo ist 50 Jahre jünger als Peter Gabriel, aber sie ist auch in der Lage Songs zu schreiben, die als reine Pianoballaden eine innere Spannung entfalten, die man auch erst einmal hinkriegen muss. Schon ihre Signature-Single „Drivers License“ ist ein fast Strophe und Refrain überwindendes Dreifach-Crescendo, und auch bei ihrem neuen Song „vampire“ macht sie das so: Als stürze sie sich zurück gezogen am Piano in Innerlichkeiten, das Lied handelt von einer Trennung, und als entlade sich dann jede Innerlichkeit in einen Wutausbruch, wenn das, was von einem Refrain übrig ist, sich so anhört: „the way you sold me for parts / as you sunk your teeth into me, oh / bloodsucker, famefucker / bleeding me dry like a goddamn vampire.“ - diese junge Songwriterin ist der Wahnsinn und kann nahe des Wahnsinns singen, „vampire“ könnte ein Tom-Waits-Song sein, aber mit der glasklaren Stimme der 23-Jährigen bekommt der ganze Furor eine Meta-Schönheit, die himmelhohen Pop draus macht.

/// Links /// gekommen um zu bleiben < Video > /// so much < audio > /// Vampire < video > & Piano-Version ///


i / o

Popmusik, wie sie wundervoller kaum sein kann: Peter Gabriel auf seiner aktuellen Tournee

Peter-GabrielSeine frühen Alben hat Peter Gabriel nicht benannt, die Fans nennen sie nach visuellen Eindrücken der Cover („car“, „scractched“ und „melt“), und seither reichen ihm immer zwei Buchstaben: „So“, „Us“, „Up“ und nun nach 17 Jahren Wartezeit erscheint in diesem Jahr  „i / o“, von dem wir bislang 6 Songs kennen - samt und sonders Meisterwerke in Gabriels Oeuvre, und zu jedem Vollmond kommt ein neuer Song dazu. Das hält den Musiker aber nicht davon ab, mutmasslich alle Lieder von „i / o“ auf seiner derzeitigen Tour zu spielen - 12 an der Zahl, von denen das Publikum also die Hälfte gar nicht kennt. Trotz seines inzwischen stattlichen Alters von 73 Jahren handelt es sich bei dieser Tournee also nicht um einen nostalgischen Rückblick sondern um die klassische Konzertreihe aus Anlass einer neuen Platte. Und so wenig man diese Platte also wie gesagt kennt, so sehr kommt man aus dem Staunen nicht heraus - „and still“ ist eine stille Ballade mit dem klassischen Gabriel-E-Piano-Sound, „road to joy“ ist eine Hommage an seinen „Sledgehammer“ und „Home“ ist symphonischer Reggae - kein Song ist wieder andere, und doch merkt man schon im Konzert, dass alles aus einem Guss kommt.

Gabriel hat eine erschreckend versierte Band zusammen gestellt, unfassbare Musiker:innen; neben Manu Katché Ayanna2-w870an den Drums, Tony Levin am Bass und David Rhodes an der Gitarre, mit denen er teils seit 50 Jahren zusammen spielt, hat er sich für den Motown-Funk-Sound im Gabriel-Popentwurf Don Mc Lean an den Tasten dazu geholt, und für die orchestrale Breite Josh Shpak am Flügelhorn und anderen Blasinstrumenten, Marina Moore an Bratsche und Geige, Richard Evans an weiteren Gitarren und Mandolinen und dann noch, heimlicher Star dieser Tournee, die Cellistin Ayanna Witter-Johnson - wenn sie hinter ihrem Cello mit Peter Gabriel "don't give up" (den Part von Kate Bush) singt, wer da nicht Tränen in den Augen hat, da weiß ich auch nicht. Und dann ist er natürlich noch da, Peter, er mag 73 sein, aber er singt wie eh und je wunderschön, dass man schmilzt.

Gut, wenn Gabriel spielt, bin ich eh nahe am Wasser gebaut - schon wenn er am Anfang auf Deutsch „jetzt kommt die Flut“ spielt, mit Keyboard auf dem Schoss und Tony Levin an dessen Stick genannten Bass mit 16 Saiten begleitet, dann war bei mit kein Halten mehr. Im zweiten Stück, "growing up", kommt nach und nach die ganze Formation an einem künstlichen Lagerfeuer zusammen, ach! Was hier mit diesen Musiker:innen auf die Bühne gespielt wird, ist meines Erachtens ein Höhepunkt der Popgeschichte, zum verrückt Werden schön.