hat schon mal funktioniert

Das Ohr auf Deutschpop werfen - Folge 27

Bildschirmfoto 2023-10-05 um 12.17.55/// Anfang der Nuller sprach man auf einmal vom so genannten Freak-Folk, eine Popspielart, die den Folk mit Sound-Verheissungen von Indiepop und -rock ausmalt, die Stille suchte und Ablenkungen von Seichtheit fand. Irgendwie erinnert mich zunächst dass Debut-Album „Bitte Flieg“ des Songschreibers, Sängers und Multi-Instrumentalist „Lucito“ an diese Folkmusik: Zerbrechliche Songs über Einsamkeit, stille Töne über Verwirrungen, und plötzlich dann doch funky Einlagen, Rap-Parts, satte Bläser und Rock-Elemente, so dass die Musik fast in Jazz-Hiphop kippt. Ein reichhaltiges, unterhaltsames, virtuoses Album, dem vielleicht ein klein wenig der Signature-Hit fehlt, der eine Ohrwurm, der das Ganze einen Rahmen zur Erinnerung im Ohr verzahnt; aber also das ist wirklich Kritik auf sehr hohem Niveau. /// https://lucito-musik.de/ /// Bildschirmfoto 2023-10-05 um 11.33.24Joachim Witt hat zur NDW-Zeiten angefangen und diesem Subgenre der 80er einige höchst merkwürdige Hits abgerungen - „Der Weg in die Ferne“, „Kosmetik“ und vor allem natürlich „Goldener Reiter“ (welcher gerade erst wieder durch ein wunderbares Cover der Crucci Gang auf Trab gebracht wurde.) Man könnte sich gut vorstellen, dass Witt mit dieser Ironie-Attitüde auch 2023, da viel NDW-Elemente Bildschirmfoto 2023-10-05 um 12.07.51wiederkommen, einen Platz im Pop finden könnte, aber statt dessen versucht er sich seit einiger Zeit an einem poppigen Hardrock, der mit sturem Ernst einen darken Mittelalter-Ton sucht - komischer Versuch; und wahnsinnig enervierende Musik, die dabei rauskommt. So auch auf dem neuen Album „Der Fels in der Brandung“, auf dem Witt  als Wiedergänger von dem Grafen von „Unheilig“ daher kommt. Dumme Musik. /// http://joachimwitt.de/ Zwischen Pianopop und Bildschirmfoto 2023-10-05 um 12.14.25urbanen Schlager findet das erste Solo-Album von Rosenstolz-Sängerin AnNa R keinen rechten Halt und sitzt also zwischen Stühlen. Die Naivität, die hin und wieder aus der Verhinderung von Bombast spricht, hat teils Charme, aber das reicht nicht, um diese in der Summe eintönigen Lieder interessant zu machen; Hörer werden sie bestimmt trotzdem finden, und da muss man auch nix dagegen haben. /// https://www.anna-r.de/ /// Der breite Sound der Band karo nero ist fast Chamberpop, viele Musiker:innen hört man hier, viele Schichten von Pop und mehrere Stimmen. Auch hier fehlt vielleicht der überspannende Hit, aber in der Summe ist das Debut-Album „Zugvögel und Korallen“ in seinem immer nur fast kitschigen Popentwurf mit vielen Genre-Ausbrüchen und Zitaten das virtuose Zeugnis einer tollen Band. /// https://karo-nero.de/ /// 


Heute neu - die Freitagskolumne

ET2u7ctg/// Der Deutschpop ist nach wie vor ein Strom von Beständigkeit und einem Füllhorn an Bausteinen, aus denen man auch sechs Jahre nach Böhmermanns „Menschen, Leben, Tanzen, Welt“ hittauglichen Pop zusammen basteln kann. Das ist vermutlich selten brillant aber auch oft nicht völlig blöd. Moritz Ley ringt dem Ganzen nun eine Münchner Hommage an Mittzwanziger ab, die mit Wegbier und Fluppen über Leben und Liebe philosophieren: „wir kennen uns schon seit ein paar monaten / hätt nie gedacht, dass da irgendwas zwischen uns schlummert / doch heute nacht lern ich dich anders kennen / bin nicht der einzige, der hier wen bewundert.“, singt Ley, und es stammen diese Zeilen aus seinem neuen Song „Casanova“, denn die Bewunderte weiß offenbar, dass er einer ist oder hält ihn Yannic Kötterzumindest dafür. Summa summarum kommt dieser Pop ein wenig harmlos um die Ecke, aber will schon was gegen harmlosen Pop sagen - manchmal kann man ihn brauchen. Manchmal brauch es aber auch ein wenig Wut. Vielleicht dann auf einem Album, Herr Ley. /// Mittzwanziger ohne viel Probleme - aber nun auf dem Land, so könnte man den Link zu dem Kölner Duo „colin“ setzen; nun, die wirken in Wirklichkeit noch Bildschirmfoto 2023-08-25 um 13.22.19jünger als Ley, und unter ihrem Indiepop auf Englisch diesmal schlummern schon auch Risse und Abgründe, und dennoch oder gerade deshalb flimmern hier einfache, schöne Melodien durch ihren neuen Song, der „7“ heißt. „2 guys making indiepop“, schreiben die beiden über sich selber - so einfach und schön ist das. /// Wieder ein paar Jahre älter  sind die vier Mitglieder von „Die neue Zärtlichkeit“, aber auch sie sind nicht alt genug, um in den 80ern schon gelebt zu haben, aber in letzter Zeit gibt es ja viele Musiker:innen, die dieser Umstand nicht davon abhält die 80er wieder-erklingen zu lassen. Der Synthie-Pop dieses Quartetts ist versierter Wavemit heutigen Soundmitteln direkt aus den 80ern importiert, während die Bildschirmfoto 2023-08-25 um 13.22.56Lyrics des neuen Songs „Traum von Dir“ Liebe als Trotz gegen die Abgefucktheit der Welt feiert: „Kaltes Eis wo einmal Erde war / Unsere Luft sie leuchtet Nuklear / Und jeder weiß dass bald das Ende naht, egal / Ich träume von dir / Ich / träume von dir / Soll diese Welt doch untergehen / Ich bleib hier und träum von dir.“; und dann kommt auch noch ein Gitarrensolo: Prima Band, prima Song, prima Zeitreise. /// Wirklich aus den 80ern sind natürlich OMD, die immer noch oder vielmehr wieder mit drei Gründungsmitgliedern beisammen sind und nicht nur ihr musikalisches Erbe verwalten, sondern auch hin und wieder neue Singles heraus bringen - und nun Ende Oktober auch ein ganzes Album. Von eben diesem ist nun der Titelsong vorab erschienen: „Bauhaus Staircase“ ist eine typische OMD-Uptempo-Nummer, die mit beiläufigem Beat und flächigen Synthiesounds einen unterkühlten Bombast sucht.; das mag redundant sein, aber ich liebe es. ///

Links:

Moritz Ley / Casanova / < video >  (Premiere 25.08. um 15 Uhr)

colin / 7 / < video > 

Die neue Zärtlichkeit / < website >

OMD / Bauhaus Staircase / < video >


Heute neu - die Freitagskolumne

Jbs/// Jocelyn B. Smith habe ich durch meine ehemalige Mitbewohnerin in Berlin kennen gelernt, das muss etwas 25 Jahre her sein, da haben wir sie live gesehen. Heute ist sie immer noch als Popmusikerin aktiv, inzwischen durch das Musical „König der Löwen“ deutlich bekannter. Heute erscheint eine neue Single von ihr, „Dancing In The Dark“ (nein, kein Springsteencover) - ein Dance-Soul-Song mit housigem Uptempobeat. Kompositorisch mag das nicht das Nonplusultra sein, aber Jocelyn B. ColinSmith hat eine Stimme, mit der auch mittelmässige Nummern großer Pop werden. Wie sie dann im Video mit der beinahe 80-jährigen Stilikone Günther Anton Krabbenhöft tanzt, ist so unwiderstehlich charmant, dass man über diese Veröffentlichung eigentlich nur glücklich sein kann. /// „Call Me A Mess“ nennt das Kölner Duo „colin“ ihre neue Single - während im Text die Entropie des Alltags von Mittzwanzigern besungen wird, geht es musikalisch eher 60d9992a-9023-09ec-9619-c080f46e9aaf britisch verhalten zu und das im klassischen Gewand versierten, Gitarren wie Synthiesounds enthaltenden Indiepops. Der Song kommt wenig aufregend daher, aber die unbeschwerte Dreistigkeit, sich einen Popsong lang Zeit zu nehmen, von inneren Chaoszuständen zu erzählen, empfinde ich als befreiend und wundervoll melancholisch. Da finde ich mich selbst wieder, obgleich die beiden Typen von „colin“ altersmässig vermutlich meine Söhne sein könnten. Da sie es aber nicht sind, kann ich guten Gewissens sagen: Bloss nicht aufräumen, Jungs. /// Da geht es bei Julia Kautz ein wenig aufgeräumter zu, womit ich wohl den „Heribert Fassbender“-Award der konstruiertesten Überleitungen bekommen könnte. Julia Katz jedenfalls ist versierte Songschreiberin für zum Beispiel Wincent Weiss, Cassandra Steen oder Max Mutzke; und das hört man auch ihrer Single „Utopia“ an - im Guten wie im etwas Statischen: Kautz beherrscht versiert die klassische Mechanik des Deutschpop, ein melancholisches Flussbett für Hörer:innen zu machen, die gänzlich unmelancholisch sind, durch die man dann einen melancholischen Uptempofluss fliessen lassen kann - so ist der empfundene Kitsch quasi ein sich selbst prophezeiendes Perpetum Mobile der Traurigkeit für untraurige Menschen. An sich kann ich damit also nicht so viel anfangen. Im Falle besagter Single „Utopia“ aber steht dem hoch professionellem Songwriting die skizzenhafte Machart entgegen: Hingehuscht produziert klingt dieser Song so, als sei er dafür gemacht, für ihn eine Sängerin zu finden, für die man ihn dann ausformuliert, aber genau das etwas Unfertige der Machart und der unterkühlte Gesang fangen für mich ganz fluffig den sich selbst Bildschirmfoto 2023-06-30 um 11.24.54prophezeienden Kitsch auf. /// Das Lied „rosarot“ hat seinen Sänger sozusagen gefunden und ist ausproduziert - wenngleich die Machart hier sicherlich zurückhaltend ist, ein Ballade über einen One-Night-Stand, von dem sich das singende Ich mehr erhofft hat und noch immer erhofft - die Suche nach Liebe also, der Pop so viel zu verdanken hat, hier ist auch wieder. Moritz Ley gibt sich hier verschwindend bis zerbrechlich still, und wer kürzlich Ähnliches erlebt hat, wie erwähnt singendes Ich dieses Liedes, wird hier vermutlich in Tränen ausbrechen - also: Ein Song, der seine Berechtigung FNsZDmzuhat, aber hallo, auch wenn er mich persönlich jetzt nicht anspringt. /// House, Soul, Pop, Funk, Jazz - alles diese Stile könnte man nennen, wenn man den Song „Falling For The Music“ von Olga Dudkova auch nur 30 Sekunden hört - und das bleibt auch so. Ein Song, der sozusagen die eigene Multistilistik dadurch feiert, von der Musik als solchen zu handeln. Und dann auch noch eine fantastische Soul-Stimme einer Globetrotterin - wer hier nicht das Gefühl bekommt, einen kommenden Superstar zu hören, von dessen Bahnhof fahren auch nicht mehr all zu viel andere Züge. ///

links

Jocelyn B Smith "dancing in the dark" < audio >

colin "call me a mess" < audio >

Julia Kautz "utopia" < audio >

Moritz Ley "rosarot" < video > (Video-Premiere: 20.06. um 17 h)

Olga Dudkova "Falling For The Music" < video > (Video-Premiere: 20.06. um 19 h)

 


Eigenblutdoping

Das Eigencover als Album-Konzept - diese Idee hatten „die fantastischen Vier“ und „U2“

Bildschirmfoto 2023-03-20 um 13.04.01Zwei Bands, die es schon recht lange gibt, haben Alben herausgebracht, auf denen sie sich selber covern - „die Fantastischen Vier“ und „U2“. Da kann man ja schon mal die Frage aufwerfen, warum Bands zu diesem Mittel des Eigencovers greifen. Promotion-Sprech dürfte sein, dass die Bands wichtige Songs ihrer Karriere einer Frischzellenkur unterziehen, um ihre Tauglichkeit in aktuelleren Popgewändern anzutesten. Zudem bietet das Eigencover ebenso wie das Covern überhaupt auf recht direkte Weise das Potential von Pop im Allgemeinen: Das Neue wieder-erkennen.

Schauen wir also erst einmal auf die beiden Werke im Spezifischen: U2 haben für „Songs Or Surrender“ sage und schreibe 40 Werke ihres Oeuvres neu eingespielt. Darunter sind einige ihrer Hits wie „Where the streets have no name“, „One“ oder „I still haven’t found, what I’m looking for“ (Letzteres haben sie auf „rattle & hum“ sogar schon mal selbst gecovert) - es finden sich aber auch randseitige Lieder wie „11 O’Clock Tick Tock“ oder „Peace on earth“ in dieser Sammlung. Jedes Mitglied hat augenscheinlich 10 Lieder ausgewählt, denn 4 Teil-Alben tragen jeweils die Vornamen der U2s: Larry, Edge, Bono, Adam. Die Band hat die Songs größtenteils entschlackt, ihre Breitwandigkeit eliminiert und mit schlichtem Band-Sound - Bass, Gitarre, Gesang - aufgenommen - merkwürdiger Weise ohne Schlagzeug. Da Drummer Larry Mullen in letzter Zeit ohnehin leicht isoliert in der Band zu sein scheint und bei der Las-Vegas-Residency in diesem Jahr gar nicht spielen wird, nähren sich Spekulationen über dessen Ausstieg, wozu der Popticker jetzt nichts sagen kann. Aber wie dem auch sei: 40 Songs lang U2 ohne gigantische Edge-Gitarren-Flächen, ohne viel Produktionsaufwand, fast durchweg im gleichen Uptempo und ohne Schlagzeug - sorry aber: Schnarch!

Bildschirmfoto 2023-03-20 um 13.03.27Fanta 4 haben für ihre „Liechtenstein Tapes“ hingegen 15 ihrer Lieder neu aufgenommen und sich hierfür einen Bandsound ersonnen, der mutmasslich auch von ihrer Live-Band stammt - kaum noch Samples, funky-Bässe und Gitarrenlicks, hin und wieder mischt sich Hall unter Chöre und Bläsersätze oben drüber. Das ist zweifelsohne versiert in die Tat umgesetzt, aber wenn man ehrlich ist: So viel anders als die Originale sind diese Versionen dann auch nicht. Man kapiert einfach nicht den Mehrwert der Eigencover gegenüber ihren ursprünglichen Versionen.

Vielleicht liegt die lähmende Langweile der beiden Alben einfach an dem mangelndem Interesse an der Bands an ihren eigenen den Songs. Mit einer gewissen Berechtigung sind sowohl die Fantas als auch U2 offenbar davon ausgegangen, das Covern eigener Songs brächte als Konzept aufgrund der puren Nähe zum eigenen Werk bereits eine Idee für jeden Einlzelsong mit sich. Aber Covern existierender Lieder setzt auch immer voraus, dass man wirklich eine neue Idee an sie heran und in sie hinein trägt - ganz gleich, wer die Lieder schon einmal veröffentlicht hat. Aber hier herrscht wirklich zweimal gähnende Ideenleere. Nur das Cover von den Fantas ist wunderschön.


/// Songs zum Sonntag /// 111222 ///

Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.37.54/// „Asoziale Medien“ ist, wie man sich denken kann, ein kritischer Track über soziale Medien. „Chill Boomer“ , könnte man sagen, zumal, was der Sänger dieses Liedes, Sören Vogelsang, dann so sagt, ein wenig altbacken daher kommt, als würde die Sendung mit der Maus die Verführungen des Internets erklären - und zwar 2011: „Ich vergeude meine Zeit auf Facebook allein, ich hab’ 4000 Freunde, um einsam zu sein. Scroll durch Storys auf Insta, Doomscrolleffekt, die Leben der Anderen sind alle perfekt.“ - klingt ein wenig, als ob Rolf Zukowski mal nicht über die Weihnachtsbäckerei Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.14singen und hip sein möchte. Die Binsenweisheiten über soziale Medien eines Menschen, der eben diese nicht zu nutzen scheint, zeugen von einer derartig unerschütterlich Naivität, das der Song in seinem Acoustic-Folk-Rap irgendwann eine gewisse Eingängigkeit entwickelt. Ich fürchte nur: Von der Gefahr der sozialen Medien wird sich von diesem Lied niemand was erzählen lassen. /// Erstaunlich aber Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.35schon, wohin deutscher Rap heute alles klingen kann. Steffen Freund zieht seinen Song „Heimweh“ mit Trap-Beats und Autotune derart in die Breite, dass er mit dem Song problemlos auch im „ZDF“-Fernsehgarten auftreten könnte - wie soll man dieses Genre nun nennen? Schlager-Trap? Komische Zeiten im Deutschpop. /// Andere Wiese: Lana Del Rey hat tatsächlich schon wieder ein Album inpetto. Es wird ihr achtes sein und „Did you know, that there is a tunnel under the Ocean Boulevard?“ heißen. Und ebenso heißt auch ihr neuer Song, und ich muss ja sagen, ich höre mir das auch beim zehnten Album wieder an, obgleich an der Machart fast nichts ändert: Tiefe Klavier-Akkorde tupfen eine Melodie in den Himmel über LA, welche sepiatonal von Del Rey umschlungen wird, und aus der Ferne beschleichen Streicher ein Motel - wundervoll, wie hier immer noch ein Hollywood-Kitsch herauf beschworen wird, dessen Melancholie längst mit erzählt, dass er eine Chimäre ist. /// YoutubeLinks /// < asoziale Medien > /// < Heimweh > /// < did you know that there is a tunnel under the ocean boulevard > ///


Das Hit-Rezept

Elton John hat eine neue Form der Musealisierung seines Songs-Katalogs erfunden

He did it again - Elton John, der alte Haudegen, hat die Prinzipien seines Konsens-Streichs „Cold Heart“ in ein Rezept übersetzt und nach diesem Rezept dann wieder einen Hit gekocht. Das Rezept lautet hierbei: Nimm einen alten Schmachtfetzen von Elton John, Holdmelass Dir ein Uptempo-Dancebeat drunter legen, engagiere einen weiblichen Popstar als Duettpartner, und nimm eine andere Zeile als Titel - fertig ist die Laube. Statt „sacrifice“ hat Elton nun „tiny dancer“ überschrieben, statt Dua Lipa hat er sich Britney Spears ans Mikrofon geholt, wieder aber ist aus einer Pianoballade ein Killer-Ohrwurm mit 120 Beats per minute geworden, der Dancefloor-Qualitäten hat, aber auch noch als Lounge-Pop zum Martini funktioniert - Titel des Ganzen: „Hold Me Closer“. Aber natürlich sind trotz aller Parallelen die Vorzeichen andere: Während Dua Lipa mit ihrer „Pop als Dienstleistung“-Attitüde im Elton-John-Fahrwasser fluffige Bescheidenheit unter den Überhit hob, ist die blosse Anwesenheit von Britney Spears sechs Jahre nach ihrer letzten Song-Veröffentlichung und ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung aus der Vormundschaft ihres Vaters schon eine erfreuliche Sensation. Da kann „Hold Me Closer“ noch so unaufgeregt in die Ohren dotzen - hier hören wir auch pophistorische Meta-Ebenen mit, ob wir wollen oder nicht, und fast ist es so, als hätte Dua Lipa ihren Platz im virtuellen Raum eines Duetts mit Elton John geräumt, um Britney ein entspanntes Comeback zu ermöglichen. Das wirft automatisch die Frage auf: Was kommt als nächstes? „Blue Eyes“ als Uptempo-Ohrwurm im Duett mit Madonna, um diese aus ihrem aufkommenden Wahnsinn zu befreien? „Nikita“ mit Nelly Furtado? Oder „Goodbye Yellow Brick Road“ mit 120 Beat per minute zusammen mit Cindy Lauper? An möglichen Originalsongs aus dem Katalog von Elton und möglichen Partnerinnen für die Überschreibung mangelt es sicher nicht - der Popticker bewirbt sich mit genannten Ideen um einen Platz im Beraterstab von Sir John und wünscht ein schönes Wochenende.

 


Songs zum Sonntag

Bildschirmfoto 2022-07-17 um 11.05.38heute aus Norwegen /// 170722 /// a-ha / I’m in /// Seit einer Doku über die Band „a-ha“ wissen wir, dass die drei Norweger mitnichten drei enge Freunde sind, sondern für ihre Existenz als Band über Missgunst, Skepsis und Genervtheiten hinweg kämpfen müssen. Einmal haben sie sich auch schon aufgelöst und dann wieder zusammen gerauft. Nun erscheint Ende des Jahres eine neues Album, „True North“, und die erste Single ist soeben erschienen Sie heißt „I’m in“ und ist ein klassischer a-ha-Song: orchestraler Pathos, Harkets Falsett-Gesang und getragene Melodie - Bildschirmfoto 2022-07-17 um 11.05.19immer ganz nah zu Kitsch und Bombast bekommen sie auch hier wieder die Kurve zu nonchalantem Pop. So treu sie sich da also bleiben - brauchen tut man das nicht, aber dass sie das, was sie können, immer noch können, ist schon auch toll. /// Ka2 & Gabrielle / i natt /// Bleiben wir doch einfach mal in Norwegen: „Ka2“ spielen einen herrlichen Synthiepop mit sommerlichem easy-listening, ablenkend gut gelaunt und fluffig. Ihre neue Single mit der ebenfalls norwegischen Sängerin „Gabrielle“ ist in meinem iPhone schon zum Sommerhit geworden: Uptempo-Mittwipp-Beat, flächige Synths und herrliches Norwegisch, das ich so gerne höre - nordischer kann ein Song kaum in die Sonne passen. /// Links /// a-ha / I'm in (video) /// Ka2 & Gabrielle / i natt (audio) ///


ikonisch ironisch

Warum distanzierter Schlager überhaupt möglich ist

Commissario Brunetti ermittelt ja mitten in Venedig auf Deutsch - dieses ZDF-Konzept in Popschlager zu übersetzen, auf diese Idee muss man auch erst einmal kommen. Ob dieser Popentwurf aus der Brainstormhölle, in der Redaktion von Jan Böhmermann oder bei einer schwer durchzechten Nacht entstanden ist, wir wissen es nicht. Was wir indes wissen, ist dass dieser Entwurf in die Tat umgesetzt wurde und derzeit sogar auf der Spitze der deutschen Albumcharts steht: Auftritt „Roy Bianco & die Abbruzanti Boys“ - für diese Formation hat man sich eine fiktive Bandgeschichte erdacht und diese mit reichlich blödsinnigen Daten angereichert - frühen Erfolgen bei einem brasilianischem Schlager-Festival etwa, oder einem Debüt-Album namens „Greatest Hits“, dem Bandzerwürfnis und schliesslich dem Comeback mit dem derzeitigen Album „Mille Grazie“. 

Original

Man muss den deutschsprachigen Italoschlager dieses Longplayers nicht gehört haben, um erkennen zu können, dass wir es hier mit einem ironischen Popkonzept zu tun haben. Um so erstaunlicher ist aber, dass die Kernbotschaft dieser Musik, eine sich hingebende Leidenschaft für Italien, die Liebe und das Leben dennoch ungefiltert durch das ironische Breitband-Antibiotikum der unsinnigen Formation hindurch kommt. Und das bei einem derart antiseptisch unironischen Kern-Genre, dem Schlager. Wie ist das überhaupt möglich? 

Dazu muss man vielleicht erst einmal ein wenig ausholen.

In der Rhetorik ist Ironie bekanntermassen die erkennbare Diskrepanz zwischen Gesagtem und tatsächlicher Intention des Geäusserten. Die Erkennbarkeit erzielt man dabei mit Signalen der Distanzierung - zum Beispiel dadurch, dass man Gesagtes gestisch oder stimmlich markiert. Wenn zwei Menschen sich gut kennen, und unter ihnen die Ironie als Code anerkannt ist, muss Gesagtes nicht kenntlich gemacht werden. In der Kunst wiederum, in der sich Sender und Empfänger von Botschaften nicht unbedingt kennen, kann man sich auf ironische Effekte erst dann verlassen, 0602445062171wenn sie als künstlerisches Stilmittel etabliert sind - das muss man aber eben für jedes Werk, jeden Roman, jedes Skulptur neu tun. Das heißt praktisch nichts Anderes, als dass ich bestimmte Stilmittel bewusst übertreibe oder anderweitig abhebe, so dass sie augenscheinlich werden. In der Popmusik wiederum, bei der das bewusste Übertreiben, Zitieren, Markieren und kenntlich Machen ohnehin zu den konstatierenden Stilmitteln gehört, ist die Ironie also präsent, auch wenn sie als distanzierendes Mittel gar nicht gewollt ist - sie ist jenseits von Inhalten Resultat der Form und bezieht sich auch auf diese.

Diese Art der Formenironie wiederum erzeigt das große Referenz-Potential von Pop. Man kann sich der Inhalte bestimmter Genres nämlich zu eigen machen, in dem man deren Stilmittel übertreibt und anderweitig kenntlich macht. Wenn ich zum Beispiel in einem Folksong Flamenco zitiere, distanziere ich mich nicht von dessen potentiellen Inhalten, sondern lasse diese im Gegenteil bewusst mitschwingen. Womit wir bei der Antwort auf die Frage angekommen wären, warum es ironischen Schlager überhaupt geben kann - im Übrigen sind  „Roy Bianco & die Abbruzanti Boys“ natürlich nicht die Ersten, die das versuchen. Dagbobert beispielsweise, der große schweizer Liebes-Skeptiker mit dem tiefen Glauben an das Lied, hat den Schlager bereits philosophisch mit Indiepop unterwandert; Alexander Marcus hat einen Soundtrack für die Fusion von Schlager-Move und Loveparade erfunden, der Musiker Drangsal hat kürzlich erst Postpunk in die Schlagernachhilfe geschickt und dafür sogar vom Feuilleton gute Noten bekommen, und die „Crucci Gang“ hat Klassiker des Deutschpop durch eine italienische Espressomaschine gejagt - schade übrigens, dass es die Spex nicht mehr gibt.

Doch zurück zum Italo-Schlager: Auf Deutschlandfunk wurden die beiden Kernmitglieder von  „Roy Bianco“ & die Abbruzanti Boys“ gerade interviewt (namentlich Herr Roy Bianco und Herr Abbruzanti Boys), und in der Ankündigung zu diesem Beitrag wurde deren Presse-Info zitiert, nach der sie das fiktive Narrativ dieser Band niemals verlassen würden. Leider erwiesen sich die beiden Interviewten dann eher als mittelmässige Darsteller ihrer selbst erschaffenen Kunstfiguren: Ihrem feinsinnig ironisiertem Italo-Pop-Schlager sind sie sozusagen schauspielerisch nicht gewachsen. Dennoch eine bemerkenswerte Veröffentlichung, in der die Kulturgeschichte der Ironie skizziert ist - Konzeptpop von hoher und gleichzeitig unfassbar blödsinniger Schule.


Perpetuum Latinpop

Camilla Cabellos neues Album ist herrlicher Referenz-Eskapismus

Bildschirmfoto 2022-04-14 um 12.01.29Die Musik von Camilla Cabello ist eine Salsa-Essenz im Fahrwasser von Bubblegumpop. Der Signature-Song dieses Entwurfs ist natürlich ihr erschreckend eklektischer Über-Hit „Havana“, der vier Minuten auf dem Ur-Pop-Riff E-moll, C-Dur, B-Dur7 beruht, und mit dessen Video Cabello auch die Signature-Visualisierung ihrer Musik gezeigt hat: < In dem Clip > ist sie sowohl Zuschauerin als auch Schauspielerin einer Soap und deren Spin-Off im Kino, und diese Soap ist in einer Community angesiedelt, die ohne finanzielle oder sonstige Probleme einem Hedonismus nachhängt, in dem Erotik, Leidenschaft, Tanz und Musik die wesentlichen Tugenden sind. Von Cabello gespielte Kunstfiguren träumen sich einerseits in diese Welt hinein und sind anderseits deren wichtigste Repräsentantinnen. Der Eskapismus, der in diesem Konzept steckt, ist also mithin vielschichtig: Die gezeigte Community scheint ihren eigenen Soundtrack einerseits hervor zu bringen, andererseits richtet sich die Musik wiederum an seine fiktiven Urheberinnen. Als würde eine Telenovela sich auch an die Charaktere ihrer eigenen Handlung wenden, und die Charaktere dieser Handlung bringen diese auch hervor, weil sie sie als Zuschauer:innen verfolgen und deuten.

Welch wundervolle Rückkopplungen! Die Musik von Camilla Cabello ist die Referenz an einen Latino-Pop, den es in seinem Aggregat eines fiktiven Soundtracks in Wahrheit eigentlich nicht gibt, der von Cabello nur dadurch, dass sie sich auf ihn bezieht, herauf beschworen wird - ein Popentwurf im Geiste des Perpetuum mobile. Das heißt im Übrigen nichts Anderes, als dass diese Musik brillant ist: Auf ihrer neuen Langspielplatte „Familia“ zelebriert Camilla Cabello diesen, ihren Minimal-Latinpop in bescheidener Virtuosität. Mit wenig Pinselstrichen werden da Beat-Betten aus Reaggeton und Samba mit klassischen Latin-Harmonien besprenkelt („Celia“), synthetische Streicher als Salsa-Bläsersätze arrangiert („la buena vida“) oder fluffiger Synthiepop in psychodelische Hallräume überführt („Psychofreak“ feat. WILLOW) - und von dem Song, den Cabello gemeinsam mit Ed Sheeran gemacht hat, war < hier > schon die Rede.

Cabellos bunt gesprenkelte Zucker-Welt mit antiseptischem Rum und sanfter Tanz-Erotik ist somit visuell wie akustisch eine Scheinwelt, mit der nicht gezeigt werden muss, dass vieles in Wirklichkeit doch komplizierter ist. Mit dieser Strategie kreieren sich aus dem Nichts in banalen Popräumen merkwürdige Meta-Ebenen, und was anderes ist denn Pops Hauptanliegen, wenn nicht unter bestürzend banalen Mitteln ungeahnte Tiefen aufscheinen zu lassen: Wer so wundervoll und offensichtlich lügt, kann auf die Wahrheit verzichten.


Breitwandpop und Kleinkunstrap

Ohren auf Deutschpop werfen, Folge 21: Madeline Juno, Maeckes und Nico Suave

Bildschirmfoto 2022-01-27 um 10.32.33Madeline Juno will nie wieder nach Neukölln. Warum eigentlich nicht? Dort zu sein, erinnert sie an Gefühle, die sie nicht mehr fühlen will, lieber würde sie sich „ihr Herz mit Teer auffüllen“ lassen, „denn wenn es kalt wird, ist es endlich still“. Man kann es nicht anders sagen: Als Opener eines Albums ist der Song „Neukölln“ ein wenig depressiv und insofern dramaturgisch ungewöhnlich. Anders gesagt: Dass die Popmusik tiefgründiger wird und nicht nur sporadisch an der Oberfläche blinken möchte, ist ein Trend, der sich mittlerweile auf die verschiedensten Sub-Genres ausweitet. Da bleibt eben auch der Deutschpop nicht aussen vor, und schon gar nicht im Falle von Madeline Juno, deren Hinwendung zur deutschen Sprache, früher sang sie Englisch, mutmasslich schon auf der Suche nach tolleren, tieferen, näher gehenden Popsongs erfolgte. Gleich im zweiten Lied auf ihrer neuen Platte „Besser kann ich es nicht erklären“ erzählt sie von einer Beziehung, die nicht zuletzt im Gespräch mit ihrem Therapeuten inzwischen „obsolet“ geworden ist. Die Texte, die Juno schreibt, operieren nicht mit den typisch deutschpop-lyrischen Versatzstücken. Zumal sie es zum Beispiel in besagtem Song „obsolet“ hinbekommt, die Zeilen im Sinn immer hängen zu lassen, über das Ende der Sätze bestehen zu lassen, so dass der Inhalt sich im natürlichen Sprachrhythmus nicht dem Versschema des Liedes unterordnet. Das ist eine große Kunst, die beim Song-Schreiben wenige beherrschen: „Noch immer find ich in Jackentaschen / Ein paar deiner Sachen / Hast du sie dagelassen / Damit sie mich kaputtmachen? / Mein Therapeut sagt, ich soll mich glücklich schätzen.“ Ich finde nur leider die Musik hält nicht mit den Texten mit. Die Melodien, der Sing-Duktus, die Refrain-Verschiebungen, alles das kennt man aus dem ABC des Deutschpops, und auch die Arrangements folgen klassischen Schemata mit räumlich aufgeputschtem, aber an sich klassischem Akkustikpop mit der ein oder anderen Synthie-Prise - alles recht hübsch gemacht, aber nirgends so aufregend, wie Madeline Juno Lieder schreiben kann. Ändert trotzdem nichts daran, dass dieses Album aus dem Deutschpopeinerlei heraus ragt - in der Summe äusserst hörenswert.

Bildschirmfoto 2022-01-27 um 10.31.25Nico Suave hat sich auf dem Deutschpop aus Richtung des Raps zugewandt - es scheint, dass adäquat, zum Schlager, welcher Deutschsingenden verlockende Identitätsangebote macht, der Deutschpop seinerseits Interpret:innen, die sich in ihrem angestammten Genre unsicher fühlen, Versprechen macht: Wenn sie sich im Deutschpop heimatlich einrichten, bekommen sie eine Art Karriere-Franchise-Vertrag. Suave jedenfalls hat nicht die Sprache seiner Musik gewechselt, sondern er hat dem Rappen entsagt und singt auf seinem neuen Album "Gute Neuigkeiten" also nun. Naturgemäss finden sich in seinem Popentwurf nun Spuren aus ohnehin schon übersetzten Partikeln von amerikanischem RnB, HipHop-Beats und Deutschrap. Daraus mischt sich ein merkwürdig indifferenter Breitwandpop mit viel Hall, Aaaahs, Ooooohs und Uuuuuhs und merkwürdig alltags- und alters-skeptischen Texten: „Wir tauchen ab und gehn auf Road über Felder und Schleichwege, keine Business-Calls keine Zeitpläne, kein GPS, keiner Bildschirmfoto 2022-02-01 um 08.56.48kann uns orten und findet uns hier, angenommen verbotene Dinge passieren, we disappear“ - naja, das sind schon, wie er es singt und dichtet, noch Ideen des Rappens drin, aber es wird nichts recht Neues draus, die Umorientierung bleibt diffus, was manches Mal auch ganz sympathisch ist.

Ebenso irgendwo zwischen Deutschpop- und -rap tummelt sich Maeckes, der zuweilen auch schauspielert und Hip Hop in einen intellektuell konsumkritischen Kleinkunstpop übersetzt. Wenn man seine neue Platte „POOL refill“ anhört, bekommt man eins ums andere Mal das Gefühl, man hört einem jungen Stadttheaterschauspieler zu, der bei einem Liederabend rappen soll, und der hippe Theatermusiker probiert auch einmal Autotune fürs Abonnement aus: „Alle Menschen sind gleich / EASY / aber Amazon prime gehört halt Jezz Bezos allein / GANZ EINFACH / wir alle haben die gleich Chance / EASY / wie dumm, dass da einige die scheiss Jobs freiwillig machen / der Wohnungsmakrt wird geregelt vom kapitalistischen Prinzip / EASY / und mit bestimmten Nachnamen gibt’s halt kein Besichtigungstermin“ - mehr Wokeness bekommt man wohl nicht in vier, fünf Zeilen. Dieser Art Rap ist so antiseptisch aufgeweckt, dass man erschreckt einschläft.