Liebe Freunde des Poptickers,
aus aktuellem Anlass (baldiger Beginn der Songwahl zur Titelverteidigung von Lena beim Eurovision Songcontest 2011, sowie das in den letzten Tagen grosse Interesse an Lena in meinem Blog) habe ich nun einmal sämtliche Lena-Texte von der alten Homepage www.popticker.de auf der Blogseite hier eingepflegt, um sie durch Suche und Kategorie zugänglich zu machen. Dieses Spezial geht chronologisch vor, das heisst, es beginnt mit der zweiten USFO-Show (Asche auf mein Haupt, die erste verpasst zu haben) und geht bis zu Lenas Triumph in Oslo. Allen, die die Texte noch nicht kennen, oder die sie mit Abstand gar noch einmal lesen wollen, wünsche ich viel Spass, allen, die den Namen Lena nicht mehr hören können (habe diesbezüglich schon entnervte Lesermails erhalten), bleibt mir nur zu warnen, dieses Spezial nicht zu lesen.
Gruss David Gieselmann
zur dritten Ausscheidungsshow vom 16.02.2010 (Hinweis: Die ersten beiden, eine davon mit Lena Meyer-Landrut, hat der Popticker nicht behandelt)
Meet el Presidente
Die Geschichte der Binnenironie in der Popmusik anhand der Reibungskräfte zwischen Stefan Raab und dem Grand Prix sowie die grandiose Lena Meyer-Landrut
Stefan Raab und der Grand Prix ist inzwischen ein Buch mit einigen Kapiteln. Einst als Underdog mit der ironischen Brechstange „Wadde hadde Dudde da“ das damalige Procedere einer an sich ernst gemeinten Suche nach einem Titel, der Deutschland beim Songcontest vertreten könnte, erfolgreich durchlaufen, komponierte er dann dem Master of the „Wie ist das gemeint?“-Ceremony Guildo Horn die international verständliche Zwischenstufe der Parodie auf dem Weg zum Ernst „Guildo hat Euch lieb“, um sich dann selber auf die Suche zu machen und den gefundenen Max Mutzke wiederum als reine Formsache durch den ARD Vorentscheid zu schleusen, hat Stefan Raab nun selber und alleine dass Zepter in der Hand und sucht mit Spass am Ernst „Unseren Star für Oslo“ in einer Castingshow, die derzeit noch auf PRO 7 läuft, deren Halbfinale und Finale dann aber auf der ARD gesendet werden. Gestern waren noch die castingshow-magischen Zehn übrig, von denen zwei rausflogen, in der ARD übernächste Woche werden es dann noch sechs sein.
Stefan Raab, von seinen Moderatoren als El Presidente der Jury bezeichnet, gibt sich sichtlich Mühe mit professioneller Euphorie den KandidatInnen Tips zu geben, ohne sie zu lobhudeln oder zu demütigen, er nennt sie in offenbar abgesprochener Sprachregelung Künstler und lässt ihnen freie Hand in der Songwahl, bis dann am Ende im Finale nicht nur der Star für Oslo vom Publikum gewählt wird, sondern auch das Lied, das die Siegerin oder der Sieger in Oslo für Deutschland singen wird. Seine zehn gestrigen KandidatInnen hoben sich grösstenteils schon deutlich vom Karaoke-Einheitsbrei sonstiger Castingformate ab, dennoch geht es auch hier um Leistungsprinzipien, welche Videospiele á la Rockguitar World und Castingshows inzwischen in der Popmusik etabliert haben. Tonsicherheit ist beispielsweise ein Leistung, ebenso wie Timing, Spontanität und Präsenz. Der Versuch einer Objektivierung etwas so Subjektiven wie Popmusik funktioniert natürlich auch nur über solche Prämissen, und so sehr es den meisten Teilnehmern gestern auch gelang, eigenständige Versionen mehr oder minder bekannter Lieder mit der versierten Band auf die Beine zu stellen, so sehr waren selbst die Sympathischsten unter ihnen der Versuchung erlegen, genannten Prämissen zu genügen, anstatt sich auf sich selber zu verlassen.
Mit einer Ausnahme: Lena Meyer-Landrut hatte am Morgen noch Abiklausur geschrieben und trat mit zwei nachtmittäglichen Bandproben auf. Sie sang ein rhythmisches Ungetüm vom Popsong, das sperrige, teils elektropopigge, teils an an die Sixties erinnernde „Diamond Dave“, für das andere wohl schon drei bis vier Tage hätten proben müssen. Das Lied stammt von der Formation „the bird and the bee“, die mit ihrem Entwurf von Popmusik sozusagen ein eigenes Genre des „60s Electro-Pop“ erfunden haben. Hinter der Band stecken die Sängerin Inara George und der Multi-Instrumentalist Greg Kurstin. Letzterer ist auch Produzent des letzten Lily Allen Albums und einiger Chartshits, und „the bird and the bee“ ist sozusagen seine intellektuelle Popspielwiese mit einer Musik, die vor Verweisen und Zitaten nur so strotzt und trotzdem locker-flockig durch die Boxen tropft. Lena Meyer-Landrut nun sang sich derart charmant durch das zunächst vollkommen uneinheitlich erscheinende „Diamond Dave“, dass sie es schaffte den Song mit ihrer Interpretation und ihrem Lena-Sein zu binden. Stefan Raab sagte: „Hin und wieder ist mal ein falscher Ton dabei, der aber von mir so eingeschätzt wird, dass er zur Interpretation gehört.“ - dem kam man sich nur anschliessen. Die 18-Jährige war damit die einzige Kandidatin, die in keinster Weise irgendetwas kopierte und nur ein wenig pastete, sie sang als die, die sie ist, und sie ist die erste Kandidatin einer Castingshow überhaupt, von der man mit einigem Grund annehmen könnte, dass sie einmal Popstar wird: Chapeau. Der Popticker ist Fan.
auch zur dritten Ausscheidungsshow vom 16.02.2010
Poppelings Pop-Potential
Der Popticker im Interview mit dem ehemaligen Popbeauftragten der rot-grünen Bundesregierung und inoffiziellen Grand Prix-Experten Dietmar Poppeling über die Show „Unser Star für Oslo“ und seine Favoritin Lena Meyer-Landrut
Herr Poppeling, Sie verfolgen auch die Shows „Unser Star für Oslo“ - Sie als alter Grand Prix-Hase: Wer von den KandidatInnen hätte denn Ihrer Ansicht nach in Oslo eine Chance?
Diese Frage muss man wohl leider mit „Keiner“ beantworten. Ich sehe in dem Teilnehmerfeld niemanden, dem ich eine Chance ganz vorne einräumen würde, aber diese Fragestellung ist vielleicht schon verkehrt. Man muss sich nicht fragen, wer eine Chance hat, sonder man muss sich fragen, wen man da hin schicken will, wen man als deutschen Beitrag nicht peinlich fände. Wir haben genug von irgendwelchen Oskars, die angeblich singen und Ciceros, die angeblich swingen, wir wollen jemanden beim Grand Prix haben, den wir irgendwie mögen, und da sehe ich schon eher eine Chance, dass Stefan Raab das gelingen könnte.
Wen fänden Sie in Oslo nicht peinlich?
Lena, ganz klar, Ihr Auftritt vom vergangenen Dienstag war ein grosser Popmoment 2010, Ihre Interpretation dieses Elektrosixties-Songs hat das ursprünglich von Bird and the Bee entwickelte Genre zum Leuchten gebracht. Es war ein ganz und gar unironisches, augenzwinkerndes Wirken vom Pop, Stefan Raab kann sich schon jetzt auf die Schulter klopfen, der Idee eines Popcastings einen solchen Moment abgerungen zu haben. Es war schlicht und von charmanter Grösse, es war kein Karaoke sondern ein tatsächliches Cover eines Popsongs, und diese Lena, ob sie nun gewinnen wird oder nicht, wird, da schliess ich mich dem Popticker an, vielleicht wirklich ein Popstar. Man kann nur hoffen, dass sie nun nicht gesagt bekommt, sie solle an sich glauben und diesen ganzen Popsermon, den all die Bohlens und Dee!s erfunden haben.
Wären nicht Sie ein guter Berater oder Manager für jemanden wie Lena Meyer-Landrut?
Dazu bin ich mittlerweile zu alt, sicher habe ich noch meine Kontakte, aber das müsste jemand anders machen. Ich kann aus der Ferne nur so viel sagen: Lena Meyer-Landrut braucht einen wirklich versierten Songschreiber, wenn sie das nicht sogar selber kann, was ich allerdings nicht glaube. Sie bräuchte jemanden, der ihr Songs schreiben könnte, für die sie sich so begeistern kann, wie für die, die sie sich bislang selber ausgesucht hat. Jemanden mit Fingerspitzengefühl für Ihre Art zu singen und nicht zu singen.
Wer könnte das sein?
Mir fallen eigentlich nur zwei ein: Guy Chambers, der könnte das. Er hat Robbie Williams und Kylie Minogue erfunden oder neu erfunden, und er würde ihr sicher tolle Lieder schreiben. Wie gesagt: Wenn sie es nicht sogar selber könnte, früher oder später. Und es gäbe noch Linda Perry, die für sich selber eigentlich nur ein tolles Lied geschrieben hat, „What‘s up?“, die aber für andere immer wieder super Songs erfindet, Celine Dion, Pink, Christina Aguilera, Gwen Stefani - und so weiter. Die wäre auch richtig.
Halten Sie das für realistisch?
Wenn man es schaffen könnte, dass Guy oder Linda sich dieses Video ansehen könnten, wie Lena „Diamond Dave“ singt, warum nicht?
Und wie schafft man das?
Ich habe Guy Chambers längst den Link geschickt.
Wir hören dann spätestens am Tag nach dem Grand Prix von Ihnen hier im Popticker? Im traditionellen Songcontest-Interview?
Aber sicher doch. Vielleicht auch schon nach dem USFO-Finale am 12. März.
zur vierten Ausscheidungsshow vom 23.02.2010
Der verschwundene oder überwundene Naivitätsverlust
Dietmar Poppeling und David Gieselmann plaudern bei Chardonnay und Käsekuchen über die gestrige Show „Unser Star für Oslo“
Herr Gieselmann, es ist ja nun kein Geheimnis: Wir beide sind Fans von Lena Meyer-Landrut - wie fanden Sie sie gestern?
Herr Poppeling, Sie wissen doch, wir duzen uns.
Ach ja?
So weit ich mich erinnere.
Wie fandest Du also Lena?
Was soll man schon sagen: Sie war bezaubernd, sie war wieder mit Abstand die Beste. Nun mag schon der ein oder andere einwenden: Kate Nash mit ihrer Art zu singen ist jetzt nicht so abwegig und, und so war das in einem Lena Meyer-Landrut-System eine relativ sichere Bank.
Warum sind wir eigentlich nicht auf Kate Nash gekommen? Dass Sie das singen sollte.
Das ist eine gute Frage.
Ich muss aber schon widersprechen: Diesen Auftritt eine sichere Bank zu nennen, geht mir zu weit, denn es ist wieder so gewesen, dass sie das Lied in seiner scheinbaren Popuntauglichkeit wieder zu ihrem gemacht, und dass sie dabei dieselbe Strategie hatte wie Kate Nash selber, lasse ich als Einschränkung nicht gelten.
Ich auch nicht.
Meine Befürchtung für diese Sendung war eher, dass wir Zeugen eines Naivitätsverlust hätten werden können, weil Lena so oft gehört hat, dass sie einzigartig sei, dass sie es jetzt nicht gewesen wäre. Eingetreten ist das genaue Gegenteil: Sie setzt, was sie kann, offenbar schon bewusster ein, als vorher, oder sie tat es schon immer bewusster, als uns bewusst war, aber jedenfalls hat es ihrer lockeren Art nicht geschadet, im Gegenteil.
Das ist auch mein Eindruck, Dietmar: Sie weiss, was sie kann, und vielleicht haben wir sie alle für naiver gehalten, als sie ist, und so konnten wir auch gar nicht Zeugen eines Naivitätsverlustes werden, oder sie hat nach dem Naivitätsverlust auch schon dessen Überwindung gemeistert - also die Naivitätsverlustsüberwindung.
Kann Lena Meyer-Landrut gut singen?
Dietmar, Sie wissen so gut wie ich, dass das nicht wirklich ein Kriterium ist. Lena nähert sich den Liedern, die sie singt, eher über den Text als über die musikalischen Prämissen. Das macht sie zur einzigen Kandidatin, bei der man das Gefühl hat, sie weiss, was sie da singt, weil sie weiss, warum sie die Lieder liebt, die sie singt. Und ihr Englisch ist ja fast so toll wie das von Kate Nash. Das hat auch Stefan Raab gesagt, dem man erneut anmerkte, dass Lena auch seine Favoritin ist.
Um Himmels Willen, Herr Gieselmann, wir sind ja totale Fans.
Ganz klar.
Wir fandest du die anderen?
Das Ausscheiden von Cyril war überraschend aber doch angemessen: Wer U2 singt, muss gehen. Hätte er Bryan Adams gesungen oder Bon Jovi - wie von Sasha vorgeschlagen-, hätte das Gleiche gegolten. Wie fanden Sie die andere ausgeschiedene Kandidatin, Kathrin?
Kathrin ist eigentlich durch das fette Brot König Boris und seine Aussage der letzten Woche, er wolle von ihr mal Arschbombe sehen, aus dem Wettbewerb gekickt worden: Sie hat der Arschbombe nicht stand gehalten. Wir mochten beide Kerstin nicht so gern, was ist zu ihr zu sagen?
Sie war, das müssen wir beide zugeben, Dietmar, wirklich gut dieses Mal, sie ist zurecht weiter.
Ja, absolut. Alanis Morrisette mag man für ein wenig anachronistisch halten, aber das Lied ist schwer zu singen, und sie hat es gut gemacht.
Wer kommt ins Finale?
Lena und Durstewitz.
Dursti, ja. Sein Lied war schon Versatzstückpop, aber er kann singen, und wieder hatte König Boris Recht, als er letzte Woche sagte: „Wenn ich denke, sonne Flitzpiepe wie Du fährt für uns nach Oslo, da wird mir persönlich warm um‘s Herz!“ Wer gewinnt?
Lena, ganz klar. Alles andere wäre absurd.
Du hast Recht, Poppeling, sie MUSS gewinnen.
zur fünften Ausscheidungsshow vom 02.003.2010
Der Rockpopspagat mit Durst und Witz
Dietmar Poppeling sprechen bei Mohnkuchen und Shiraz über „Unser Star für Oslo“
Herr Gieselmann, ich habe mit Bestürzung fest gestellt, daß Sie die Woche über nichts in Ihrem Popticker geschrieben haben. Was ist da los?
Das ist derzeit ein rein zeitliches Problem.
Sie wissen ja, daß an Ihrem Popblog Arbeitsplätze hängen.
Das ist sicherlich übertrieben. Ich habe übrigens fest gestellt, daß Sie nun auf Facebook aktiv sind.
Fraglos. Ihr Blog ist jetzt also kein Popticker mehr sondern ein „Unser Star für Oslo“-Ticker oder auch ein Lena Meyer-Landrut-Ticker.
Kann man derzeit so sagen, aber das ist ja nicht das Schlimmste. Lassen Sie uns heute mit aber Christan Durstewitz beginnen.
Gerne.
Er sang gestern Mando Diaos „Dance with somebody“.
Das war eine gute Wahl, auch wenn ich Mando Diaos Rockgehabe nicht leiden kann, wo sie in in Wirklichkeit astreinen, glasklaren, Bubblegumpop machen wollen. Man könnte sagen, Christian Durstewitz ist in diesem Rockpopspagat authentischer als Mando Diao selber.
Er hat einen sympathischen, global-provinziellen Rockrotz, und er war der einzige gestern, bei dem ich nicht ein Sekunde zweifelte, daß er weiter kommen würde.
Bei Lena waren Sie sich unsicher, Herr Gieselmann?
Nun, wer sie nicht schon grossartig fand, gestern, dem ist sie vielleicht gar nicht sooo positiv aufgefallen. Sie hat am Ehesten gesungen - und zwar das das bislang normalste Lied, seit sie dabei ist, und ihr Charme kam nicht so uneingeschränkt zur Geltung wie sonst.
Trotzdem war an Ihrem Weiterkommen nicht zu zweifeln, es war vielleicht ihr schwächster Auftritt, ja, aber sie war trotzdem die Beste, was nicht gerade für die anderen spricht. Sie haben sicher die zweite Linie in Lenas Songasuwahl erkannt - neben der Tatsache, daß sie die Lieder, die sie singt, liebt?
Soll das jetzt ein Quiz werden, Herr Poppeling?
Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber das muss man schon wissen.
Es waren bislang alles britische Popsongs, danke Herr Poppeling. Wobei ich sagen muss, daß ich weder ihr gestriges Lied, „New Shoes“, noch dessen Originalinterpreten, Paolo Nutini, kannte, es war Lena erstes Lied, das mir nicht bekannt war.
Nutini muss man nicht kennen, wenngleich ich ihn kenne, persönlich. Und Sie hören „Bird and the Bee“?
Ja, und ich muss jetzt schon mal sagen: Daß Stefan Raab das nicht kennt und offenbar auch nicht Regina Spector, das spricht nach vielem, was für ihn spricht, nun wirklich gegen ihn.
Da gebe ich Ihnen recht.
Wie fanden Sie Kerstin, die gestern Regina Spector sang?
Ich fand gestern alle schwach, ausser Lena und Durstewitz. Kerstin hatte nicht die Interpretationskraft, einen so zerklüfteten Spector-Song wie „Better“ in eine Form zu bringen, Leon hat sich keinen Gefallen getan, Clapton zu singen, Jeniffer blieb in „Ain‘t nobody“ stecken, und Sharyhans eigener Song, der angeblich von London handelte, war textlich und melodisch eine Katastrophe. Was ihr zumindest, was den Text anbelangt, zum Glück auch Joy Denalane unter die Nase rieb. Alles in allem sind alle schwächer geworden, während Lena und Dursti konstant blieben, die beiden, wir haben das auch letzte Woche schon gesagt, müssen ins Finale. Geben Sie uns auch einen kurzen Überblick über die restlichen Kandidaten?
Ich schliesse mich da an, ich fand Sharyhan eines Viertelfinales nicht würdig, Jeniffer Braun war unter ihren Möglichkeiten, Leon war irgendwie fade, bei Kerstin habe ich inzwischen schon meine Meinung ein wenig revidiert, aber sie blieb mit dem Lied gestern nicht hängen, das ist absolut richtig.
Muss man Lena wünschen, daß sie gewinnt, oder daß sie Zweite wird?
Sie wird gewinnen, und das muss man ihr auch wünschen und gönnen.
Ich tippe eher auf Durstewitz.
Unser Star für Oslo - der Popticker gibt einen Überblick über die HalbfinalistInnen
Das Casting von Stefan Raab, „Unser Star für Oslo“, geht auf die Zielgrade: Heute ist das Halbfinale, bei dem von den vier verbleibenden KandidatInnen noch zwei ausscheiden, am kommenden Freitag dann das Finale, bei dem nicht nur der Sieger gekürt sondern auch das Lied gewählt wird, welches die Siegerin oder Dursti in Oslo zum Besten geben werden. Der Popticker, als bekennender Grand-Prix-Fan einerseits und als ebenso bekennender Lena Meyer-Landrut-Fan andererseits, gibt heute noch mal einen Überblick über die vier restlichen KandidatInnen - für Einsteiger eine Einstiegshilfe, für Profis ein Backup.
Kerstin Freking
… ist die engels- oder elfengleiche Kandidatin - zumindest wird sie so häufig beschrieben. Stefan Raab begeistert sich vor allem für ihre vibratofreie Tonsicherheit: Ihre tatsächlich glasklare Stimme geht direkt auf die Töne, ohne um sie herum zu schwingen und vibrieren. Ihre Songauswahl ist einerseits relativ eigenwillig und andererseits ein wenig eintönig: Getragene Lieder mit leichtem Pathos, ein rechter Kracher war bislang nicht dabei - und würde für sie auch nicht passen. Ihre Interpretationspotential aus den Songs etwas eigenes zu formen, ist in den Augen des Poptickers nicht all zu hoch einzuschätzen. Kerstin hat ihre Fans, und mit ihrem bislang bestem Song, „thank you“ von Alanis Morrisette hat sie durchaus eine gewisse Grösse bewiesen. Trotzdem lautet die Prognose des Poptickers, daß sie heute eher ausscheiden wird.
Christian Durstewitz
… der Hahn im Korb. Die von fettem Brot König Boris titulierte Flitzpiepe ist ein astrein hessischer Regionalrocker, ein Original aus einem Kaff in Hessen. Stefan Raab schätzt seine „Abgewichstheit“ und meint damit, er könnte auch der uneheliche Sohn von Lenny Kravitz sein. Dursti präsentierte bislang meist tanzbare Gassenhauer und zwei getragenere Songs von sich selbst. Dursti hat sicherlich genug Fans und genügend Flitzpiepenprofessionalität, um ins Finale einzuziehen.
Lena Meyer-Landrut
… gilt als Favoritin, und ist auch die absolute Favoritin des Poptickers. Ihre Version von „Diamond Dave“ war für Dietmar Poppeling bereits ein grosser Popmoment 2010. Ein paar wesentliche Punkte haben Lena so weit gebracht und werden sie vielleicht auch nach Oslo bringen: Ihr unbestreitbarer Charme, auf der Bühne immer wieder über sich selber zu lächeln und die Zuschauer dazu zu bringen, mit zu lächeln; ihr eigenwilliger, höchst britischer Musikgeschmack und ihr perfektes britisches Englisch; ihre Interpretationskraft, aus den Songs etwas eigenes zu formen; ihre Sicherheit in der ersten Strophe, ein nicht unwesentlicher Punkt: Gerade in den ersten Zeilen schwächelten viele von Raabs KandidatInnen wegen Aufregung, Lena ist immer gleich auf dem Punkt und ihre Unsicherheit kommt eher später, was man dann der Songdramaturgie zuordnen kann.
Jeniffer Braun
… die Jüngste, ist Sängerin einer Coverband, und das ist ihr grosser Vor- wie Nachteil. Einerseits verfügt sie über die Kraft, sich mit der Band von Songs treiben zu lassen, andererseits sind ihre Darbietungen dann auch immer die einer Coverband: Sie reproduziert Lieder adäquat, ohne ihnen etwas wirklich Eigenes abzuringen. Sie sang bislang schmissige Rocksongs, den sie stimmlich eigentlich schon gewachsen ist, aber so richtig kommt sie auch nicht aus sich heraus, und der Popticker schätzt eher, daß Jeniffer heute ausscheiden wird.
zur siebten Ausscheidungsshow (Halbfinale) vom 09.03.2010
Sportive Züge
Dietmar Poppeling und David Gieselmann machen bei Prosecco und Lemon-Basilikum-Tarte ein paar Andeutungen zum Halbfinale von „Unser Star für Oslo“
Herr Gieselmann, gestern, zweite Runde hätten wir uns nicht beschweren können, wenn Lena rausgeflogen wäre, sehen Sie das ähnlich?
Ein Paukenschlag, ich sehe das ähnlich: Lenas „Love Cats“ waren ziemlich nervös, und Durstewitz hat sich mit Verve und Professionalität nach dem Rumgestehe und dem Ausscheiden von Kerstin in die zweite Runde geworfen: Sein „In your hands“ dann war super und sein bislang bester Auftritt, das hatte Schmiss und Dreck, Rock-Virtuosisät, die Band hatte Spass, und die Harp kam klasse. Daß es ihn dann erwischte war dann der Paukenschlag, ich hab das angedeutet.
Ja sind Sie jetzt Sportschaumoderator und behaupten jetzt Dinge, angedeutet zu haben, die Sie …
Lena hatte dann eben genug Credits aus den früheren Shows und vor allem durch ihren grossen Auftritt in der ersten Runde.
Da haben Sie Recht, Sie haben das angedeutet.
Eine Ballade von Lena, sie hat Ihnen auch gefallen?
Absolut, ich glaube, das hat vielleicht die letzten Zweifler auch überzeugt, daß Lena Meyer-Landrut wirklich ein riesiges Talent, Poplieder zu singen, auch traurige.
Sie sagen es, wie gefiel Ihnen Jeniffer Braun gestern?
Die Show hatte ja dann wirklich sportive Züge, und in Runde zwei ist es Dursti und eben auch Jeniffer deutlich leichter gefallen, wieder zum Singen überzugehen: Frau Braun hat sich für die letzten Meter berappelt, und ihr Aguilera-Song …
„Hurt“!
… „Hurt“, sicher, Sie haben das, Herr Gieselmann, angedeutet, war wirklich gut.
Zurecht im Finale?
Ich hätte gerne das Finale Lena / Dursti gesehen, aber wer Dursti schlägt, kann auch Lena schlagen, deswegen sehe ich die Chancen nun bei 50 zu 50. Zumal man nicht weiss, mit was für Liedern Raab nun am Freitag ankommen wird, und ob die auch auf Lena passen. Jeniffer kann schon auch eher ein Lied singen, das nicht für sie passt, was ja auch eine Stärke ist.
Was für Lieder erwarten Sie denn?
Raab wird eine Bandbreite an Liedern haben, drei Songs, wenn ich das richtig verstanden habe, und man kann nur hoffen, daß es ein wenig über den Jazzfolk hinaus geht, den er bislang für Stefanie Heinzmann und Max Mutzke geschrieben hat, denn dieser Stil passt weder für Jeniffer noch für Lena. Was erwarten denn Sie, oder hatten Sie schon Andeutungen gemacht?
Bislang ist völlig offen, was uns für Songs erwarten, aber es ich gebe Ihnen Recht, daß wahrscheinlich, wie Sie das angedeutet haben, verschiedene Song-Genres abgedeckt werden sollen, und daß es durchaus Lieder sein werden, die jetzt nicht völlig Lena und Jeniffer entgegen stehen.
Wer wird gewinnen, sehen Sie es auch bei 50 zu 50?
Wie Sie andeuteten? Nein, ich sehe schon noch kleine Vorteile bei Lena, ich würde sagen, ich hab das angedeutet, zirka 63 zu 37. Klasse Tarte übrigens, vielleicht ein wenig früh für Basilikum.
zum Tag des Finales am 12.03.2010
Heavy Tones‘ Arrangement-Kanon
Zum heutigen Finale von „Unser Star für Oslo“ ein kleines Resumee des Poptickers
Die Heavy Tones haben sechs arbeitsreiche Woche hinter sich. Die Band, die normalerweise in „TV total“ ihren Arbeitsalltag verrichtet, hat in sieben Shows von „Unser Star für Oslo“ mit anfangs 20 KandidatInnen, von denen nun noch 10% übrig sind, insgesamt 61 Songs einstudiert, für die sie teils eine Woche, teils drei Tage proben konnten. Für eigentlich alle 61 ist ihnen ein Arrangement geglückt, das den jeweiligen Song für den jeweiligen Kandidaten griffig machte und ihn in ein musiziertes Bett übersetzte, das sich mit wenigen Ausnahmen von dem sonst in Castingshows üblichem Karaoke-Playback abhob und sich an den interpretatorischen Ansätzen der SängerInnen, so vorhanden, orientierte. Anders als bei der Jury hörte man in den Bemühungen der Band nicht im Unterton heraus, ob ihnen der Kandidat nun wirklich zusagte oder nicht, und wenngleich der Stil der Heavy Tones insgesamt den Arrangement-Kanon einer Live-Pop-Band repräsentieren mag, so muss man doch ein ungeheures Lob zollen, sich in allen Stilen der Popmusik virtuos bewegt zu haben und so manchem Lied überraschende Akzentuierungen abgerungen zu haben - vor allem durch die Tatsache, für die Bläser immer ein Nische in den Arrangements zu finden, wenn man sie in den eigentlichen Songs auch nicht vermutet hätte.
Überhaupt hat Stefan Raab mit seiner Suche relativ viel richtig und relativ wenig falsch gemacht, und er wird heute Abend mit Sicherheit eine Sängerin als Gewinnerin haben, für die man sich in Oslo nicht schämen wird. Es hat sich allerdings, selbst wenn man Fan ist, eine gewisse Überdosis eingestellt, die man nicht zuletzt an der Anzahl der 61 einstudierten Lieder ablesen kann. Zwei bis drei Shows weniger hätten es sicher auch getan, und eine Jury, die hin und wieder einmal wirkliche Kritik gewagt hätte, wäre pfiffiger gewesen. Das etwas überambitionierte Procedere und die angenehme Übereinkunft, die KandidatInnen als KünsterInnen anzusehen und anzusprechen, stand manches Mal in krassem Gegensatz zur Lobhudelei des Jury-Vorsitzenden Raab mit seinen wechselnd professionellen Mitstreitern, von denen sich Sasha und Jan Delay durch qualifizierte und angebrachte Kritikpunkte hervor hoben. Es ist Raab allerdings hoch anzurechnen, daß er sämtliche BewerberInnen vor dem Boulevard schützte und sie ausschliesslich als MusikerInnen auftreten liess - eine Vorgehensweise, die vielleicht gar den grössten Unterschied zu Bohlens Castingevergreen DSDS ausmacht, wo nicht nur niemals ein Superstar gefunden wird, sondern in Wirklichkeit nach Boulevard-Frischfleisch und C-Promi Nachschub gefahndet wird.
Der teils ein wenig undurchsichtige Ablauf der jeweiligen Shows, bei denen jedes Mal vorher erklärt werden musste, wie viele nach welchen Durchlauf heraus fliegen, findet heute seinen dezent bizarren aber vielleicht auch hoch interessanten Höhepunkt, wenn die verbleibenden Jennifer und Lena zunächst zwei identische Songs singen werden, von denen dann durch die Zuschauer der für die Sängerin passendere gewählt wird - es könnte freilich für beide auch derselbe sein. Erst im zweiten Wahlgang, wenn der potentielle Song für Lena oder Jennifer in Oslo gewählt und noch mal gesungen ist, wird darüber abgestimmt, wer letztlich als Siegerin von der Bühne gehen und eben am 29. Mai in Oslo für Deutschland beim Grand Prix antreten wird. Bislang ist nicht bekannt, wer die beiden Songs geschrieben hat, vermutlich Raab selber, und inwiefern sie für die beiden KandidatInnen passend gewählt oder gar komponiert sind. Interessant könnte es eben dann werden, wenn sich die Lieder dazu eignen, den Stil der beiden doch höchst unterschiedlichen Sängerinnen sichtbar zu machen, und wenn sich die Band vielleicht sogar unterschiedliche Arrangements für die beiden erdacht hat. Während Jennifer mit furioser Stimme einen recht bodenständigen Rock repräsentiert, der sich uneigen an viele Lieder andocken kann, steht Lena im gewissen Sinne für eine Art von verspieltem, britischem Autorinnenpop, obgleich sie bislang kein Lied geschrieben hat oder zumindest noch keines in einer der Shows darbot. Angenehmer Weise ist bislang selten thematisiert worden, wer denn beim Grand Prix, der seine eigenen Gesetze hat, wohl mehr Chancen hätte. Aber wenn man denn doch einen Ausblick wagen will, so möchte man Lena, von der der Popticker bekanntermassen Fan ist, eher wünschen, sie möge vielleicht sogar mit den Heavy Tones die Chance bekommen, ihren Popentwurf mit eigenen Liedern umzusetzen, als in Oslo gut abzuschneiden, während Jennifer eher diejenige ist, die den Strapazen, mit zunächst einmal nur einem Song im Gepäck für und beim Grand Prix Furore zu machen, musikalisch eher gewachsen ist.
zum Finale vom 12.03.2010
Das hört überhaupt nicht mehr auf, alter Finne
Dietmar Poppeling und David Gieselmann plaudern bei Grauburgunder und Süsskartoffelchips mit Ingwerdipp an Zitronencarpaccio über das gestrige Finale von „Unser Star für Oslo“
Herr Gieselmann, dann fange ich heute mal mit einer Frage an: Wie lautet gut 24 Stunden nach dem Finale zum diesjährigen Deutschen Grand Prix-Vorentscheid, zum ersten Male in der Hand von Stefan Raab, zum ersten Mal organisiert von ARD und PRO7 ihr mittelfristiges Fazit.
Ich muss schon sagen, daß ich ein wenig ernüchtert bin, und das hat, wie man sich denken kann, sicher nicht mit dem Ausgang des Finales zu tun, denn Lena war die beste, wenngleich sie auf der Zielgeraden manches Mal Nerven gezeigt hat, nein, meine Ernüchterung hat mit den Liedern zu tun, die wir gestern zu hören bekamen. Da bewerben sich fast 5000 Leute, da machen zwei der grössten deutschen TV-Sender insgesamt acht Shows, da hat man eine wirklich tolle Band zur Verfügung und findet mit Hilfe des Publikums und einer wechselnd besetzen Jury ein so grosses Popmusiktalent wie Lena Meyer-Landrut, und dann stehen keine besseren Lieder zur Verfügung als diese vier Söngchen da gestern? Das ist traurig.
Sie haben vollkommen Recht, Herr Gieselmann, das ist tragisch. Also das Lied „Bee“ hatte ich schon vergessen, da lief es noch, „Satellite“, was jetzt ja der Beitrag sein wird, war bei Jeniffer eine Seifenblase von Lied, die nach 35 Sekunden zerplatzt, und bei Lena stand es ihr, na ja, zumindest nicht im Weg charmant zu sein, und wenn wir mit „I care for you“ zum Grand Prix getingelt wären, hätte man auch gleich einen europäischen Rundbrief schicken können: Hallo, wir hier in Deutschland hätten nach dem Hegemann-Skandal in der Literatur jetzt dann bitte mal eine Plagiatsdebatte mit einem Popsong, Kläger bitte vortreten, und es hätte sich sicher irgendjemand gefunden, der gesagt hätte: Könnt ihr haben, das Lied ist von mir.
Was erzählt uns das über die Popmusik im Allgemeinen und die in Deutschland oder für den Grand Prix im Speziellen?
Erst einmal natürlich erzählt es ganz banal: Man braucht neben vielen Dingen eben auch und vor allem einen guten Song. Ohne den geht‘s nicht. Stefan Raab hat ja gesagt, daß sie einen Pool von etwa 100 Songs zur Verfügung gehabt hätten, und das erzählt natürlich auch, daß es in den Musikverlagen, bei den Plattenlabels, bei den Songschreibern Datenbanken von fertigen Songs gibt, daß in diesen Datenbanken Songs lagern, bei denen man, wenn man 100 raus nimmt, nicht einen findet, der im Ansatz die Grösse und Chuzpe von einem Lied von Kate Nash, von Lily Allen oder Paolo Nutini hat. Oder zumindest in den Songdatenbanken nicht, zu denen Stefan Raab Zugang hat. Und wenn man jetzt einfach mal die genannten drei InterpretInnen zum Masstab nimmt, dann muss man sagen, daß das ja alles drei Künstler sind, die für sich selber Songs schreiben, und die auch sonst schreiben, bloggen, dichten und so weiter. Und das bestätigt Sie, Herr Gieselmann, in Ihrem Ausdruck des Autorinnenpop, da kann man, damit Nutini da auch mitzählt, das „I“ einfach mal gross schreiben. Jedenfalls kann man von auf musikalischem Wege mit Versatztexten heute keinen Staat mehr machen, keine Melodie mehr finden, die es nicht so oder anders schon mal gegeben hat. Das Schreiben von Songs muss mit dem Schreiben beginnen, der Text führt in seiner Eigenart eher zu Unerhörtem oder Ungehörtem als eine Melodie, die mir ohne Text einfällt. Die Melodien waren alle da, der Käse ist gegessen, die Sprache ist unendlich.
War das zu der Zeit, als Sie noch als Produzent aktiv waren, auch so, Herr Poppeling?
Mit diesen Datenbanken? Aber sicher. Ich kann mich zum Beispiel erinnern, daß uns damals für ZVS „torn“ angeboten wurde, den wir nicht wollten. Den wollte irgendwie niemand, und dann hat man den einem Model gegeben, das nicht singen kann, und siehe da: Das war ein Welthit, Natalie Imbruglia.
Nun stehen wir also mit einer tollen Sängerin und einem lumpigen Lied da. Unsere Chancen beim Grand Prix sind nicht gerade hoch, oder?
Das weiss man nie so genau, und darum geht es auch nicht, es geht vor allem darum, weil Raab ja so viel Gutes gemacht hat, daß man nun genau benennt, was er nicht gut gemacht hat, und das haben Sie ja eben schon gesagt: Wenn ich unter 5000 KandidatInnen eine tolle Sängerin finde aber unter 100 Songs keinen, der wirklich kickt, dann brauche ich eben eine Datenbank mit 5000 Songs, und das ist dann wohl eher keine Datenbank - sondern ein Songschreiber. Vielleicht kann Stefan Raab ja Dursti halten so wie Max Mutzke, und vielleicht kann er noch andere Leute gewinnen, wenn die sehen, wen er da in Lena gefunden hat, ich weiss es auch nicht, aber es braucht eben bessere Lieder.
Lena war natürlich hinreissend, ihre Schlussperformance, wo sie schrie „Das hört ja überhaupt nicht mehr auf!“ und „Alter Finne!“ hat auch noch mal gezeigt, daß sie, wie wir das im Theater immer sagen, auch das Telefonbuch singen könnte: Sie war so geflasht, daß das Lied dann auch keine Rolle mehr spielte. Wenn sie so durchlässig und nicht nur nur lenalässig in Oslo aufschlägt, können wir beide, Dietmar, unsere Kritik auch vergessen, denn das ist der Song fast egal. Er funktioniert ja auch, ich habe „Satellite“ heute um die sechs mal gehört, ich mag ihn allmählich.
Du hast ihn gekauft? Du hast ihn dir schön gehört.
Mag schon sein, aber Tatsache ist: Lena ist die mit Abstand beste Interpretin, die wir in den letzten Jahren beim Grand Prix hatten.
Ohne jeden Zweifel.
zur Debutplatte von Lena, erschienen am 07.05 .2010
Autorinnenpopfräuleinnotonlyonehitwunder
Gebrauchsmusik und Schubladenhüter von Hit-Think-Tanks: Das Debut-Album von Lena Meyer-Landrut deutet durchaus Potential für einen längerfristigen Popentwurf an
Vielleicht erzählt das Album von Lena Meyer-Landrut auch noch eine ganz andere Geschichte als den Triumphzug der 18jährigen Abiturientin durch ein Casting-Verfahren zum Eurovision Songcontest 2010: Die Platte ist ja auch für Stefan Raab ein Siegeszug, der nun nicht nur mit einem Stück Chartsgeschichte nach Oslo reist - sondern auch mit einer Kandidatin, deren Chancen ganz Europa zu begeistern, nicht gerade klein sind: In den britischen Wettbüros ist sie gar die Favoritin. Die Platte konnte auch deswegen so schnell fertig werden, weil sich Raab und seine Firma Brainpool Zugang zu einer Bibliothek von etwa 100 unveröffentlichten Liedern verschafft haben. Zum Finale von „Unser Star für Oslo“ suchte man bereits 5 Lieder für die beiden Finalistinnen aus, und nun speist sich teils auch Lenas erster Longplayer aus diesem Songarchiv. Es scheint also, als hätte Brainpool inzwischen eine derart funktionierende Vernetzung im Musikbusiness, daß man eben auch Zugang zu einigen Hit-Think-Tanks hat. Daß dabei wohl auch Lieder vorlagen, die zu den Schubladenhütern einiger Hitschreiber gehören mögen, stand dabei nicht im Weg, ein derart funktionierenden Gebrauchspop in wenigen Wochen zum Album zu schmieden. Zum einen schrieben Raab und Lena selber einige Lieder, zum anderen bekam man auch vom neusten Brit-Autorinnenpopfräuleinwunder Ellie Goulding das wunderbare „not following“ geschrieben, welches am meisten das Potential von Lena Meyer-Landrut, auch im Tonstudio zu überzeugen, ausschöpft.
Natürlich folgt die Platte schon zuallererst einer ökonomischen Logik, die darin besteht, den Hype um Lena nicht nur mit der Erinnerung an ihre grossartigen Auftritte im Casting, zwei Nebenliedern und ihrem tatsächlichen Grand-Prix-Hit „Satellite“ weiter anzuheizen. Aber einem Popalbum vorzuwerfen, es folge einer ökonomischen Logik, ist in etwa so sinnvoll, wie einem Film vorzuwerfen, über bewegte Bilder zu funktionieren. Die Frage, die den künstlerischen Wert eines solchen Gebrauchspops tatsächlich auslotet, ist also schlicht und ergreifend, ob man diese Platte anhört, und hier lautet meine Antwort: Ja, ich höre diese Platte seit Freitag rauf und runter und singe inzwischen selbst die mittelmässigen Lieder beim Kochen mit.
„My Cassette Player“ kann naturgemäss nicht an die Euphorie der Momente der Castingshow direkt ankoppeln, - wer zum Beispiel die Studioversion von Paolo Nutinis „New Shoes“ hört, muss zugeben, daß ihr Liveauftritt mit eben diesem Lied kaum zu toppen ist - aber der Grundsound der Platte klingt eben schon angenehm musiziert, - nicht popüberproduziert - und es gelingt in einigen Songs durchaus, einen Popentwurf anzudeuten, der mit Lena Meyer-Landrut über den derzeitigen Hype hinaus funktionieren könnte. „I like to bang my head“ besticht durch einen satten Bass und Lenas merkwürdigen Sprechstil, der hier fast Rap ist, „Caterpillar in the rain“ schmachtet sich mit seicht jazzfolkigem Augenzwinkern ins Herz und gefällt spätestens, wenn aus der Raupe eine „Kate Arpillor“ wird, was immer das sein mag, Jason Mraz‘ „Mr Curiosity“ ist selbst in der Studioversion so poprührend, daß man die ein oder andere Träne verdrückt, und der plötzliche Ska von erwähntem „Not following“ stolpert so selbstverständlich und frech durch die Boxen, so schmal und glattpopig, das allein durch diese dreieinhalb Minuten das Album seinen Preis wert ist. Alles in allem muss man Raab und Landrut also bescheinigen, in atemberaubenden Tempo ein akzeptable Platte abgeliefert zu haben, die knapp drei Wochen vor dem Grand Prix genau die Funktion zu erfüllen weiss, die ihr die Dramaturgie des Lenahypes zuweist.
Einschätzung ca. eine Woche vorm Songcontest in Oslo
Got some new Shoegaze
Was Sie kann, kann nur Popmusik: Lena Meyer-Landrut und das Prinzip des sportiven Charmes
Vielleicht war es auch ein Glück für Lena Meyer-Landrut, dass sie bei der Auswahl der Reihenfolge für die erste Folge des Stefan Raabschen Castings „Unser Star für Oslo“ als Letzte auftrat: Den ohnehin sympathischen Gesamteindruck setzte sie die Krone auf - durch eine interpretatorisch untermauerte Mitsingversion von „my same“ der wunderbaren Adele. Hier blitzte alles durch, was Lena auch später auszeichnen würde: Die spontane Euphorie in der Dramaturgie eines Liedes, die merkwürdige Art, gut nicht singen zu können, um damit überraschen zu können, singen zu können, und den merkwürdigen Tanz, den Anke Engelke so bemerkenswert fand, weil sie mit dem Publikum flirtend rückwärts geht - eine Art Lenashoegazing. Zwei Wochen später zähmte sie das eher sperrige „Diamond Dave“, wieder eine Woche danach kam „New Shoes“ von Paolo Nutini, mein Lena-Favorit, und sie unterstrich mit diesen so wie in der Folge zwei Songs von Kate Nash ihr Faible für versierten, britischen Pop. Und in den folgenden Wochen gelang ihr etwas, das man dem Format der Castingshow nicht zugetraut hätte: Sie wurde unter den der Musik eigentlich nicht zuträglichen Wettbewerbsbedingungen immer normaler auf der Bühne und trat dem Hype mit dem von Anke Engelke definierten Rückschritt entgegen. Ihr Sieg wurde so immer unvermeidlicher, und ihre unbekümmerte Art, vor der Kamera souverän zu sein, ohne eine Angriffs- oder Projektionsfläche für den Boulevard zu sein, half ihr, Abi zu machen. Zwei Tage vor dem Auftritt in Oslo steht, ob sie nun gewinnt oder nicht, fest: Was Lena Meyer-Landrut kann, kann nur Popmusik. Das in allen visuellen Zusammenfassungen ihrer Blitzkarriere eingebaute Zitat von Marius Müller-Westernhagen „Du hast Star-Appeal. Die Leute werden dich lieben“ war zwar ziemlich unsympathisch aufgesagt aber dadurch nicht weniger wahr: Lena Meyer-Landrut sang irgendwie so, dass Intellektuelle, Teenager, Popverliebte und Popstars, mittlerweile KollegInnen, sich auf sie einigen konnten.
Der Versuch eines Blitzalbums gelang funktional und dem Anlass entsprechend - konnte aber zu keiner Sekunde das euphorische Moment, den Popkairos ihrer Castingauftritte erreichen. Als sie fast das gesamte Album in einer Woche „TV total“ live vortrug, wurde die Gefahr des Lenaschen Popentwurfs überdeutlich: Unter familiären Bedingungen mit Raab und seiner Haus- und Hofband „Heavy Tones“ erreichte Lena eine Entspanntheit auf der Bühne, die leider zeitweise arg desinteressiert daher kam. Die Abwesenheit des Wettbewerbs machte sie zur Protagonistin ihrer selbst, und darin ist sie noch immer nicht all zu versiert. Sei‘s drum: Kein Mensch wird am Samstag nach dem Album und ihren TV-Auftritten fragen, und wenn es nur der Aufgabe diente, Lena jenseits von „Satellite“ im Gespräch zu bewahren, ohne ihr Privatleben auszubeuten, ist ein mediokres Album allemal besser als dumme Schlagzeilen in der menschenverachtenden BILD.
Vorgestern trug sie mal wieder „Satellite“ vor, wieder bei Raab, der samt Sendung und kleiner Bandbesetzung eine Woche aus Oslo sendet, und unterstützt wurde sie dabei von Songcontestvorjahressieger Alexander Rybak an der Geige, und hier wie auch in den im Internet einsehbaren Aufnahmen bei den Proben in Oslo konnte man sehen, dass Lena wieder mit dem Singen spielt und sogar dem immer wieder kritisierten Lied „Satellite“ noch neue Facetten und Lenasche Phrasierungen abringen kann. Kombiniert mit der Tatsache, dass auch Samstag wahrlich wieder Wettbewerb herscht, könnte das, was einige britische Wettbüros immer noch glauben, eintreten: Sie könnte gewinnen. Nicht gerade unwichtig für dieses Vorhaben ist die Frage, ob mit Türkei, Holland und Schweiz hoffentlich heute Abend drei Punktgaranten für deutsche Beiträge ins Finale einziehen, die nur dann auch stimmberechtigt sind. Bei Türkei muss man sich da keine Sorgen machen, aber Holland und Schweiz haben leider Beiträge im Wettbewerb, die man kamikazehaft bezeichnen muss.
Gesetzesbinsen oder von der Kunst, vergessen werden zu können ohne zu scheitern
Das erste Halbfinale des Eurovision Songcontest 2010 am 25.05.2010
Es ist eine Binsenweisheit, dass der Eurovision Songcontest - für viele noch immer der „Grand Prix“ - seine eigenen Gesetze hat. Adäquat etwa zum DFB-Pokal beim Fussball, von dem man dasselbe sagt und, bei dem man somit auch oft Sätze bemühen muss wie: „So ist das eben beim DFB-Pokal!“. Der eurovisionäre Liederwettstreit ist ist in diesem Sinne denn auch gleich doppelbinsig, denn seine Mischung aus Pop, Liedern, Performance und Europameisterschaft ist ja einzigartig, und etwas Einzigartiges hat natürlich seine eigenen Gesetze. Selbst ausgewiesene Experten können schwer voraus sagen, wer gewinnen wird, oder wer wie gestern beim ersten Halbfinale 2010 eben ins Finale einzieht, und so wagt auch Jan Feddersen in seinem neustem Buch „Wunder gibt es immer Wieder“ auch nicht, eine Formel für den Erfolg aufzustellen, er benennt gerade einmal ein paar wenige statistische Wahrscheinlichkeiten wie zum Beispiel die, dass es durchaus von Vorteil sein kann, wenn das teilnehmende Lied eine internationale, lautmalerische Qualität hat und zum Beispiel „La La La“, „Ring a Ding Dong“ heisst - oder wie in diesem Jahr das Lied aus Aserbeidschan „Drip Drop“, dem nicht zuletzt deswegen Chancen auf den Gesamtsieg eingeräumt werden; oder das gestern ins Finale eingezogene „OPA!“, dessen griechischer Sänger schon einmal einen Song für Griechenland komponierte, der nicht „OPA!“ hiess - sondern „OPA! OPA!“ - also nicht „Auf geht‘s, Jungs!“ sondern „ Auf geht‘s, Jungs! Auf geht‘s, Jungs!“. Das sind dann eben solche eigenen Gesetze.
Gestern war dann also zu beobachten, dass Lieder, die nicht wehtaten, weil sie weder gut noch schlecht waren, den Einzug ins Finale schafften, obwohl man doch eigentlich sagen müsste, dass, wer nicht auffällt, damit schon den schwersten Fehler begangen haben mag. Und so finden sich also nun Lieder im Finale wieder, die man bis Samstag schon wieder vergessen haben wird, die man eigentlich zum Schnelldurchlauf schon wieder vergessen hatte, und vielleicht ist dann das auch schon wieder ein eigenes Gesetz, dass man es mit Liedern schaffen kann, an die man sich nur erinnert, weil man im Schnelldurchlauf noch mal daran erinnert wird: Die Kunst, vergessen werden zu können, ohne zu scheitern. Klassisch im Gedächtnis blieb mir persönlich der belgische Beitrag eines Sängers mit Gitarre: Tim Dice mit dem dem Anlass entsprechend funktionalem „Me and my guitar“ - wir sehen diesen fast amerikanisch anmutenden Folk am Samstag wieder - sowie der Beitrag aus Estland, der den wie immer versierten deutschen Sprecher Peter Urban zurecht an Human League erinnerte: Ein Sänger, der sich Malcolm Lincoln nennt, und der mit dem Minimalpopsong „Siren“ leider ausschied. Natürlich gab es daneben einige Songcontestkonstanten zu bestaunen - bizarre Kostüme wie den weissrussischen Backgroundchor mit elektrisch ferngesteuerten Schmetterlingsflügeln (im Finale) oder slowakische Tänzer, die sich als Bäume verkleideten (ausgeschieden) und zudem gab es wenig überraschend so manche Geige zu bestaunen, weil im letzten Jahr Alexander Rybak mit einer Geige gewonnen hatte.
Zu den eigenen Gesetzen des Songcontest gehört sicherlich auch, dass es schwierig ist, den Überblick über die Modalitäten zu bewahren. Tatsache ist, dass über das Weiterkommen gestern und morgen in den Halbfinalen sowie über den Gesamtsieg am Samstag zum zweiten Mal nach 2009 eine Mischstimmform entscheidet: Zu 50 % Telefonvoting, zu 50 % eine Jury in jedem Land. Bei den Halbfinalen kommt komplizierend hinzu, dass neben den jeweils teilnehmenden Ländern, die sich nicht selbst wählen dürfen, auch die fünf bereits qualifizierten Länder - als Gastgeber Norwegen und die Hauptgeldgeber Deutschland, Spanien, England und Frankreich - je einmal mitwählen dürfen. Nach welchem Schlüssel die Halbfinale aufgeteilt wurden sowie nach welchen Kriterien entschieden wird, welches bereits qualifizierte Land zu welchem Halbfinale mitwählen darf, wurde gestern nicht mitgeteilt. Tatsache ist, dass der Halbfinalmodus natürlich auch wieder Verschwörungstheoretikern und Neidern Raum bietet. So war im Vorfeld auch zu hören, dass sämtliche Halbfinalnationen dazu aufgerufen hätten, keinem Land Punkte zu geben, dass als Geld- oder Gastgeber bereits für das Finale qualifiziert ist. Dazu ist zu sagen, dass es vielleicht eher ein Vorteil ist, sich dem sportivem Charakter des Songcontest bereits in einem Halbfinale zu unterziehen und die eigene Performance schon mal unter Livebedingungen vorzutragen. Tatsache ist jedenfalls, dass seit der Einführung der Halbfinale niemals ein Land gewonnen hat, das direkt zum Finale qualifiziert war. Das kann sich natürlich in diesem Jahr ändern, wenn mit Spanien und Deutschland am Samstag die zwei einzigen Ohrwürmer an den Start gehen.
Griechischer Ski und spänische Wand
Zum zweiten Halbfinale des Eurovision Songcontest 2010 am 27.05.2010
Nach dem veröffentlichten Fahrplan zur Grand Prix-Woche hatte ich mir vorgenommen, heute morgen die Aufzeichnung des zweiten Halbfinales anzuschauen, um dann gegen 11 oder 12 einen Text darüber geschrieben zu haben. Nun aber hat sich heraus gestellt, daß diese Vorgehensweise nicht funktioniert. Und zwar aus folgendem Grund: Sprach ich vorgestern zum ersten Halbfinale von der Kunst nicht aufzufallen, ohne zu scheitern, so ist das Durchzappen durch die Beiträge, 30 Sekunden etwa für jedes Land, ein dem Songcontest nicht gerade zuträgliches Unterfangen, denn die Beiträge, die so gar nicht auffallen, sind bei 30 Sekunden schon nach vier Sekunden zu vernachlässigen, und so hat man dann, wenn die FinalistInnen bekannt gegeben werden, nicht nur keinerlei emotionalen Bezug zu den Verkündungen, sondern man hat schlechterdings keine Ahnung, wovon die da gerade reden. Dementsprechend ist man auf die Bilder aus dem Green-Room angewiesen, der in diesen Jahr sehr blau gehalten ist, wo man dann irgendwelche Formationen im Freudentaumel sieht, woran sich möglicherweise eine vage Erinnerung knüpft, welches Lied die gerade Genannten wohl gesungen haben mögen. Wenige Sekunden vorher hätte man die jeweilige Formation nahezu jedem x-beliebigen Land zuordnen können, und nun stellt sich also die etwas peinliche Frage: Was hat der Popticker zu einem Halbfinale zu sagen, bei dem die einzigen Titel, die er erinnert, ausgeschieden sind?
So geschehen mit dem holländischen Beitrag, bei dem im Sinne einer ganzheitlich theatralischen Darstellung die musikalisch begleitende Drehorgel von Tänzern zum Leben erweckt wurde. Die von dieser Idee betroffenen Tänzer mussten also im Green Room als Drehorgelfiguren auf die Nachricht warten, ob sie im Finale sind, und man bedauerte gleich noch die serbischen Bäume von vorgestern mit, denen dasselbe Schicksal geblüht hatte: Im Baumkostüm harrten sie der der ebenso traurigen wie unvermeidlichen Nachricht, nicht im Finale zu sein. So geschah es auch drei Grazien aus Kroatien, die vor 5 Jahren schon einmal für Serbien angetreten waren, die sich Feminnem nannten oder immer noch nennen, und die einigermassen nackt im grünem Raum sassen, wobei man für die drei nur hoffen konnte, daß es im grünem Raum nicht so kalt wie blau ist.
Immerhin konnte man im Ergänzung zum ersten Halbfinale ein paar statistische Stilerhebungen bestätigt sehen: Der Eurodance, vor zwei Jahren noch die europäische Allzweckwaffe, ist stark auf dem Rückmarsch, und dabei spielt es keinerlei Rolle, ob das Bumm Bumm hier von regionalfreiem Ethnobeats aufgepeppt und gepopt wird - oder nicht. Bulgarien versuchte sich an dem Genre ohne Ethno, die serbischen Bäumen mit Ethno, lediglich Island schaffte es mit technoidem Mitschunkelbeat ins Finale, und es bleibt ein isländisches Geheimnis, warum ein Lied auf englisch einen französischen Refrain und Titel hat, und ein europäisches Geheimnis, warum dieses Lied ins Finale gevotet wurde. Weiterhin im Trend bleiben hingegen Trickkleider. Zwar sah man beim zweiten Halbfinale keine Bäume oder weissrussische Schmetterlinge - dafür aber fünf Litauer, die plötzlich in Glitzerunterhosen dastanden, nachdem sie sich der vom norwegischen Curlingteam entliehenen Hosen mit einer Art Reissleine entledigt hatten. Das bodypercussive Lied geriet dabei in Vergessenheit, und das ist schade, denn das Lied war garantiert besser als die Unterhosen. Ebenfalls keine bahnbrechende Neuerung ist die leicht transparente Wand, die zwischen den beiden Beteiligten eines Duos steht, und die dann im Laufe des Songs natürlich weg geschoben wird. Dieser spanischen Wand bediente sich die dänische Formation, von der das Gerücht geht, sie hätten beim Wandverschieben auch ein Lied gesungen. Das muss man dann am Samstag noch mal prüfen: Die dänisch-spanische Wand ist im Finale.
So bleibt uns zu guter Letzt natürlich nur ein Ausblick auf eben dieses Finale. Der Favoritenkreis hat sich sicherlich einerseits gelichtet, andererseits erweitert, denn Favoriten, die ausgeschieden sind, können nicht mehr gewinnen - wie zum Beispiel die schwedische Lena, welche einen Auftritt hatte, der bereits wie ein Sieg aussah; und Beiträge, denen prophezeit wurde, keine Chance zu haben, und die sich nun im Finale wieder finden, können aufgrund dieser Konstellation plötzlich als FavoritInnen gelten. Dazu gehört das griechische „OPA!“, eine Art Aprés-Ski-Hit auf Ouzo, ebenso wie erwähnter französischer Titel aus Island. Der ebenso schlichte wie grandprixtypische Schmachtfetzen aus Israel könnte ebenso das Rennen machen wie der spanische Walzer „Algo Pequenito“ des Angelo Branduardi-Lookalikes Daniel Diges, und last but not least könnte sich auf einmal und nach langem bisschen Frieden Deutschland auf dem Siegertreppchen einfinden. Wir wissen es nicht: Der eurovisionäre Liederwettstreit hat, ich habe das angedeutet, seine eigenen Gesetze.
Der diskrete Charme der Popgeoisie
Dietmar Poppeling und David Gieselmann versuchen bei Kaffee und Kuchen, nicht NUR über Lena zu sprechen - sondern auch über den ESC am 29.05.2010 als solchen
Herr Poppeling, versuchen wir einmal Lenas historischen Triumph …
Wo waren Sie, als Lena Meyer-Landrut den Eurovision Songcontest gewann?
… ja, bei Seite zu lassen und mit der Frage anzufangen: …
Wo waren Sie, als Lena Meyer-Landrut den Eurovision Songcontest gewann?
Wie hat Ihnen der Grand Prix 2010 gefallen?
Herr Gieselmann, sollen wir nun wirklich über den rumänischen Beitrag reden oder wie sich die türkische Robocoptänzerin den Arm absägte? Und warum das auf Platz zwei kam?
Das waren alles nicht meine Fragen
Wie es mir gefallen hat? Gut! Verdammt noch eins, es war grandios, es war schön, es war ernüchternd, ich bin jetzt noch verkatert - aber wissen Sie, was tatsächlich das Schönste war?
Dass Lena gewonnen hat.
Eben nicht. Für mich war das Schönste der Moment der Votings, die Schalte in die Hauptstädte, als noch nicht klar war, dass sie gewinnen wird, sondern als klar wurde, dass sie gewinnen könnte. Diese Prozedur am Fernseher zu erleben im Wissen, Deutschland läuft nicht unter „ferner liefen“, das war für mich zumindest das Allerschönste.
Ab wann haben Sie an Lenas Sieg geglaubt?
Eigentlich ab da, wo Sie, Herr Gieselmann, aufgesprungen sind, unmittelbar nach Lenas Auftritt, und gerufen haben: Sie kann das gewinnen, mit diesem Auftritt gewinnt sie! Da hatten Sie Recht, das war prophetisch. Woran haben Sie erkannt, dass sie gewinnen könnte?
Das hatte in dieser Sekunde für mich einen ganz einfachen Grund: Das war war der 22. Auftritt, und es war schlicht und ergreifend der bis dahin beste. Wer immer sich diese ganz und gar schlanke Performance ausgedacht hat, zum grossen Teilen waren das wohl auch Raab und sie selber, der war ein gewiefter Taktiker, ein Mourinho des Songcontest eigentlich, denn, um beim Fussball zu bleiben, es war musikalisch wie performerisch brilliant, dass sie die Viererkette Backgroundchor im Rücken hatte, die sicherten ihr die Tongenauigkeit ab, so dass sie sich vorne tänzerisch und musikalisch frei bewegen konnte, das war also eine Viererkette mit Lena als klassischem Libero, wenn man so will. Das war eine super Idee.
Sie sagen es, David Gieselmann, aber der Auftritt war auch ein Tabubruch, das Tabu nämlich, dass man nicht kompletten Schrott zum Congcontest schicken muss, weil das eben so ist. Alexander Rybak hat an diesem ungeschriebenen Gesetz im letzten Jahr gerüttelt, und Lena hat es jetzt zum Einsturz gebracht. Wobei man natürlich nach wie vor sagen muss: „Satellite“ ist nicht der Hammersong, er war dem Anlass angemessen funktional, aber Stefan Raab hat schon Recht, wenn er sagt, Lena hätte wahrscheinlich mit jedem anderen Song auch gewonnen. Es ist ein Songcontest, den meistens eine Performance gewinnt, und in diesem Jahr hat eine Person gewonnen: Lena Meyer-Landrut. Und mit ihr ein gewisses Undestatement, das nun wirklich nichts aber auch so gar nichts mehr mit Schlager zu tun hat. Es handelt sich inzwischen ganz klar, um einen Popwettbewerb. Mit Lena hat ein Entwurf von Pop gewonnen, von dem man noch nicht genau weiss, wo der hinführt, der aber zumindest jetzt erst einmal seinen Höhepunkt erlebt.
Was genau unterscheidet Lenas / Raabs Entwurf denn den von anderen Ländern?
Was immer die Länder zum Songcontest schicken, es erzählt ja schon immer etwas über das Land, aus dem der Beitrag stammt, oder zumindest über die dortige Entscheidungsstruktur innerhalb eines Medienmarksegments, wen man zum Grand Prix schickt. Nur so ist zu erklären, warum England seit einigen Jahren immer diesen Kotzbrockenpop schickt, wenn man mal vom Andrew Loyd-Webber im letzten Jahr absieht. Oder warum Rumänien ein gläsernes Doppelklavier bauen lässt, das brennen kann. Was wir hier in diesem Jahr vor allem gesehen haben, waren durchgeplante 3 Minuten-Performances, wo sich irgendwelche schlauen Geister jeden Blick von jeder TänzerIn im voraus überlegt haben. Es gibt ja in vielen Ländern, wie wir beide gerade in Jan Feddersens Grand Prix-Buch gelesen haben, Consulting-Firmen, die einem einen Grand Prix Auftritt planen, für 300 000 Euro. Das haben wir in diesem Jahr eben auch viel zu viel gehabt: Serbische Bäume, Schmetterlinge, Treppen von Beyoncés Choreografen und dieser ganze Mist. Das ist alles Consulting-Pop, von Firmen erdacht und beraten, und was man dabei auch gesehen hat, ist, dass nahezu ausnahmslos alle SängerInnen komplett nervös und verkrampft waren. Sie wollten um Gottes Willen bloss alle Tips beherzigen, die sie für ihre 300 000 Euro bekommen haben, und wenn man verkrampft, hat man natürlich schon verloren. Man muss eben auch so sagen: 2009 und 2010 haben mit Alexander Rybak und Lena Meyer-Landrut die jeweiligen beiden gewonnen, die am wenigsten nervös waren.
Wie macht das ein 19jähriges Mädchen?
Ich glaube, sie hatte bislang auch viel zu wenig Zeit, um nervös zu werden. Sie hat ja nun wirklich vor drei Monaten noch unter der Dusche gesungen.
Herr Poppeling, schenken Sie doch unseren Lesern noch ein paar Sätze zu ein paar anderen Beiträgen: Was war denn noch gut oder noch besonders dumm?
Der schlimmste Beitrag kam ganz klar aus England. Das war wirklich, als ob man Stock, Aitken & Waterman in den 80ern eingefroren und jetzt zum Grand Prix wieder aufgetaut hätte. Spanien war natürlich nicht schlecht, und es gab meines Wissens zum ersten Mal in der Geschichte diesen Flitzer, der zwar nicht nackt, aber eben schon mit ziemlich blöder Mütze die Choreografie störte. Ich denke nur, man hat Daniel Diges keinen Gefallen getan, ihn noch mal singen zu lassen, denn seine Reaktion auf den Eindringling war so lässig, dass man beim zweiten Auftritt eher negativ merkte: Himmel, der macht ja haargenau dasselbe wie vorhin.
Und wie jedes Jahr zu guter letzt die Frage: Wen soll Deutschland 2011 zum Grand Prix im eigenen Land antreten lassen?
Christian Durstewitz.