hat schon mal funktioniert

Eigenblutdoping

Das Eigencover als Album-Konzept - diese Idee hatten „die fantastischen Vier“ und „U2“

Bildschirmfoto 2023-03-20 um 13.04.01Zwei Bands, die es schon recht lange gibt, haben Alben herausgebracht, auf denen sie sich selber covern - „die Fantastischen Vier“ und „U2“. Da kann man ja schon mal die Frage aufwerfen, warum Bands zu diesem Mittel des Eigencovers greifen. Promotion-Sprech dürfte sein, dass die Bands wichtige Songs ihrer Karriere einer Frischzellenkur unterziehen, um ihre Tauglichkeit in aktuelleren Popgewändern anzutesten. Zudem bietet das Eigencover ebenso wie das Covern überhaupt auf recht direkte Weise das Potential von Pop im Allgemeinen: Das Neue wieder-erkennen.

Schauen wir also erst einmal auf die beiden Werke im Spezifischen: U2 haben für „Songs Or Surrender“ sage und schreibe 40 Werke ihres Oeuvres neu eingespielt. Darunter sind einige ihrer Hits wie „Where the streets have no name“, „One“ oder „I still haven’t found, what I’m looking for“ (Letzteres haben sie auf „rattle & hum“ sogar schon mal selbst gecovert) - es finden sich aber auch randseitige Lieder wie „11 O’Clock Tick Tock“ oder „Peace on earth“ in dieser Sammlung. Jedes Mitglied hat augenscheinlich 10 Lieder ausgewählt, denn 4 Teil-Alben tragen jeweils die Vornamen der U2s: Larry, Edge, Bono, Adam. Die Band hat die Songs größtenteils entschlackt, ihre Breitwandigkeit eliminiert und mit schlichtem Band-Sound - Bass, Gitarre, Gesang - aufgenommen - merkwürdiger Weise ohne Schlagzeug. Da Drummer Larry Mullen in letzter Zeit ohnehin leicht isoliert in der Band zu sein scheint und bei der Las-Vegas-Residency in diesem Jahr gar nicht spielen wird, nähren sich Spekulationen über dessen Ausstieg, wozu der Popticker jetzt nichts sagen kann. Aber wie dem auch sei: 40 Songs lang U2 ohne gigantische Edge-Gitarren-Flächen, ohne viel Produktionsaufwand, fast durchweg im gleichen Uptempo und ohne Schlagzeug - sorry aber: Schnarch!

Bildschirmfoto 2023-03-20 um 13.03.27Fanta 4 haben für ihre „Liechtenstein Tapes“ hingegen 15 ihrer Lieder neu aufgenommen und sich hierfür einen Bandsound ersonnen, der mutmasslich auch von ihrer Live-Band stammt - kaum noch Samples, funky-Bässe und Gitarrenlicks, hin und wieder mischt sich Hall unter Chöre und Bläsersätze oben drüber. Das ist zweifelsohne versiert in die Tat umgesetzt, aber wenn man ehrlich ist: So viel anders als die Originale sind diese Versionen dann auch nicht. Man kapiert einfach nicht den Mehrwert der Eigencover gegenüber ihren ursprünglichen Versionen.

Vielleicht liegt die lähmende Langweile der beiden Alben einfach an dem mangelndem Interesse an der Bands an ihren eigenen den Songs. Mit einer gewissen Berechtigung sind sowohl die Fantas als auch U2 offenbar davon ausgegangen, das Covern eigener Songs brächte als Konzept aufgrund der puren Nähe zum eigenen Werk bereits eine Idee für jeden Einlzelsong mit sich. Aber Covern existierender Lieder setzt auch immer voraus, dass man wirklich eine neue Idee an sie heran und in sie hinein trägt - ganz gleich, wer die Lieder schon einmal veröffentlicht hat. Aber hier herrscht wirklich zweimal gähnende Ideenleere. Nur das Cover von den Fantas ist wunderschön.


/// Songs zum Sonntag /// 111222 ///

Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.37.54/// „Asoziale Medien“ ist, wie man sich denken kann, ein kritischer Track über soziale Medien. „Chill Boomer“ , könnte man sagen, zumal, was der Sänger dieses Liedes, Sören Vogelsang, dann so sagt, ein wenig altbacken daher kommt, als würde die Sendung mit der Maus die Verführungen des Internets erklären - und zwar 2011: „Ich vergeude meine Zeit auf Facebook allein, ich hab’ 4000 Freunde, um einsam zu sein. Scroll durch Storys auf Insta, Doomscrolleffekt, die Leben der Anderen sind alle perfekt.“ - klingt ein wenig, als ob Rolf Zukowski mal nicht über die Weihnachtsbäckerei Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.14singen und hip sein möchte. Die Binsenweisheiten über soziale Medien eines Menschen, der eben diese nicht zu nutzen scheint, zeugen von einer derartig unerschütterlich Naivität, das der Song in seinem Acoustic-Folk-Rap irgendwann eine gewisse Eingängigkeit entwickelt. Ich fürchte nur: Von der Gefahr der sozialen Medien wird sich von diesem Lied niemand was erzählen lassen. /// Erstaunlich aber Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.35schon, wohin deutscher Rap heute alles klingen kann. Steffen Freund zieht seinen Song „Heimweh“ mit Trap-Beats und Autotune derart in die Breite, dass er mit dem Song problemlos auch im „ZDF“-Fernsehgarten auftreten könnte - wie soll man dieses Genre nun nennen? Schlager-Trap? Komische Zeiten im Deutschpop. /// Andere Wiese: Lana Del Rey hat tatsächlich schon wieder ein Album inpetto. Es wird ihr achtes sein und „Did you know, that there is a tunnel under the Ocean Boulevard?“ heißen. Und ebenso heißt auch ihr neuer Song, und ich muss ja sagen, ich höre mir das auch beim zehnten Album wieder an, obgleich an der Machart fast nichts ändert: Tiefe Klavier-Akkorde tupfen eine Melodie in den Himmel über LA, welche sepiatonal von Del Rey umschlungen wird, und aus der Ferne beschleichen Streicher ein Motel - wundervoll, wie hier immer noch ein Hollywood-Kitsch herauf beschworen wird, dessen Melancholie längst mit erzählt, dass er eine Chimäre ist. /// YoutubeLinks /// < asoziale Medien > /// < Heimweh > /// < did you know that there is a tunnel under the ocean boulevard > ///


Das Hit-Rezept

Elton John hat eine neue Form der Musealisierung seines Songs-Katalogs erfunden

He did it again - Elton John, der alte Haudegen, hat die Prinzipien seines Konsens-Streichs „Cold Heart“ in ein Rezept übersetzt und nach diesem Rezept dann wieder einen Hit gekocht. Das Rezept lautet hierbei: Nimm einen alten Schmachtfetzen von Elton John, Holdmelass Dir ein Uptempo-Dancebeat drunter legen, engagiere einen weiblichen Popstar als Duettpartner, und nimm eine andere Zeile als Titel - fertig ist die Laube. Statt „sacrifice“ hat Elton nun „tiny dancer“ überschrieben, statt Dua Lipa hat er sich Britney Spears ans Mikrofon geholt, wieder aber ist aus einer Pianoballade ein Killer-Ohrwurm mit 120 Beats per minute geworden, der Dancefloor-Qualitäten hat, aber auch noch als Lounge-Pop zum Martini funktioniert - Titel des Ganzen: „Hold Me Closer“. Aber natürlich sind trotz aller Parallelen die Vorzeichen andere: Während Dua Lipa mit ihrer „Pop als Dienstleistung“-Attitüde im Elton-John-Fahrwasser fluffige Bescheidenheit unter den Überhit hob, ist die blosse Anwesenheit von Britney Spears sechs Jahre nach ihrer letzten Song-Veröffentlichung und ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung aus der Vormundschaft ihres Vaters schon eine erfreuliche Sensation. Da kann „Hold Me Closer“ noch so unaufgeregt in die Ohren dotzen - hier hören wir auch pophistorische Meta-Ebenen mit, ob wir wollen oder nicht, und fast ist es so, als hätte Dua Lipa ihren Platz im virtuellen Raum eines Duetts mit Elton John geräumt, um Britney ein entspanntes Comeback zu ermöglichen. Das wirft automatisch die Frage auf: Was kommt als nächstes? „Blue Eyes“ als Uptempo-Ohrwurm im Duett mit Madonna, um diese aus ihrem aufkommenden Wahnsinn zu befreien? „Nikita“ mit Nelly Furtado? Oder „Goodbye Yellow Brick Road“ mit 120 Beat per minute zusammen mit Cindy Lauper? An möglichen Originalsongs aus dem Katalog von Elton und möglichen Partnerinnen für die Überschreibung mangelt es sicher nicht - der Popticker bewirbt sich mit genannten Ideen um einen Platz im Beraterstab von Sir John und wünscht ein schönes Wochenende.

 


Songs zum Sonntag

Bildschirmfoto 2022-07-17 um 11.05.38heute aus Norwegen /// 170722 /// a-ha / I’m in /// Seit einer Doku über die Band „a-ha“ wissen wir, dass die drei Norweger mitnichten drei enge Freunde sind, sondern für ihre Existenz als Band über Missgunst, Skepsis und Genervtheiten hinweg kämpfen müssen. Einmal haben sie sich auch schon aufgelöst und dann wieder zusammen gerauft. Nun erscheint Ende des Jahres eine neues Album, „True North“, und die erste Single ist soeben erschienen Sie heißt „I’m in“ und ist ein klassischer a-ha-Song: orchestraler Pathos, Harkets Falsett-Gesang und getragene Melodie - Bildschirmfoto 2022-07-17 um 11.05.19immer ganz nah zu Kitsch und Bombast bekommen sie auch hier wieder die Kurve zu nonchalantem Pop. So treu sie sich da also bleiben - brauchen tut man das nicht, aber dass sie das, was sie können, immer noch können, ist schon auch toll. /// Ka2 & Gabrielle / i natt /// Bleiben wir doch einfach mal in Norwegen: „Ka2“ spielen einen herrlichen Synthiepop mit sommerlichem easy-listening, ablenkend gut gelaunt und fluffig. Ihre neue Single mit der ebenfalls norwegischen Sängerin „Gabrielle“ ist in meinem iPhone schon zum Sommerhit geworden: Uptempo-Mittwipp-Beat, flächige Synths und herrliches Norwegisch, das ich so gerne höre - nordischer kann ein Song kaum in die Sonne passen. /// Links /// a-ha / I'm in (video) /// Ka2 & Gabrielle / i natt (audio) ///


ikonisch ironisch

Warum distanzierter Schlager überhaupt möglich ist

Commissario Brunetti ermittelt ja mitten in Venedig auf Deutsch - dieses ZDF-Konzept in Popschlager zu übersetzen, auf diese Idee muss man auch erst einmal kommen. Ob dieser Popentwurf aus der Brainstormhölle, in der Redaktion von Jan Böhmermann oder bei einer schwer durchzechten Nacht entstanden ist, wir wissen es nicht. Was wir indes wissen, ist dass dieser Entwurf in die Tat umgesetzt wurde und derzeit sogar auf der Spitze der deutschen Albumcharts steht: Auftritt „Roy Bianco & die Abbruzanti Boys“ - für diese Formation hat man sich eine fiktive Bandgeschichte erdacht und diese mit reichlich blödsinnigen Daten angereichert - frühen Erfolgen bei einem brasilianischem Schlager-Festival etwa, oder einem Debüt-Album namens „Greatest Hits“, dem Bandzerwürfnis und schliesslich dem Comeback mit dem derzeitigen Album „Mille Grazie“. 

Original

Man muss den deutschsprachigen Italoschlager dieses Longplayers nicht gehört haben, um erkennen zu können, dass wir es hier mit einem ironischen Popkonzept zu tun haben. Um so erstaunlicher ist aber, dass die Kernbotschaft dieser Musik, eine sich hingebende Leidenschaft für Italien, die Liebe und das Leben dennoch ungefiltert durch das ironische Breitband-Antibiotikum der unsinnigen Formation hindurch kommt. Und das bei einem derart antiseptisch unironischen Kern-Genre, dem Schlager. Wie ist das überhaupt möglich? 

Dazu muss man vielleicht erst einmal ein wenig ausholen.

In der Rhetorik ist Ironie bekanntermassen die erkennbare Diskrepanz zwischen Gesagtem und tatsächlicher Intention des Geäusserten. Die Erkennbarkeit erzielt man dabei mit Signalen der Distanzierung - zum Beispiel dadurch, dass man Gesagtes gestisch oder stimmlich markiert. Wenn zwei Menschen sich gut kennen, und unter ihnen die Ironie als Code anerkannt ist, muss Gesagtes nicht kenntlich gemacht werden. In der Kunst wiederum, in der sich Sender und Empfänger von Botschaften nicht unbedingt kennen, kann man sich auf ironische Effekte erst dann verlassen, 0602445062171wenn sie als künstlerisches Stilmittel etabliert sind - das muss man aber eben für jedes Werk, jeden Roman, jedes Skulptur neu tun. Das heißt praktisch nichts Anderes, als dass ich bestimmte Stilmittel bewusst übertreibe oder anderweitig abhebe, so dass sie augenscheinlich werden. In der Popmusik wiederum, bei der das bewusste Übertreiben, Zitieren, Markieren und kenntlich Machen ohnehin zu den konstatierenden Stilmitteln gehört, ist die Ironie also präsent, auch wenn sie als distanzierendes Mittel gar nicht gewollt ist - sie ist jenseits von Inhalten Resultat der Form und bezieht sich auch auf diese.

Diese Art der Formenironie wiederum erzeigt das große Referenz-Potential von Pop. Man kann sich der Inhalte bestimmter Genres nämlich zu eigen machen, in dem man deren Stilmittel übertreibt und anderweitig kenntlich macht. Wenn ich zum Beispiel in einem Folksong Flamenco zitiere, distanziere ich mich nicht von dessen potentiellen Inhalten, sondern lasse diese im Gegenteil bewusst mitschwingen. Womit wir bei der Antwort auf die Frage angekommen wären, warum es ironischen Schlager überhaupt geben kann - im Übrigen sind  „Roy Bianco & die Abbruzanti Boys“ natürlich nicht die Ersten, die das versuchen. Dagbobert beispielsweise, der große schweizer Liebes-Skeptiker mit dem tiefen Glauben an das Lied, hat den Schlager bereits philosophisch mit Indiepop unterwandert; Alexander Marcus hat einen Soundtrack für die Fusion von Schlager-Move und Loveparade erfunden, der Musiker Drangsal hat kürzlich erst Postpunk in die Schlagernachhilfe geschickt und dafür sogar vom Feuilleton gute Noten bekommen, und die „Crucci Gang“ hat Klassiker des Deutschpop durch eine italienische Espressomaschine gejagt - schade übrigens, dass es die Spex nicht mehr gibt.

Doch zurück zum Italo-Schlager: Auf Deutschlandfunk wurden die beiden Kernmitglieder von  „Roy Bianco“ & die Abbruzanti Boys“ gerade interviewt (namentlich Herr Roy Bianco und Herr Abbruzanti Boys), und in der Ankündigung zu diesem Beitrag wurde deren Presse-Info zitiert, nach der sie das fiktive Narrativ dieser Band niemals verlassen würden. Leider erwiesen sich die beiden Interviewten dann eher als mittelmässige Darsteller ihrer selbst erschaffenen Kunstfiguren: Ihrem feinsinnig ironisiertem Italo-Pop-Schlager sind sie sozusagen schauspielerisch nicht gewachsen. Dennoch eine bemerkenswerte Veröffentlichung, in der die Kulturgeschichte der Ironie skizziert ist - Konzeptpop von hoher und gleichzeitig unfassbar blödsinniger Schule.


Perpetuum Latinpop

Camilla Cabellos neues Album ist herrlicher Referenz-Eskapismus

Bildschirmfoto 2022-04-14 um 12.01.29Die Musik von Camilla Cabello ist eine Salsa-Essenz im Fahrwasser von Bubblegumpop. Der Signature-Song dieses Entwurfs ist natürlich ihr erschreckend eklektischer Über-Hit „Havana“, der vier Minuten auf dem Ur-Pop-Riff E-moll, C-Dur, B-Dur7 beruht, und mit dessen Video Cabello auch die Signature-Visualisierung ihrer Musik gezeigt hat: < In dem Clip > ist sie sowohl Zuschauerin als auch Schauspielerin einer Soap und deren Spin-Off im Kino, und diese Soap ist in einer Community angesiedelt, die ohne finanzielle oder sonstige Probleme einem Hedonismus nachhängt, in dem Erotik, Leidenschaft, Tanz und Musik die wesentlichen Tugenden sind. Von Cabello gespielte Kunstfiguren träumen sich einerseits in diese Welt hinein und sind anderseits deren wichtigste Repräsentantinnen. Der Eskapismus, der in diesem Konzept steckt, ist also mithin vielschichtig: Die gezeigte Community scheint ihren eigenen Soundtrack einerseits hervor zu bringen, andererseits richtet sich die Musik wiederum an seine fiktiven Urheberinnen. Als würde eine Telenovela sich auch an die Charaktere ihrer eigenen Handlung wenden, und die Charaktere dieser Handlung bringen diese auch hervor, weil sie sie als Zuschauer:innen verfolgen und deuten.

Welch wundervolle Rückkopplungen! Die Musik von Camilla Cabello ist die Referenz an einen Latino-Pop, den es in seinem Aggregat eines fiktiven Soundtracks in Wahrheit eigentlich nicht gibt, der von Cabello nur dadurch, dass sie sich auf ihn bezieht, herauf beschworen wird - ein Popentwurf im Geiste des Perpetuum mobile. Das heißt im Übrigen nichts Anderes, als dass diese Musik brillant ist: Auf ihrer neuen Langspielplatte „Familia“ zelebriert Camilla Cabello diesen, ihren Minimal-Latinpop in bescheidener Virtuosität. Mit wenig Pinselstrichen werden da Beat-Betten aus Reaggeton und Samba mit klassischen Latin-Harmonien besprenkelt („Celia“), synthetische Streicher als Salsa-Bläsersätze arrangiert („la buena vida“) oder fluffiger Synthiepop in psychodelische Hallräume überführt („Psychofreak“ feat. WILLOW) - und von dem Song, den Cabello gemeinsam mit Ed Sheeran gemacht hat, war < hier > schon die Rede.

Cabellos bunt gesprenkelte Zucker-Welt mit antiseptischem Rum und sanfter Tanz-Erotik ist somit visuell wie akustisch eine Scheinwelt, mit der nicht gezeigt werden muss, dass vieles in Wirklichkeit doch komplizierter ist. Mit dieser Strategie kreieren sich aus dem Nichts in banalen Popräumen merkwürdige Meta-Ebenen, und was anderes ist denn Pops Hauptanliegen, wenn nicht unter bestürzend banalen Mitteln ungeahnte Tiefen aufscheinen zu lassen: Wer so wundervoll und offensichtlich lügt, kann auf die Wahrheit verzichten.


Breitwandpop und Kleinkunstrap

Ohren auf Deutschpop werfen, Folge 21: Madeline Juno, Maeckes und Nico Suave

Bildschirmfoto 2022-01-27 um 10.32.33Madeline Juno will nie wieder nach Neukölln. Warum eigentlich nicht? Dort zu sein, erinnert sie an Gefühle, die sie nicht mehr fühlen will, lieber würde sie sich „ihr Herz mit Teer auffüllen“ lassen, „denn wenn es kalt wird, ist es endlich still“. Man kann es nicht anders sagen: Als Opener eines Albums ist der Song „Neukölln“ ein wenig depressiv und insofern dramaturgisch ungewöhnlich. Anders gesagt: Dass die Popmusik tiefgründiger wird und nicht nur sporadisch an der Oberfläche blinken möchte, ist ein Trend, der sich mittlerweile auf die verschiedensten Sub-Genres ausweitet. Da bleibt eben auch der Deutschpop nicht aussen vor, und schon gar nicht im Falle von Madeline Juno, deren Hinwendung zur deutschen Sprache, früher sang sie Englisch, mutmasslich schon auf der Suche nach tolleren, tieferen, näher gehenden Popsongs erfolgte. Gleich im zweiten Lied auf ihrer neuen Platte „Besser kann ich es nicht erklären“ erzählt sie von einer Beziehung, die nicht zuletzt im Gespräch mit ihrem Therapeuten inzwischen „obsolet“ geworden ist. Die Texte, die Juno schreibt, operieren nicht mit den typisch deutschpop-lyrischen Versatzstücken. Zumal sie es zum Beispiel in besagtem Song „obsolet“ hinbekommt, die Zeilen im Sinn immer hängen zu lassen, über das Ende der Sätze bestehen zu lassen, so dass der Inhalt sich im natürlichen Sprachrhythmus nicht dem Versschema des Liedes unterordnet. Das ist eine große Kunst, die beim Song-Schreiben wenige beherrschen: „Noch immer find ich in Jackentaschen / Ein paar deiner Sachen / Hast du sie dagelassen / Damit sie mich kaputtmachen? / Mein Therapeut sagt, ich soll mich glücklich schätzen.“ Ich finde nur leider die Musik hält nicht mit den Texten mit. Die Melodien, der Sing-Duktus, die Refrain-Verschiebungen, alles das kennt man aus dem ABC des Deutschpops, und auch die Arrangements folgen klassischen Schemata mit räumlich aufgeputschtem, aber an sich klassischem Akkustikpop mit der ein oder anderen Synthie-Prise - alles recht hübsch gemacht, aber nirgends so aufregend, wie Madeline Juno Lieder schreiben kann. Ändert trotzdem nichts daran, dass dieses Album aus dem Deutschpopeinerlei heraus ragt - in der Summe äusserst hörenswert.

Bildschirmfoto 2022-01-27 um 10.31.25Nico Suave hat sich auf dem Deutschpop aus Richtung des Raps zugewandt - es scheint, dass adäquat, zum Schlager, welcher Deutschsingenden verlockende Identitätsangebote macht, der Deutschpop seinerseits Interpret:innen, die sich in ihrem angestammten Genre unsicher fühlen, Versprechen macht: Wenn sie sich im Deutschpop heimatlich einrichten, bekommen sie eine Art Karriere-Franchise-Vertrag. Suave jedenfalls hat nicht die Sprache seiner Musik gewechselt, sondern er hat dem Rappen entsagt und singt auf seinem neuen Album "Gute Neuigkeiten" also nun. Naturgemäss finden sich in seinem Popentwurf nun Spuren aus ohnehin schon übersetzten Partikeln von amerikanischem RnB, HipHop-Beats und Deutschrap. Daraus mischt sich ein merkwürdig indifferenter Breitwandpop mit viel Hall, Aaaahs, Ooooohs und Uuuuuhs und merkwürdig alltags- und alters-skeptischen Texten: „Wir tauchen ab und gehn auf Road über Felder und Schleichwege, keine Business-Calls keine Zeitpläne, kein GPS, keiner Bildschirmfoto 2022-02-01 um 08.56.48kann uns orten und findet uns hier, angenommen verbotene Dinge passieren, we disappear“ - naja, das sind schon, wie er es singt und dichtet, noch Ideen des Rappens drin, aber es wird nichts recht Neues draus, die Umorientierung bleibt diffus, was manches Mal auch ganz sympathisch ist.

Ebenso irgendwo zwischen Deutschpop- und -rap tummelt sich Maeckes, der zuweilen auch schauspielert und Hip Hop in einen intellektuell konsumkritischen Kleinkunstpop übersetzt. Wenn man seine neue Platte „POOL refill“ anhört, bekommt man eins ums andere Mal das Gefühl, man hört einem jungen Stadttheaterschauspieler zu, der bei einem Liederabend rappen soll, und der hippe Theatermusiker probiert auch einmal Autotune fürs Abonnement aus: „Alle Menschen sind gleich / EASY / aber Amazon prime gehört halt Jezz Bezos allein / GANZ EINFACH / wir alle haben die gleich Chance / EASY / wie dumm, dass da einige die scheiss Jobs freiwillig machen / der Wohnungsmakrt wird geregelt vom kapitalistischen Prinzip / EASY / und mit bestimmten Nachnamen gibt’s halt kein Besichtigungstermin“ - mehr Wokeness bekommt man wohl nicht in vier, fünf Zeilen. Dieser Art Rap ist so antiseptisch aufgeweckt, dass man erschreckt einschläft.


Welcome to the Tik-Tok California

Der Konsens ist vom Album in den Einzel-Song gewandert

Wir wissen nicht, ob der viel beschworene Tod des Albums jemals eintreten wird, aber abgesehen davon, dass totgesagte ohnehin länger leben und der Playlisten-Boom eventuell schneller abebben könnte, als das den Content-Providern namens Streaming-Diensten jemals lieb sein könnte, gibt es ein Phänomen der Popkultur, das durchaus dahin siecht: Das Konsensalbum. Die Platte also, die alle haben, meist auch unabhängig davon, wieviel sie dann jeweils gehört wurde oder bis heute wird: R-1089760-1191248179Dire Straits’ „Brothers in Arms“, Portisheads „Dummy“, „Peter Frampton comes alive“, der blaue und / oder der rote Beatles-Sampler, Norah Jones’ „Come away with me“ oder Alanis Morrissettes „Jagged Little Pill“ - um nur ein paar zu nennen. Das Album jedenfalls, auf das sich eine gewisse Zeit alle einigen können.

Aber es gibt natürlich eine Sehnsucht nach dem Konsens, in der Popmusik ist sie ja geradezu konstatierend, aber derzeit eben wird diese Sehnsucht vor allem durch einzelne Songs herauf beschwört und oder (zum zweiten Mal in diesem Text, wow) auch befriedigt. In diesen Songs fallen dann oft bestimmte Erscheinungsformen von Popmusik zusammen, wie ja ohnehin die Produkte des Pops Gefässe verschiedenster visueller, sozio-kultureller und natürlich hörbarer Phänomene sind, und bei den Konsens-Songs, die ich meine, kommt noch hinzu, dass es Lieder betrifft, die auf Vinyl ebenso wie auf CD und im Streaming sowie in sozialen Netzen ein Präsenz entwickeln. Auf Tik-Tok beispielsweise und kollateral wahrnehmbar auch auf Instagram spülen derzeit immer wieder Lieder aus der Schnittstelle von Rock und Pop aus der Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er an die Oberfläche. Da gab es den Skater, der Cranberries-Saft trinkt, Elton-john-dua-lipa-cold-heart-pnauund dazu erklang „dreams“ von Fleetwood Mac, es wurde dem Song „Africa“ von Toto gehuldigt, und jeder Gitarrist, der etwas auf sich hält und das in den sozialen Netzwerken zeigen will, spielt die Solis aus „Sultans Of Swing“ und / oder (3x, Hammer) „Hotel California“ nach. Was diese Lieder gemeinsam haben, ist eine gewisse Unschuld, eine harmonische Weltsicht jenseits von Corona und Klimawandel - auch wenn man das über „Hotel California“ sicher nur über die Musik aber nicht über den Text sagen kann.

Mit gleicher Sehnsucht nach Konsens und nach Wohlfühl Pop ohne Schrägen und Kanten lässt sich vermutlich der wahnsinnige Erfolg der Single „Cold Heart“ von Elton John und Dua Lipa erklären. Der Song ist an sich ein Selbst-Cover Johns und heißt im Original „Sacrifice“. In seiner Urform ist das ein klassische Pianopop-Ballade wie sie Bernie Taupin zu dutzend für Elton John geschrieben hat, aber in der nun seit Monaten in den Top-Ten befindlichen Neuaufnahme wird eine Uptempo-Dance-Pop Nummer mit einer Prise britischen RnBs von Dua Lipa draus - anschlussfähig an Justin-Bieber-Hörer:innen ebenso wie für 49-Jährige Popfans. Ich habe den Song auch gekauft.

Der Konsensfaktor von „Cold Heart“ bietet dabei auch die Bestätigung meiner alten These, dass man in der Popmusik das Neue wieder-erkennt - wir kennen das und können uns doch zunicken: „Das ist fresh! Dua Lipa Ey!“ und gleichzeitig denken wir „Jaja damals, der Elton John.“ (Das geht sogar so weit, dass man bei beiden beiden Versionen meint, „Coco-Heart“ zu hören, obgleich die Lyrics nominell„cold cold heart“ lauten.) Wenn Nostalgie früherer, sorgenfreier Popmusik also in heutigen Netzwerken gepflegt wird, bringt das Post-Charts-Hits hervor. Die Frage, ob jemals jemand „Peter Frampton comes alive“ gehört hat, muss aber auch heute unbeantwortet bleiben.


Songs zum Sonntag /// 281121 /// heute: Chanson aus Kanada

Lys/// Der französische Chanson treibt gerade auch in Kanada wundervolle Blüten - Lou-Adriane Cassidy (siehe einen Post weiter unten) ist da nicht die Einzige. Die Songschreiberin und Sängerin Lysandre hat einen subtilen Loungepop für sich erfunden, der mit überraschenden Melodien und kompaktem Band-Sound zum Rotwein-Trinken äusserst geeignet erscheint. Als Signature-Song ihrer bisherigen Veröffentlichungen, ein Album soll im Frühjahr 2022 kommen, könnte man den Song „le paon impossible“ bezeichnen: Dotzender ArinaeShuffle-Beat mit fluffigem Snaresound, beiläufig schnippischer Gesang und funky Bassorgel vermengen sich zu einem gut gelaunten Chansonschaum - herrlich. /// Ariane Roy mag vergleichbar beiläufig französisch singen - ihr Popentwurf ist ei anderer. Synthiepop ohne Drumcomputer, Indie könnte man auch sagen. Ihr auch gerade erst erschienener Song „Quand je serai grande“ klingt, als habe sie im letzten Moment entschieden, den Song schneller zu spielen, als sie ihn Fannyeigentlich komponiert hatte. Dadurch entsteht ein kompakter, wohliger, tanzbarer Groove mit nerdigen Synthie-Klängen und schöner Melodie. Wundervoll. /// Und noch einmal Chanson aus Kanada: Fanny Bloom kann auch herrlichen Buublegumpop, aber ihr neuester Song „Revivre“ ist eine zerbrechliche Pianoballade, die fast aus den Lautsprecher verschwinden könnte, ohne gehört zu werden - ein Klavierbett aus einfachen Arpeggi, schleichender Gesang und urplötzliche Holzbläser-Einwürfe - eine Lockdown-Aufnahme mit einer der längsten Generalpausen, die ich je in einem Popsong gehört habe. /// Alle drei Sängerinnen sind auf der ohnehin sehr lohnenswerten Plattform "Bandcamp" vertreten. Hier die Links ihrer Profile dort, wo man auch die jeweils erwähnten Songs findet: < Lysandre > /// < Ariane Roy > /// < Fanny Bloom > /// auf Bandcamp könnt ihr auch mir folgen: < Hier > ///


Weinschwangerer Ernst und 80s-Presets

RauchPop in Startblöcken - Folge 02 /// Bei der noch sehr jungen Band „Herr Rauch“ denkt man zunächst an Austropop - den Spagat zwischen, Witz, Wahnwitz und weinschwangerem Ernst traut man deutschsprachigem Pop höchstens zu, wenn er den Zynismus des Wiener Schmäh intus hat. Und auch wenn man die Musik dieser Band ohne den österreichischen Vergleich beschreiben möchte und zum Beispiel liest, wen die Musiker auf ihrer Website als Einfluss nennen, bleibt man bei der Vokabel Spagat: Rio Reiser, Udo Jürgens, die Ärzte und Hannes Wader - das muss man auch erst einmal in einen Popentwurf zimmern. Bei „Herr Rauch“ kommen zu den von ihnen Genannten schöner Weise schmockig-volkige Bläser dazu, die sie aus der Russendisko geliehen haben könnten. Aus diesem wilden Stilmix und leichtem bayrischem Einschlag des Sängers brauen die vier Musiker einen Kneipen-Singalong-Rock zusammen, dessen Format mutmasslich eher das Konzert als die Langspielplatte ist - wenn man mich fragt, was ich von dieser Band lieber Flykehätte jedenfalls, Tonträger oder Konzert, ich würde Konzert sagen, denn die Musik klingt so, als sei im Probenkeller bei einem Kasten Bier entstanden und als könnte diese Band sich die Finger wund spielen, bis auch in der letzten Reihe angekommen ist, dass Rock nicht tot ist. /// Die 80er-Revival-Wellen kann man inzwischen schon gar nicht mehr zählen. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Techniken, die in den 80ern den Pop in den Zustand versetzten, sich vom Rock emanzipieren, heute auf ein Handy passen. Die Presets, um so zu klingen, wie es in den 80ern neu war, stehen zu Verfügung, und man braucht eigentlich nur ein wenig Know-How, ein gutes Mikrofon und ein paar social-media-Accounts - los geht’s. Man muss aber natürlich auch wissen, wohin man damit will, wenn man Synthiewave musiziert, denn nicht allgemein verfügbar ist mit den Preset-Sounds eine musikalische Identität, eine Dringlichkeit, warum klingen will, wie man klingt. Bei dem Hamburger Musiker Chris Flyke fehlt mir ein wenig die Antwort auf diese Frage: Warum klingt er also nach den 80ern? Handwerklich sind die 15 Songs seines Debüt-Albums „digital bubblegum“ Nicogut gemacht, auch die Songs haben den Mix aus Eingängigkeit und leichter Überraschung, den man für einen Hit braucht, aber man spürt keinerlei leidenschaftliche Verbindung zwischen Flyke und seiner Musik - in der Hinsicht ist da noch Luft nach oben. /// Genau umgekehrt geht mir das bei dem jungen Sänger Nico Benjamin: Sein Synthpop atmet die Dringlichkeit von souligem Mut, hier will sich jemand mitteilen, und er hat das Besteck dazu, das in Songs zu tun - „till the break of dawn“ ist eine Ode an die Nacht, die nur beim ersten Hören aus den üblich verdächtigen Textbausteinen englischer Poplyrics gebaut zu sein scheint - beim zweiten Hören merkt man die persönlichen Nuancen, die hier gesetzt sind. Die Produktion der eigenen Lieder klingt aber doch ein wenig eindimensional und erwartbar - hier ist hier noch Luft nach oben. Aber eben jenes „till the break of dawn“ läutet den Release einer EP ein, und auf diese darf man allemal gespannt sein. /// 

Links zu den Erwähnten: 

< Website Herr Rauch >

< Website Chris Flyke >

< Youtube-Channel Nico Benjamin >