Die 90er

Liste der italienisch-sprachigen Nr.1-Hits in den deutschen Charts

Eine überraschend schwer zu recherchierende Liste - und Nein, weder "Azzuro" noch sonst ein Italo-Hit, der spontan einfällt, hat die Peak-Position der deutschen Singlecharts erreicht - trotzdem lasse ich mich gerne eines Besseren belehren - in den Kommentaren oder per Mail.

 

Rocco Granata                         „Marina“ (1959)                < youtube >

Oliver Onions                         "Orzowei" (1976)               < youtube >

Oliver Onions                         "Santa Maria" (1980)           < youtube >

Andrea Bocelli feat. Aarah Brightman  "Time To Say Goodbye" (1996)*  < youtube >

Eros Ramazzotti feat. Anastacia       "I Belong To You" (2006)**     < youtube >

 

*Bocelli-Strophen auf Italienisch **Ramazzotti-Strophen auf Italienisch                      

Wir hatten hier im Popticker bereits spanische-sprachige Nr-1-Hits < hier > sowie französische < hier >


Zerrissen

Bildschirmfoto 2022-11-29 um 09.14.48- vor 25 Jahren erschien „Torn“ von Natalie Imbruglia

Er hat noch nicht kapiert, dass es zu spät ist: Sie ist bereits zerrissen. Die Gespräche sind verstummt, ihr ist kalt, sie schämt sich, sie fühlt sich so verlassen, als läge sie nackt auf dem Boden. Da hilft es auch nichts, dass er einst die Hoffnung in ihr weckte, er könne DER Mann sein: Würdevoll, warmherzig, zuvorkommend - heute sind davon eben nichts als Lügen übrig geblieben.

Bildschirmfoto 2022-11-29 um 08.48.37Diese Geschichte klingt vielleicht ein wenig nach Groschenroman, aber sie ist der Stoff einer der meist gespieltesten Songs der Radio- und einer der größten Hits der Popgeschichte überhaupt: „Torn“ von Natalie Imbruglia. Die Radiotauglichkeit dieses Liedes, seine bestürzende Harmlosigkeit, ist dabei natürlich ein Teil seines Geheimnisses: Hinter der funkelnden Oberfläche der schönen Akkordfolge und dem beiläufigen Gesang enthüllt sich das Zerwürfnis einer ehemals verheissungsvollen Beziehung - so funktionieren Hits. Hinzu kommen die Genre-Prisen Rock, Folk, Pop und ein leichter Off-Beat aus tanzbareren Stilen - dieser Song ist alles und nichts.

Vor Natalie Imbruglia hatten sich schon andere Sängerinnen und Bands an „Torn“ versucht, die Version der australischen Soap-Darstellerin war bereits die sechste, aber alle vor ihr waren keine Genre-Hybriden sonder verfolgten eine klare Stil-Linie, und daher waren alle diese torns nicht in sich selber so homogen zerrissen wie das Welthit-Cover von Natalie Imbruglia. Hinzu kam etwas, das in der Popwelt vor 25 Jahren  elementar war - das Musikvideo: Die Zerrissenheit des singenden Ichs wurde hier durch die offen gelegte Dreharbeit an einer kurzen, romantischen Szene umgesetzt, die nie so richtig gezeigt da inszeniert wird; bis schliesslich im Hintergrund die Kulissen abgebaut werden. Der Gegensatz von glitzernder Fassade hinter der der Abgrund der traurigen Geschichte lauert, fand hier seine visuelle Entsprechung. (Ich fand das Video vor 25 Jahren natürlich auch toll, weil Natalie Imbruglia darin so hübsch war - zugegeben.)

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Vier Minuten dauert „Torn“, 12 Sekunden dauert es, bis Imbruglia zu singen beginnt. Liesse man das Intro weg kürzte den Song auf drei Minuten, er wäre auch heute Spotify- und TikTook-affin genug, um ein Hit zu werden - so sehr hat sich dann die Popmusik auch nicht verändert, nur ein wenig die äusseren Umstände, unter denen Akustik und Visuelles zusammen fallen, um in diesen Umständen Pop zu werden. Und gegebenenfalls Hits.


Songs zum Sonntag /// 161022

Bildschirmfoto 2022-10-16 um 13.00.22/// Rap und Hip Hop ist ja so gar nicht meine Wiese, aber wenn man dann mal so quer hört, ist doch verblüffend, wie weitläufig hier Felder bestellt werden. YANSN kommt in ihrem neuen Video zum Song „Immer noch gute Vibez“ eher leicht spirituell und fast schon eurythmisch daher - die Musik ist aber (glaube ich) Trap und feiert sich selber als Comeback oder als Trotz gegenüber den Ungerechtigkeiten der Welt mit einem im Pop hinlänglich bekannten aber immer noch funktionalen Gestus: Die Welt ist da und ich bin aber anders und woanders - let me be me. Wenn so viel an sich Disparates zusammen fällt in einem Song, finde ich das auf jeden Fall bemerkenswert. /// Auf völlig anderem Wege, aber doch durch disparates zusammenfallen - NEIN, dieser Übergang funktioniert nicht. Es gibt einen neuen Song von Queen. Bildschirmfoto 2022-10-16 um 13.00.43JA! Und zwar mit Freddie Mercury. Was immer man nun von Queen und der Tatsache, dass sie mit Adam Lambert als Sänger auftreten, halten mag, aber es ist ein Weg, das Erbe dieser Band aufrecht zu erhalten, ohne ständig postume Aufnahmen mit Freddie Mercury auf den Markt zu schmeissen, nun aber ist eben doch eine solche Aufnahme als Single erschienen: „Face it alone“ ist eine klassische Queen-Ballade mit Zupfgitarrenriff, Synthies, May-Gitarrensolo und etwas zu lauten Snare-Schlägen von Roger Taylor - so klangen Queen Ende der 80er, und ja, der Song stammt aus den Sessions zu dem 1989 erschienenen Album „The Miracle“.  Das war sicherlich nicht ihr bestes Album, aber „Face It Alone“ ist stark genug, um den Release erfreulich zu nennen - ich hab’s mir gleich gekauft und freue mich über das Erlebnis eines neuen Queen-Songs mit Freddie Mercury - der war halt schon der beste Popsänger aller Zeiten, sorry Leute, aber ist so. /// 

Links: Video "immer noch gute Vize" /// Lyric-Video "Face It Alone"


Songs zum Sonntag (heute exklusiv erst am Montag) 

Bildschirmfoto 2022-09-26 um 11.25.46/// David Gramberg, ein junger Sänger aus Schwabsoien (100 Kilometer von München), hat gerade die dritte Single seiner demnächst erscheinenden Debut-EP veröffentlicht: „Somewhere In Between“ ist eine soulige Piano-Ballade, die gekonnt zwischen Gospel und Bubble-Pop switcht und mit ihren RnB-Referenzen an Jamie Lidell erinnert. In erstaunliche Höhen kann Gramberg zudem seine Kopfstimme schrauben, auf denen sie luftig durch den Song fliegt - ein bemerkenswerter Song eines Musikers, von dem man sicher noch hören wird - toll. Bildschirmfoto 2022-09-26 um 11.25.18/// Ein großes Wunder ist das Cover von Herbert Grönemeyers „Mensch“, das die französische Vokal-Artistin Camille gerade heraus gebracht hat. Für mich, der ich riesiger Fan sowohl von Herbert als auch Camille bin, ist das ein Popmoment großen Glücks, diese Version zu hören. Camille findet mit „Humaine“ dabei fast zum Sound ihres übermässig fantastischen Albums „le fil“ zurück: Schichtchöre auf seichten Klavier-Akkorden in rhythmisierten Räumen, die sich aufbäumen und in andere Richtungen entladen - wundervoll. /// 

/// Links /// Video "Somewhere in Between" /// Audio "Humaine" ///


A walk out of my masterpiece

Robbie Williams leidet unter seinem Bedeutungsverlust

Moment mal, ein Best-Of-Album von Robbie Williams? Gibt es das nicht längst? Doch schon. Aber zum 25-jährigem Jubiläum des Beginns seiner Solo-Karriere hat er alle seine Hits noch mal mit Orchester eingespielt. He? Gab es das nicht auch schon längst? Eines seiner gefühlt 7 Swingalben wird doch sicher mit seinen Hits gewesen sein. Nein, nein - nichts da Swing: Mit breitwandigen Streichern und Poporchesterpathos, mit wehenden Fahnen und fast schon riefenstahlschem Cover-Foto verkauft Robbie Williams nun seinen Song-Katalog. Der Aufwand, der dabei für dieses „Best-Of“ betrieben wurde, die Art und Weise, wie hier mit den Mitteln der Klang-Komprimierung das Orchester in die Breite gezogen wird, so dass das Ganze auf jeder Boombox noch nach Waldbühne klingt, ist enorm. Die ohnehin schon effekthascherischen Songs, die meisten aus der Feder von Williams’ Haus- und Hofkomponist Guy-Chambers klingen nun noch triefiger, pathetischer und bombastischer. Da waren wirklich Spezialisten am Werk, irgendwelche Soundingenieure, die für Williams diese Breitwand-Klangbetten ausproduziert haben, - und sie dann ihrem Kunden vorgespielt.

XxvAber leider scheint Robbie das Interesse an seinen eigenen Hits verloren zu haben. Mit stoischer Gleichgültigkeit singt er zum soundsovielten Male „Free“, „No Regrets“ und das unkaputtbare „Angels“ sowie noch weitere 26 Lieder. So betreibt die Williams die Selbstmusealisierung als trotziges Kind einer vergangenen Pop-Ära, in der noch CD-Verkäufe und MTV massgebende Kriterien waren, und beim dritten Lied will man dem guten Robbie zurufen: Wenn du so wenig Bock hast auf diese Platte, dann lass es doch vielleicht einfach sein. Aber er hat es natürlich nicht sein lassen, und als würde er sich selber rückversichern, dass er es doch noch kann, so beginnt diese Platte mit dem Queen-Wiedergänger „Let Me Entertain You“. Jaja. Darfst mich ja entertainen, Robbie. Aber man wird das Gefühl nicht los, dass Williams zum ultimativ letzten Mal diese Bitte äussert, man möge sich von ihm unterhalten lassen; und danach begräbt er dann seinen Song-Katalog in Schmalz und Zucker. Wobei Pathos und Selbstmitleid ausreichen, um gleich die gesamte Popmusik als solche mit in den Abgrund zu reissen - dieses merkwürdige Album mit dem Titel „XXV“ ist ein Requiem auf alles Populäre in der den 90ern vollkommen fremden Ära der Postcharts. Getreu dem Motto: Wenn ich, Robbie fucking Williams, schon kein Popstar mehr bin, soll es auch gar kein Pop mehr geben - nach mir die Sintflut.

Der einzig neue Song auf diesem Abgesang von Album heißt bezeichnender Weise „Lost“, und hier klagt er dann auch, dass er mit diesem Jahrzehnt von Tik Tok, Hyperpop und Viralität statt Chartstauglichkeit so gar nichts anfangen kann: „I lost my place in life / I lost my point of view / I lost what it is to love / When I lost my faith in you / A walk out of my masterpiece / To the nothingness greeting me / Everything smells like sympathy.“ - ach naja. Irgendwo hat er ja auch Recht: Was ist uns denn vom Pop geblieben? Nichts. Aber eben auch alles. Denn von irgendwoher kommt dann auch wieder eine Billie Eilish oder eine Olivia Rodrigo und weist auf, dass Pop ebenso kurzlebig wie ewig ist, und mit ein bisschen Augenzwinkern kann man auch ohne Selbstmitleid noch mitreissende Popmusik machen, wenn man fast 50 ist.


Dieter, so nicht

Endlich: Das Ende von DSDS

„Take me tonight“, singt am 08. März 2003 Alexander Klaws im Finale der Show „Deutschland sucht den Superstar“ - und diese Zeile ist natürlich, wie man es dreht und wendet, unfassbarer Blödsinn. Man konnte es also wissen; und vielleicht hätte Anfang 2003 irgendjemand Größe beweisen müssen und dem eigentlichen Superstar dieser Show ins Gesicht sagen sollen: „Dieter, so geht das nicht“. Hat aber niemand. Und so konnte Bohlen dann also die historischen Irrtümer, er sei ein Poptitan und könne Englisch, im Fernsehen verlängern. Was viele vielleicht gar nicht mehr erinnern: An besagtem Abend erklang das „Lied“ „Take Me Tonight“ sogar gleich zweimal: Auch die zweite Finalistin Juliette Schoppmann musste diesen Quatsch singen, Sätze wie - nach bestem Gewissen übersetzt: „Oh Baby, wenn ich in Deine Augen sehe, fühlt es sich mir gut an.“ oder „Sag mir, dass ich dein bin, mach mich nicht blau.“ - und natürlich die Titelzeile: „Nimm mich heut nach, alles ist möglich.“

Immerhin konnte man sich vor 20 Jahren noch einbilden, es ginge um Popmusik, die Verheißung, Deutschland suche tatsächlich nach einem Superstar, konnte man mit einer schönen Portion Naivität noch glauben, und Bohlens letzter Hit war, als „DSDS“ startete, auch nur 16 Jahre her. Tatsächlich aber fand sich im Casten unbekannter Menschen ein emblematisches Schema für Popmusik im Privatfernsehen, und die Show „DSDS“ im Speziellen machte eine Entwicklung durch wie jüngst Streaming-Anbieter „spotify“: Von einer Plattform für Popmusik zum Content-Provider. Und anders als beispielsweise bei „The Voice Of Germany“ fand sich bei DSDS eigentlich kein Gewinner, der irgendeinen nennenswerten musikalischen Impuls gesetzt hätte. Man könnte eventuell Beatrice Egli nennen, deren Sieg im Jahre 2013 die Show für den Schlager öffnete und letztlich dem Schlager-Erfolg-Gatekeeper Florian Silbereisen als Juror den Weg ebnete. Aber die wenigen Teilnehmer:innen, über die man heute noch spricht, waren nicht die die jeweiligen Sieger (sieht man einmal von besagtem Klaws ab, der heute eine überraschend gute Figur als Winnetou in Bad Segeberg abgibt), sondern es waren die, die sich als bunte Vögel vermarkten liessen - ob sie nun wollten oder nicht. Man denke nur an den inzwischen ja leider unter sehr traurigen Umständen verstorbenen Daniel Küblböck, dessen verquerer und queerer Humor und Popentwurf noch heute erfrischend und auf seltsame Weise befreiend wirkt.

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DSDS-Titan Dieter Bohlen

Der Schmierstoff von „DSDS“ waren schon immer Emotionen, oder das, was das Fernsehen dafür hält, und die bekam man reichlich, weil Bohlen in dem gepflegten Irrglauben, er verstehe etwas von Pop, eine Form verbaler Demütigung von Kandidat:innen salonfähig machte, die man stillschweigend hinnahm wie sein verworrenes Englisch. Seine Allegorien, Stimmen zu umschreiben, fanden in einer Zeit, in der der Slogan „Geiz ist geil“ zur emblematischen Werbung wurde, einen substratigen Nährboden. Hätte sich die Show DSDS nicht diesem Botox-betankten Altherrenwitz in Camp-David-Shirts unterworfen, wer weiß, vielleicht hätte sich dann eine schöne Popsendung ergeben können, aber erst für die diesjährige 19. Staffel hat man ihn vor die Tür gesetzt, um nun also anzukündigen, ihn für die vorerst letzte Runde 2023 zurück zu holen.

Die Halbwertzeit der Popmusik, die DSDS hervor gebracht hat, war schon vor 20 Jahren überschaubar, und hat sich bis heute so sehr verkürzt, dass nun noch von Tausendstelwertzeit gesprochen werden kann. Dei Show karikiert sich nur noch selber, und da ist es eben auch kein Wunder, dass man dafür wieder Bohlen selber braucht. Das Aus für „Deutschland suche den Superstar“ ist eine gute Nachricht.


Style These

Endet mit dem neuen Harry-Styles-Album die Popgeschichte?

Gleich in der Lobby von Harry Styles neuem Album „Harry’s House“, können wir Sushi essen, denn der Opener heißt „Music For a Sushi Restaurant“. Er beginnt mit einer kreiselnden Synthie-Melodie mit schnipsend handclappendem Beat, worüber sich dann ein geschichteter „Ooooouh“-Chor crescendiert, der dann a-capella in ein „Bah Bah Bah“ mündet; dann setzt der Beat wieder ein, und wenn Styles schliesslich die erste Strophe singt und sich in der Folge das „Bah Bah Bah“ mit Bläsern aufgepumpt als Refrain entpuppt, ist das Album gerade mal 75 Sekunden lang gelaufen, und wir befinden uns mitten in einem Mix aus Justin Timberlake, Terence Trent D’Arby, Bruno Mars und Stevie Wonder und somit in den 70ern, 80ern, 90ern gleichzeitig. Und so geht das weiter: Bevor als vierter Song die schon bekannte „dancing with tears in my eyes“-Remiszenz „as it was“ erklingt, blubbert „Late Night Talking“ in den RnB der Nuller, während „Grapejuice“ mit seiner Indierock-Koketterie ein High-Five an Robbie Williams schickt.

Harrys-house

Sämtliche Popmusik ist heute ja heutzutage ohnehin nur einen Klick entfernt, und somit ist nur konsequent, dass in Harry’s Haus aller Pop drin ist. Und in dessen Zimmern verdichtet sich Alles zu 13 Liedern, die samt und sonders Hit-Potential haben. Viele Stile und alle wesentlichen Pop-Jahrzehnte fasst dieser Sänger also in einen eigenen Popsound, findet von Synthie zu Folk, von Soul zu Jazz und zurück zu Fun- und Funkpop. Niemals aber hört sich diese Musik bemüht oder ungewollt retro an, dazu sind die Melodien zu eigen, das Songwriting zu aktuell, die Produktion zu souverän. 

Die Art und Weise, wie hier alles mit allem in einen verqueren und queeren Popentwurf mündet, wie sich Widersprüchlichkeiten mit guter Laune und stetig catchy Hooks vertreiben lassen, lässt ebenso ratlos wie begeistert zurück. Begeistert, weil es für sich funktioniert, ratlos, weil mit diesem Album in gewissen Sinne auch die Popgeschichte zu einem Ende findet - „Harry’s House“ ist Synthese von sehr viel Pop. In jedem Falle hat man das Gefühl, jetzt muss wieder irgendwas wie Punk und Grunge um die Ecke kommen, irgendein Genre, das alle Erinnerung platt walzt und sich für nichts ausser sich selbst interessiert und nicht alles zu einem stylischen Brei verrührt. Styles singt ja selber: „You know it’s not the same as it was.“


Schönheit und Anmut

Tears For Fears mit neuem Album nach 18 Jahren Pause

Wenn man sich die Geschichte der Popmusik anschaut, so könnte man als eine ihrer Mechaniken die Sehnsucht vieler Genres nach ihrer eigenen Entgrenzung betrachten - als wären also Genres und Sub-Genres, Kategorien und Schubladen der Popmusik Organismen, die aus sich selber treten möchten, durch Zellteilung, um Bild zu bleiben. Und es braucht gleichermassen Bands und Interpret:innen, die ihr jeweiliges Genre am Leben halten, ausdifferenzieren und es hegen und pflegen, als auch solche, die dem natürlichen Instinkt nach Erneuerung und Entgrenzung nachspüren. 

Wenden wir nun diese Sichtweise auf den Synthiepop der 80er an, so fallen einem sofort für beide Vorgehensweisen Beispiele eine - Bands also, die dem Synthiepop treu blieben und teils bis heute sind - wie a-ha, Depeche Mode, Eurythmics oder die Pet Shop Boys; genauso wie Formationen, die Auswege aus den doch recht starren Popentwürfen des New Wave suchten. Hier wären Talk Talk zu nennen, die zwar schon ihrem eigentlichen Genre  ein paar der elegantesten, und verschachtelsten Hits der 80er überhaupt abrangen, sich aber dann auf den Weg machten, orchestrale und jazzige Elemente in ihre Musik zu ziehen und einen Artpop kreierten, der in seiner düsteren Spleenigkeit bis heute seinesgleichen sucht; oder Spandau Ballet, die den reinen Synthiepop tatsächlich als eine der Ersten ad acta legten, nämlich als dieser noch gar nicht richtig boomte: Ihr 1984 erschienenes, drittes Album “true“ definierte ihren Signature-Sound: Loungepop mit Spuren von Rock, unfassbar weissem Soul und einer gehörigen Prise Barjazz. Oder aber, um die solle es heute gehen, Tears For Fears. Das Duo hatte mit „shout“, „mad world“ oder „everybody wants to rule the world“ veritable Hits und hätte es sich damit bequem machen können. Stattdessen nahmen sie ein riesiges Budget in die Hand, engagierten das Who is Who der damaligen Popmusik als Gaststars und nutzten Beatles’ „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ als Blaupause für eine Flucht aus dem Synthiepop: Drei Jahre Arbeit mündeten 1989 in dem Album „seeds of love“, eine virtuose Melange aus Artpop, Jazz, Blues, Folk und ihrer musikalischen Heimat, dem New Wave. Auf dem Weg zu dem Album feuerten Curt Smith und Roland Orzabal die eigentlich angedachten Produzenten Clive Langer und Alan Winstanley, und Orzabal übernahm den Job dann selbst.

Cover-tippingpoint

Und auch für ihr diesjähriges Comeback feuerten sie Soundtüfteler: Ihr eigentliches Label verordnete ihnen die Hipster-Produzenten Florian Reutter und Sacha Skarbek, aber das hat wohl nicht funktioniert. Wie dem auch sei: 18 Jahre nach ihrer letzten Platte ist im Februar nun „the tipping point“ erschienen, eine erratisches, philosophisches, nachdenkliches Werk, auf dem nicht die Machart, der Stilmix und der Bombast im Vordergrund stehen - sondern Songwriting. Die Lieder handeln vom Alter, vom Tod, von der Welt und der Eigenwahrnehmung, und Tears For Fears ziehen die Register ihrer Soundmittel behutsam und virtuos, um diese ihre Lieder emotional nahe zu bringen - der Opener "no Small thing" klingt nach Folk und 70er, der Titelsong zieht breite Flächen mit dem dem Synthesizer, "my demons" ist stampfender Rock, um nur drei Beispiele zu nennen. Und wie sie sich gesanglich einbringen, paritätisch, ergänzend, chorisch, abwechselnd, widersprechend oder zustimmend, das beherrschen sie nach 30 Jahren Bandgeschichte mittlerweile perfekt - man macht schon gar keine einzelnen Stimmen mehr aus, sondern man verortet den Gesang ganz einfach bei Tears For Fears. Das Duo schöpft aus der eigenen Geschichte und steht sowohl zu seinen 80er-Wurzeln als auch zu den Eskapaden ihrer Befreiung aus den 80ern, und ebendiese Versöhnung mit allen Phasen der Bandgeschichte macht "the tipping point" zu einem Alterswerk und befreit quasi "the seeds of love" von der Last, ein Wendepunkt zu sein. Schönheit und Anmut dieser Musik sind wohl das Ergebnis einer langjährigen Frage, wie Popmusik sein kann.


Kein Rauhbein, kein Riff

Bryan Adams behauptet, ein Album gemacht zu haben

Bildschirmfoto 2022-03-14 um 16.53.35Die neue Platte von Bryan Adams ist mutmasslich als post-corona-Veröffentlichung geplant und gemeint gewesen - sie heißt jedenfalls „So Happy It Hurts“. Irgendwie passt der Titel jetzt nicht mehr so richtig in die europäische Popkulturlandschaft, aber das nur nebenbei - der happy Poprock jedenfalls, den der notorisch heisere Fotograf auf diesem neuen Album zelebriert, ist im Grunde genommen wirklich so happy, dass es wehtut. Aber auch so überraschungslos, dass nichts wehtut. Im Grunde genommen ist das ein Rock-Album ohne Rock, es behauptet Riffs, Rauhbeinigkeit und Rebellion, aber zu keiner Sekunde kommen Riffs, Rauhbeinigkeit und Rebellion irgendwo an. Adams, mittlerweile auch ein veritabler Fotograf, macht Rock wie für ein Fashionmagazin, aber nun  gut: Seit je her gibt es für diese Art Musik durchaus einen Markt. Man fragt sich nur, wie irgendein:e Musiker:in damit zufrieden sein kann, wenn auf einer Platte von immerhin 45 Minuten Länge wirklich nichts in irgendeiner Form originell klingt. Und ich frage mich, warum ich mich damit überhaupt beschäftige.


Zeitgeistige Verhaltenstherapie in Eierkarton-gedämmten Probenkellern

Drei Bands mit deutschen Texten in den Pop-Startblöcken

Bildschirmfoto 2022-03-04 um 11.47.38Bei der Band „Verhaltenstherapie“ weiß man erst mal nicht so recht, wozu man geladen ist. Bei dem Namen erwartet man eine Indie-Band mit Postpunk, wenn nicht gar ohne die Vorsilbe Post, aber das stimmt dann so gar nicht. „Verhaltenstherapie“ machen elektrischen Indiepop, und dahinter steckt ganz offensichtlich auch keine Band - sondern eine Einzelperson, der Schauspieler, Regisseur und eben Musiker Gordon Kämmerer. Sein Popentwurf schwirrt irgendwo in der Nähe von NDW mit absichtlich billigen Hip-Hop-Beats, spleenigen Texten und in seinen Videos auch einigen visuellen 80er-Remiszenzen - wenngleich mir Kämmerer, kaum 30 Jahre alt, jetzt natürlich hinterher rufen könnte: „He? Achtziger? Ok Boomer.“ Sein neuer, erst zweiter Song jedenfalls heißt „alte Liebe“ und wirft mal wieder die gute alte Frage auf, die Pop an sich immer gut tut: Wie zur Hölle ist das gemeint? „Wo mein Herz mal war, ist nun ein schwarzes Loch. Alles zieht hinein, Leere herrscht im Kopf. Still liegt die Luft und eisern dröhnt die Zeit. Kein Licht mehr da. Für gar nichts mehr bereit.“  - diesen Refrain könnte man fast in Duktus eines Schlagers singen, aber das Soundbett und die Art und Weise, wie das bei „Verhaltenstherapie“ gesungen wird, hat so gar nichts Inbrünstiges - eher schon eine provokative Beiläufigkeit, mit der die milleniale psychische Rückbesinnung konterkariert wird. Man weiß also nicht, wohin man geladen ist, aber freut sich durchaus, zur „Verhaltenstherapie“ eingeladen zu sein. 

Bildschirmfoto 2022-03-04 um 12.04.02„Florian Paul & Die Kapelle der letzten Hoffnung“ ist Deutschpop mit  bratzigen Bläsern - diese Band ist wunderbar und klingt nach „Element Of Crime“, aber jünger, nach Max Raabe vielleicht, nur rockiger, nach „Faber“ nur ohne Wien - die kürzlich erschienene Single „Zeitgeist“ mit der Bildschirmfoto 2022-03-04 um 12.20.43Eröffnungszeile „Warum bauen die ihr scheiss Parkhaus direkt vor meinem Fenster“, dem Refrain „Mach’s gut lieber Zeitgeist, du hast mich enttäuscht“ und einem mitreissendem Trompeten-Solo ist herrlich - die würde man gerne mal live sehen. Aber auch zum Kochen taugt das gut. Und meine Tochter kann es auch schon mitsingen - was will man mehr?

Die Formation „4 Stock“ ist ein wenig klassischer in ihrem Popentwurf - aber nicht minder sympathisch. In den drei Liedern ihrer aktuellen EP „höhere Gewalt“ verquirlen sich Gitarrenpop, Reggae-Rhytmen, fluffiger Rock, Ska-Bläser aus der Ferne, WahWah-Riffs, Funk-Prisen und zeitlos sozialkritische Texte alter Schule zu einem OK-boomigen, sorry Wortspiel, Rocktail - oh Gott, noch eines. Wobei hier eine Band am Werk zu sein scheint, die diesen Namen noch verdient: "4. Stock" klingen, als hätten sie den klassischen Band-Keller mit Bierkästen und Eierkartons in den Knochen, als hätten sie sich in unzähligen Kneipen, Sälen und Festivals die Finger wund gespielt, wie immer man das nach zwei Jahren Pandemie hinbekommt - um so schöner also, dass es noch solche Bands gibt: „Die Propheten haben gelogen, und jetzt irren wir durch Zeit und Raum. Die Propheten haben gelogen, der Trip ist aus, aus ist der Traum.“ 

Links:

< bandcamp Verhaltenstherapie > / < Website Florian Paul > / < Website 4. Stock >