Wer den jeweils aktuellen Mainstream verachtet und alt genug ist, zu finden, dass früher alles besser war, der formuliert eben diese These im Bezug auf die Popmusik oft genug mit der Bemerkung, heute klänge doch eh alles gleich. Ich bin zum Beispiel in den 80ern popsozialisiert worden und kann mich noch gut an Kommentare erinnern, der ganze Synthie-Quatsch klänge gleich; und ich selber fand dann später in den Nullern, die 90er hätten doch nur Eurodance und Grunge hervor gebracht (was natürlich auch stimmt). Und inzwischen kann dann ich über die Zehner sagen: Dat klingt doch heute eh alles gleich. Und auch hier sollte konstatiert werden: Das stimmt auch ein wenig.
Dies ist kein weiterer Artikel über „the Voice of Germany", aber ich bin durch diese Show auf diese meine These gestossen, dass Popsubgenre Soulpop inzwischen den globalen Mainstream in Geiselhaft genommen hat, aber um nun diese These einmal jenseits der Castingshow einem Nachhaltigkeitstest zu unterziehen, habe ich einmal die iTunes-Charts durch gezählt und kam auf folgendes Ergebnis: In den derzeitigen Top 100 sind selbst bei vorsichtigem Definitionskreis 37 Songs dem Soulpop zuzurechnen - das sind, ich Mathegenie ich: 37%. Bei den Top 100 der iTunes-Jahrescharts 2017 komme ich gar auf 45 Songs, fast die Hälfte also.
Zeit einmal eben diesen Definitionskreis einzukreisen und zu definieren: Was meint der Popticker mit Soulpop? Soul ist natürlich zunächst einmal das vielleicht wichtigste Genre der afroamerikanischen Unterhaltungsmusik, entstanden aus Rhythm & Blues und Gospel und mithin dadurch schon per se politisch oder zumindest von sozialer Bedeutung. Über die Umwege Funk, Disko, Michael Jackson und Hiphop erfand der Soul sich in seiner Pop-Variante, und als in den Nullern auf einmal die Trümmer aller Umwege auf der Straße verstreut herum lagen, kamen findige Pop-Produzenten auf die Idee, die Trümmer einzusammeln, zu sampeln und neue Beats und melodische Soundgerüste daraus zu bauen und damit gleichsam Rapper und SängerInnen mit Playbacks zu versorgen. Im gewissen Sinne brachte der Super-Produzenten-Hype um Dr Dre, Timbaland, Neptunes (und viele andere) schliesslich aber mehr Instrumental-Tracks hervor, als vorhandene Stars berappen oder besingen konnten. Diesen Überschuss zu Pop zu verfertigen sahen dann Sängerinnen wie Rihanna, Britney Spears oder Christina Aguilera als ihre Chance - und ergriffen sie. Zudem schnipsten weltweit SongschreiberInnen mit den Fingern, damit die RapperInnen auch Texte zum Rappen und die SängerInnen Texte zum Singen bekamen. Aus der daraus resultierenden Zusammenarbeit von Songwriting-Teams und Soundtüftlern entstand so eine Hit-Industrie, die ihren Höhepunkt des quantitativen Output in diesem zu Ende gehenden Jahr 2017 fand: Eine Schwemme von funktionalem, industriellem Pop, der nur im entferntesten Sinne mit dem Soul zu tun hat, dem er sich gerne nahe fühlen würde. Diese Schwemme hat sich inzwischen derart algorhytmisiert und verselbständigt, dass heutzutage Hits tatsächlich planbarer als je zuvor sind. Der Soul, der in den Songs dieser Pop-Industrie steckt, ist eigentlich nur noch das Konzentrat und Klischee von Emotionen aus längst vergangenen Zeiten, aber all die Rita Oras, Rihannas und Aria Grandes brauchen dieses Konzentrat, um ihre Musik, die so gar nicht aus ihnen stammt, als authentisch verkaufen zu können. Das Verheißung-Versprechen von jeglichem Pop speist sich so aus der afroamerikanischen Popgeschichte, und dieses Versprechen ist das, was ich mit Soulpop meine.
Natürlich ist diese meine Verkürzung der Darstellung von Pop-Zusammenhängen eine kulturhistorische Unverfrorenheit, aber das anonymisierte und globale Parallelwerkeln an eigentlichen Einzelheiten von Popmusik - hier schnibbelt ein amerikanischer Studio-Besitzer an einigen Tracks, in Schweden saugt sich ein Think-Tank von KomponistInnen und Song-LyrikerInnen ein Liebeslied aus den Fingern, und weil ein Berater-Team von Rihanna beides in die Hände bekommt, und die RnB-Sängerin wiederum den richtigen Riecher für einen Hit hat, findet schliesslich beides zusammen - diese Entstehungsgeschichten aktueller Hits sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Und ob man entsprechend anonymisierte Musik nun bewusst oder unbewusst mit einigen Prisen Soul (sei es in den Harmonien, den Phrasierungen, den Sounds oder den Themen) würzt, es bleibt zumeist bei seelenloser Musik, deren emotionale Leerstelle sie so konsumerabel macht.
Es würde in diesem Sinne durchaus auch Sinn machen, hier von Postsoul zu sprechen, aber dieser Begriff ist dann doch zu wertend und würde suggerieren, Soul sei überwunden und tot. Aber es gibt ja durchaus auch heute noch veritable Soulmusik, die empathisch und emphatisch das tut, was Soulpop nur simuliert - deswegen der Begriff des Soulpop, der übrigens sowohl von der InterpretInnenseite als auch seitens des Songwritings von weiblichen Sängerinnen und Komponistinnen dominiert wird
Und wie hört sich nun der durchschnittliche Song dieses derzeitigen Pop-Durchschnitts an? Der durchschnittliche Soulpopsong ist eine Uptemponummer, die versucht ihren Beat so vage zu halten, dass man ihn möglichst lange als Tanz-Rhythmus wie auch als Ballade interpretieren kann. Das funktioniert oft über eine extreme Reduktion, Synthie-Flupps, die klingen, als wären sie schon mit Beats versehen, dazu ein Klackern, ein digitales Fingerschnippsen (Dua Lipa „new rules“, Julia Michaels „issues“, Ed Sheeran „shape of you“, Rita Ora „your song“, Justin Bieber „sorry“, Selena Gomez „hands to myself“) - auf diesen schlanken Soundgerüsten platziert sich dann eine Gesangsmelodie, die meist sehr wortgefüllt ist, die also ein höheres Tempo zu haben scheint, als das bis dahin etablierte Instrumental, ein rhythmisches Sprechsingen, das leichte Melodiebögen fast automatisch durch die rhythmische Phrasierung findet - man höre sich hierzu in den bisher aufgeführten Beispielen die Lieder von Ed Sheeran, Dua Lipa und Rita Ora an, drei Songs, die tatsächlich extrem ähnlich klingen, und deren Melodie ohne den Rhythmus auf dem sie a aufbauen, eine musikalische Unverschämtheit wären.
Die reduzierte Instrumentierung birgt natürlich das Potential, den Song im Angesicht des ersten Refrains, mit weiteren Klängen nach und nach aufzufüllen: Bass, Kickdrum, ausschmückende Melodie-Linien, Gitarren-Licks (Hailee Steinfeld „starving“, Fergie „enchanté“, Jessie J „not my ex“, Justin Bieber „sorry“, Sabrina Carpenter „why“), um dann bei einer Bridge wieder das Feld ein wenig aufzuräumen, was oftmals auch zu einer reinen Instrumental-Bridge führt (wie in den zuletzt genannten Songs die Beispiele von Hailee Steinfeld und Fergie der Fall).
Spätestens nach 45 Sekunden muss der Refrain folgen (was auch noch mal zur 15-Sekund-Modul-Regel zurückführt, - mehr dazu im Post < hier >). Im Refrain lässt sich mit verschienden Mitteln eine emotionale Steigerung simulieren, beispielsweise durch digitalen Chorsatz: Wir hören die SängerIn also mehrstimmig oder aber mit einem Feature-Gast singen - hinzu kommt oft die klassisch eine Quart höhere Setzung des Chorus (Alessia Cara „scars to beautiful“, faktisch alle Lieder von Sia, Charlie Puth „attention“). Weiteres Steigerungselement können kleine Percussion-Einsprengsel im dadurch aufgefrischten Rhythmus sein, wodurch sich dann auch oft gut in die zweite Strophe überführen lässt (Demi Lovato „sorry not sorry“, Hailee Steinfeld „most girls“, Jessie J „bang bang).
Sofern es eine dritte Strophe gibt, gehört diese einem Feature-Gast - meist ein Rapper oder eine Rapperin, in 50% der Fälle ist das dann Nicki Minaj, oder - naja - jedenfalls oft, wenn Nicki Minaj aber nicht dabei ist und auch kein anderer Feature-Gast, dann bekommen wir es mit einem B-Teil zu tun. B-Parts sind grundsätzlich ein erodierendes Songphänomen, in besagten Soulpop-Durchschnittsongs sind sie oft nur Sound-Schleifen, ein Wiederhall von bereits Gehörtem, Strophenmaterial oder soundverfremdete Zitate aus dem bisherigen Song, das sich sich umstandslos wieder in den den dritten und letzten Refrain überleiten lässt (Aria Grande „they don‘t know“, Shawn Mendes „bad reputation“, Sabrina Carpenter „why“, Halsey „bad at love“) - fertig ist das Mondgesicht mit einer durchschnittlichen Dauer von 3:30.
Signifikant an allen meinen Beispielen ist, wie easy sich diese finden lassen - man muss eigentlich nur eine These aufstellen, die man schon nach 5 Minuten Googlen mit zehn Liedern bewiesen sieht - zwar wird jetzt sicherlich keiner alle diese meine Beispiele durchhören und sie auf ihre Beweislast testen, aber ich kann doch empfehlen, einmal die Durchschaubarkeit aller dieser Lieder zu überprüfen, indem einfach mal auf iTunes in den 2017er Jahrescharts jedes Lied für zehn Sekunden anhört - man merkt kaum, dass das alles von verschiedenen Personen sein soll - die Gleichförmigkeit, die Hit-Uniform ist schlicht frustrierend.