hier hat sich einer so gar keine Mühe gegeben

Wikipedia-Seemannsgarn

Der Popticker arbeitet sich einmal wieder an dem Phänomen "Santiano" ab

Der Shanty-Rock-Entwurf von Santiano ist ein in sich so klar definiertes Sub-Sub-Genre mit gleichzeitigem Mainstream- und Erfolgsanspruch, das in seiner Praxis kaum mehr Spielraum für Veränderungen bleibt - die Band liefert linear und in stetem Zeit-Rhythmus ihr Patentrezept als Album ab, Dagegen kann man nicht viel haben, denn das Rezept hat sich nun mal bewährt, aber für Bildschirmfoto 2023-11-06 um 14.05.38den Aussenstehenden ist in diesem strengen Output kaum ein Unterschied zwischen den Alben auszumachen. Das ist auch im Falle von „Doggerland“ so, ihrer neuesten Platte - wieder hören wir Männerchöre und Mittelalter, Hardrockanleihen und Folkarrangements. Erstaunlich an dem Santiano-Konzept ist dass dessen starrer Popentwurf seinen Authentizitätsanspruch aus der Vorstellung generiert, hier seien Musikanten am Werk, deren Anspruch und Könnerschaft es ist, dies diese Musik hervor bringen. Komponisten und Texter der Lieder der aBand sind aber vielbeschäftigte Songschreiber und Produzenten, die zumeist aus den Schlager und dem Mittelalterrock stammen und einer Band wie Santiano die Lieder auf den scheinbaren Seemansleib schreiben. An der Idee Santiano ist also an sich nichts authentisch und alles männlich.

Doggerland ist im Übrigen ein Gebiet im Nordsee-Becken, das heute überflutet ist - früher aber als Landzunge das Jütland mit Großbritannien verband. Sein mythisches Potential erkannten nicht erst die Song- und Schlager-Schreiber von Santiano sondern in der Vergangenheit auch immer wieder nationalsozialistische Ideologen, die in jenem Doggerland die Urheimat der Germanen phantasierten. Damit will ich nun nicht der Band Santiano nationales oder gar rechtes Gedankengut unterstellen, aber wenn ein paar googelende Texter für Santiano dies hier dichten: „Ich war in Doggerland / Und ich sah seinen Untergang / Jeden der dort verschwand / Hab’ ich gekannt / Ich war in Doggerland / Tief versunken im Nordseeschlamm / Dort liegt das Doggerland“ - dann hätte sich schon einer von diesen dichtenden Männern überlegen können, jegliche ideologische Vereinnahmung mit ein paar Zeilen zu unterbinden. Dass das besungene Doggerland nun anschlussfähig in alle Richtungen in den Tiefen der Nordsee versunken liegt, erscheint mir ein wenig naiv - das müsste nicht sein. Aber statt sich des riskanten Fahrwassers, in das man sich hier begeben hat, bewusst zu sein, geht man lieber kein ökonomisches Risiko ein, potentielle Hörer:innen zu verprellen, deren Weltbild man vielleicht nicht gerade teilt.


Reissverschluss klemmt - was heute erscheint

L7_Bqq3ADie Freitagskolumne /// Die Wohnung als solche oder die nach einer Bleibe ist natürlich ein fester Topos im Setzkasten der Poplyrik; weil das Dach über dem Kopf, ohne dass man etwas dafür tun muss, mithin allegorisch ist: Wo soll ich hin? Wo bin ich zuhause? Solche Fragen sind gestellt, wenn ich die Wohnung auch nur erwähne. Insofern nimmt es nicht wunder, wenn Julia Kautz, ihres Zeichen langjährige und erfolgreiche Deutschpop-Songwriterin, auf eben diesen Kniff zurück greift und den Text ihrer zweiten Solosingle „kaputt“ so beginnt: „Eine Zweiraumwohnung mit einer Einbauküche ist das Verliess der düsteren Gedanken“; dazu hören wir glasklare Synthieflächen und simplen Gesang - weit und breit kein Verließ und keine düsteren Gedanken. Das macht aber ja auch nix: Eine Musik-Text-Schere kann ja sehr produktiv sein, aber hier kommt nicht so recht Wind in das Lied, das auch immerhin kaputt heißt, ohne irgendwo kaputt zu sein. Da Julia Kautz aber aber eben gewieft genug ist, Sprachbilder für Popsongs zu kreieren, die zwar naheliegend sind, aber dennoch Räume eröffnen, merkt man nicht, dass dieser Song wohl ein wenig langweilig ist - und genau in diesen Widersprüchlichkeiten ist das Ganze dann doch wieder spannend oder macht jedenfalls Lust darauf, weiter zu verfolgen, was diese Sängerin noch so veröffentlichen wird. GhnnY7Ly/// Was Julia Kautz an Professionalität und Erfahrung mitbringt, kann Rahel, aus Wien, so nicht vorweisen, aber das ist vielleicht auch ganz gut so: Ihr in den 80ern, Austropop und Indierock gebadeter Soundentwurf lebt zumindest auf ihrer heute erscheinenden Single „Schaffner“ von einer gewissen Wuschigkeit, die sich ihrerseits aus einer gehörigen Portion Naivität speist. Mir gefällt das sehr gut; der Song klingt anfangs zumindest sehr nach Mia Diekow und ihrem fantastischen Album „Ärger im Paradies“ (kleine Randnotiz *), dann aber hört man auch sehr Wien und Pop aus Bilderbuch aufscheinen: „Siehst du jetzt wie gut es ist / Dass du doch noch geblieben bist / Das Tischtuch im Speisewagen / Passt zu rosa Schnurrbarthaaren / Alle ham vergessen / Ob sie männlich oder weiblich waren / Den Strohhalm durchs Fenster / Einfach in das Meer hinein / Es ist gar nicht salzig / Es ist echter Veltliner Wein.“ - wunderbar getextet! /// In den 80ern gab es ja das Internet noch nicht, aber es gab Posterversandhändler, die den Preis für jedes Einzelposter verringerten, je mehr man bestellte, und daher gab man dann die Kataloge in der Schule rum. Ein Subgenre der damaligen Postermotive waren die schicken Männer, die Autoreifen durch die Gegend trugen, wer immer so Bildschirmfoto 2023-09-08 um 11.30.51etwas bestellte, aber Ben Zucker, jene Kreuzung aus Helene-Fischer und Hans-die-weißen-Tauben-sind-müde-Hartz, hat sich nun an diese Autoreifen tragenden Männer erinnert und ist auf seinem neuen Album als Autoreifen tragender Mann zu sehen. Das Album heißt „heute nicht“, und es erscheint auch heute nicht, und auch nicht nächste Woche, sondern im Dezember, Weihnachtsgeschäft, ich hör Dir trapsen, aber der Titelsong „heute nicht“ erscheint tatsächlich heute nicht nicht, sondern erscheint heute. Und lässt Schlimmes erahnen: Zucker hat die restlichen Mikrokramm Rock aus seinem Schlagerentwurf gestrichen und klingt jetzt nur noch nach Bumm-Bounce; und mit diesen saudämlichen Texten („Seh ich auch dunkle Wolken am Horizont: Ist mir egal, heute nicht / Und wenn das Chaos auch immer näher kommt: Ist mir egal, heute nicht“), da hat man das Gefühl man hört einem Motivationstrainer bei der gesungenen Zusammenfassung seiner Show: „An einem Wochenende das Mindset für Dein Glück“ zu. Diese Musik ist wirklich entsetzlich. /// Herrlich bekloppt ist auch wieder der neue Song von Alexander Marcus: "Und keinen interessiert es, obwohl es wirklich brennt / Immer mehr Menschen erleben, dass ihr Reissverschluss klemmt" /// * Mia Diekow hat gerade eine Crowdfunding-Kampagne für ihr nächstes Album gestartet, dazu mehr in der nächsten Woche. /// Links: Website Julia Kautz /// Linktree Rahel /// Ben Zucker "heute nicht" /// Alexander Marcus "Reissverschluss klemmt" ///


Das! Ist! Gut!

Fulminant: Jessie Ware

Bildschirmfoto 2023-04-28 um 12.42.13Der britische R&B ist nicht erst seit Dua Lipa ein globales Phänomen geworden, das mit trojanischen Popmitteln auch in die USA schwappt. Um so erstaunlicher, dass Jessie Ware mit ihrem nunmehr sechsten Album nicht der Versuchung erliegt, sich eben diesen Trojaner:innen hinzugeben. Sie zitiert diese allenfalls in ihrem deutlich altschulischerem Soul-Entwurf: „That! Feels! Good!“ ist damit hin- und mitreissender Disco-Soul mit funkigen Off-Beats, Wall-Of-Sound-Streichern und unwiderstehlichen Melodien. Jenseits aller Modernismen und dennoch ohne Retro-Hörigkeit wird hier ein R&B gepflegt, der jeden Tanzmuffel zum Mitwippen zwingt: Der Opener und Titelsong klingt nach 70ern, Nile Rodgers und Donna Summer, „free yourself“ lädt in die Space-Disco von Daft Punk, „Freak Me Now“ surft auf Boney M-schen wellen, und mit „These Lips“ endet dieses Album, als hätte Jessie Ware Sade gecovert. Diese stilistische Vielfalt wirkt aber beiläufig und derart aus einem Guss, dass dieser durch und durch britische „Pop & B“ angenehm bescheiden und ebenso virtuos daher kommt. Ein fulminantes Album mit 10 Songs, von denen keiner misslungen ist.


Fun-T-Shirt-Autor:innen

Angebliche Konzerte von Dieter Bohlen, das Ende von DSDS, sexistische Ausfälle - der Popticker rüttelt da mal paar Dinge gerade

Die anstehende Tournee von Dieter Bohlen hat einen sehr bescheidenen Namen: „Das größte Comeback aller Zeiten.“ - die große Suggestionsmaschine Pop, die zweifelsohne oft vom Behaupten der eigenen Angesagtheit lebt, überdreht hier in einen Superlativ, der, wenn er eine ironische Komponente hätte, sympathisch wäre, aber da Dieter Bohlen zu keinem doppelten Boden fähig ist, muss man hier schon von einem Mißbrauch der Marketingmittel von Pop sprechen. Denn Bohlen geht hier ja auf Tournee, er spielt Konzerte, und er behauptet seine Rückkehr als Musiker, was er de facto schon lange nicht mehr ist - er ist Star des Reality-TV. Sein letzter Hit liegt Jahrzehnte zurück, und was eine große Karriere ja tatsächlich ausmacht, den eigenen Sound einerseits zu bewahren und andererseits der Zeit gemäss zu variieren, das kann Bohlen nicht vorweisen: Sein musikalisches Gespür reichte gerade einmal 33794-dieter-bohlen-tour-2023-dresden-800x800für ein Jahrzehnt, als er mit Modern Talking Schlager in einer dem Englisch entlehnten Kunstsprache kreierte. Diesen Schlager wiederum lancierte er zwar mit einem der größten Coups der Popmarketinggeschichte, indem er dasselbe Lied stetig unbenannte und so aus einer mittelmässigen Idee um die 10 Hits heraus quetschte, eine Beständigkeit hat er in seinem Output jedoch nicht. Und alles, was er nach Modern Talking musikalisch erreichte speiste sich der Emotionsaufladung des Casting-Show-Prinzips: „We have a dream“ von den DSDS -all-stars oder „Take me tonight“ von Alexander Klaws oder „Irgendwann“ von Beatrice Egli waren Veröffentlichungen, die das Glücksversprechen von „Deutschland sucht den Superstar“ in musikalischen Produkten rückkoppelten.

Wirklich gespannt darf man sein, ob die Idee, Bohlen als Musiker zu vermarkten, überhaupt noch funktioniert - ob also genug Menschen Tickets für seine Konzerte kaufen. RTL hat ihm immerhin seine angestammte Plattform, DSDS, reumütig zurück gegeben - für die letzte Staffel der Superstarsuche (das Format wird dann eingestellt) hat man ihn noch mal in die Jury berufen, nachdem man ihn letztes Jahr gefeuert hatte. Und ganz in seinem Element hat er dort neben einigen seiner einstudierten Oneliner, die ihm Fun-T-Shirt-Autor:innen als Beleidigungen schreiben, eine Influencerin in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass man ihn auch direkt wieder rauswerfen könnte. Samir El Ouassil hat in ihrer gewohnt klugen Gedankenschärfe in dem Podcast mit Holger Klein letzte Woche beschrieben, dass das das Reality-TV-Format in den letzten Zeit eine Wandlung vollzogen hat: Wer rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend auskeilt, muss damit rechnen, aus diesen Shows zu fliegen - nachzuhören < HIER > . Das zwischenzeitliche Kaltstellen von Bohlen im letzten Jahr war bereits dieser Wandlung zuzuschreiben, aber ihn nun aus der laufenden Staffel zu nehmen, ist vermutlich schlicht unmöglich - dazu ist er in der Show einfach zu präsent.

Die Marketingmaschine läuft also, aber ob Menschen, die seine auswendig gelernten Punchlines lustig finden, auch ein Ticket kaufen, um „You’re my heart, you’re my soul“ ohne  Thomas Anders zu sehen und dabei ja auch hören zu müssen, ist zumindest der Frage würdig. Nach dem größten Comeback aller Zeiten jedenfalls ist Schluss mit lustig: DSDS wird dann wie gesagt Geschichte sein, und aus genannten Gründen dürften wir dann in Zukunft auch von Bohlen-Musik verschont bleiben.


Irgendwie, irgendwo, irgendwann

- Ohren auf Deutschpop werfen, Folge 20

Lea. Wer ist denn das noch mal? Auf ihrer Website sagt sie uns: „Ich bin Lea. Ich mache Musik. Schön, dass Du da bist.“ - das finde ich schon mal sympathisch. Lea singt auf ihrem aktuellen Album „Fluss“ über Verletzlichkeit der Liebe, über „Küsse wie Gift“, eine „4-Zimmer-Wohnung“ und „dicke Socken“. Viele der erwähnten Dinge und Topoi stehen hier einerseits für sich, und gleichzeitig sind sie Chiffren, Allegorien für zwischenmenschliche Zustände - der „Swimmingpool“ symbolisiert Unbeschwertheit, die Möglichkeit, eigene LeaVerkrampfungen zu lösen, „Parfum“ markiert die Unbegreiflichkeiten einer interessanten Person, und für ein anderes Du geht Lea durch jedes „Gewitter“. Durch den Hagel an Zweideutigkeiten wirken die Songtexte im Ganzen eines Albums fast schon hermetisch. Damit meine ich, dass in der doch sehr eigenen und eigenartigen Poesie die Lieder auf ihre Art persönlich und nahezu intim wirken, ohne dass ich mich aufgerufen fühle, sie als Hörer auf mich zu beziehen. Das ist aber keineswegs negativ gemeint. Die Songtexte haben in der Summe die Charakeristika einer Kunstsprache, bei der es Spass macht, in sie einzutauchen: „Fahrradklingel klau′n / Du fährst los, ich spring auf / Presslufthammer im Regen / Lachen um unser Leben“ - heißt es zum Beispiel in dem schönsten Track des Albums „L & A“, ein Duett mit Antje Schomaker. Die Musik auf dieser Platte ist freilich ein wenig eintönig geraten - oder vielmehr, sie kann mit der Eigenwilligkeit der gesungenen Texte nicht mithalten: Trap-Anleihen, etwas referenzloser Synthiepop und Piano-Arpeggio-Balladen halten sich die Waage - die Fülle und gleichzeitige Zurückhaltung von Leas Stimme, von ihrer Art zu singen, findet hier nicht immer das Sound-Bett das mit oder dagegen liefe. Dennoch ist „Fluss“ in der Summe eine absolut gelungene Platte - vor allem aufgrund der Texte.

„Vier“ heißt das neue Album von Max Giesinger, es ist auch sein Viertes („Fluss“ von Lea ist im Übrigen auch deren vierte Platte). Giesinger macht im Grunde Popmusik für Menschen, die nicht gerade sensibel darin sind, ihre eigenen Unzulänglichkeiten und Probleme zu erkennen. Daher muss diese Musik, um überhaupt emotional sein zu können, erst einmal Fehler im an sich fehlerlosen Selbstoptimierungszeitalter benennen, um diese wieder weg zu singen. Zum Beispiel Prokastination. Im Opener „irgendwann ist jetzt“ besingt Max Giesinger also das Aufschieben von Dingen: Eltern besuchen, Maxauf Land ziehen, Handy ins Meer werfen - und so weiter. Vieles will das hier singende Ich irgendwann anpacken, um sich dann selber dadurch zu motivieren, dass dieses Irgendwann irgendwann auch eintreten solle: „Ich will nicht länger warten, bis was passiert / Hab’ hundertzwanzig Fragen, bin scheiß verwirrt / Doch ich fang' endlich an zu glauben, dass alles, was ich brauche / Schon immer in mir steckt, irgendwann ist jetzt / Irgendwann ist jetzt.“ Wo Lea wie beschrieben durch Andeutungen, Codes und Allegorien irgendwann eine Kunstsprache herauf beschwört, genügt sich diese Sprache darin, banalen Alltag auf einer Weise zu beschreiben, dass auch banale Mittel reichen sollten, um die angeblichen Probleme zu lösen; Probleme, die man aber eigentlich auch schon wieder vergessen hat, wenn sie gelöst sind. Fataler Weise ist die Aussage, „Irgendwann ist jetzt“ ja verkehrt rum, denn die Hoffnung ruht ja darauf, dass jetzt endlich besagtes Irgendwann ist - und eben nicht umgekehrt. „Irgendwo da draussen“ ist im gewissen Sinne das gleiche Lied - das Aufraffen wird hier eben nicht zeitlich ins Irgendwann geschoben - sondern örtlich ins Irgendwo: „Irgendwo da draußen in einer andren Stadt / Gibt’s noch ein andres Leben, das ich hier jеtzt grad verpass’ / Würd alles einmal tauschеn, alles was ich hab’ / Denn irgendwo da draußen, da liegst du jetzt grade wach“, und noch zwei Lieder später stehen „Berge“ dem Aufraffen entgegen, die dann, Spoiler-Alert, im Refrain doch erklommen werden: „Ich zieh' los in die Berge, bis ich klarer seh’ / Kletter’ rauf auf die Gipfel, bis mir ein Licht aufgeht.“ - an diesen Zeilen haben sieben männliche Song-Texter herum geschraubt - warum haben die nicht mal alle Lyrics hintereinander weg gelesen oder eine Lektor:in engagiert? Diese Platte handelt derart monothematisch vom „einfach mal machen“, von besagtem Aufraffen - das hätte doch jemandem auffallen müssen. Und dann dieser bestürzend einfallslose Pop-Sound - immer nur Basslauf, Gitarrenlicks, Synthietupfer und die immer gleichen Melodie-Ideen. Man hat das alles schon vergessen, bevor es Eingängigkeit entfaltet.


Kapitänsbinde der Revivalindustrie

Neuester 80er-Trend: Covern

Man fragt sich bei der mindestens vierten Welle des 80er-Revivals allmählich, ob es nicht noch mehr Dekaden gibt, die sich re- oder upcyclen liessen. Aber naja: Die 50er sind dann doch schon zu lang her, die 60er fallen wegen ihrer Unschärferelation im Verhältnis zu den 70ern aus dem Kult-Raster und sind mit zum Beispiel der Rockabilly-Bewegung oder dem nachhaltigem Erfolg der Beatles oder der Stones zudem konstant manifestiert erinnert, die 70er bis zu den 90er sind die großen Poptalgiezugpferde, und alles, was danach kam, ist noch nicht lang genug her, um rückblickenden Konsens darüber zu erzielen, was an den Nullern oder Zehnern so prägend war, dass man es nun aus dem Kühlschrank holen könnte - auch wenn man sich bei der so genannten „Class of 2005“ (Franz Ferdinand, Kaiser Chiefs, Arctic Monkey) allmählich zaghaft an Reissues versucht.

Mist

Zweifelsohne aber tragen die 80er tragen immer noch die Kapitänsbinde der Revivalindustrie, und nun rückt offenbar das gezielte Covern von Hits aus der Zeit von Magnum, Zauberwürfeln und Schulterpolstern in den Fokus der steten Revitalisierung: Gleich drei Konzeptalben aus den letzten Wochen tun dies, und um es gleich vorweg zu sagen: In zwei von diesen drei Fällen ist das Ergebnis entsetzlicher Mist.

Von Alex Christensen und seinem angeblichen Berlin-Orchestra blieb das zu erwarten - diese unselige Verbindung hat bereits auf drei Alben Songs der 90er, in denen der Produzent Christensen musikalisch zuhause ist, in Orchestermusik übersetzt, was überraschender Weise meist kaum zu hören war, denn was an Orchester eigentlich dazu erfunden wurde, hat man dann wiederum durch billige Beats und gestauchten Breisound wieder hinfort produziert, so dass die neuen Versionen der Eurodance-Klassiker kaum anders klingen, als die Originale - Ergebnis also: nervige Lieder werden mit großen Brimborium nicht verbessert. Nun hat sich Herr Christensen also die 80er vorgenommen, und wenigstens hat er jetzt also großartige Lieder, von denen er das Niveau aber nicht halten kann - wer es hinbekommt einen der größten, schönsten, erhabenen Songs der 80er, der Popmusik als solcher gar, „Smalltown Boy“ von Bronski Beat klingen zu lassen wie einen matschigen Möchtegern-Lloyd-Webber-Song, der hat nicht nur Lafeeversagt, der hat sich schuldig gemacht. Und Ronan Keating, der das „singt“, dem gebührt fortan Berufsverbot. Und Alex Christensen sowieso. Das Album „Classical 80s Dance“ bitte canceln.

80er-Hits übersetzt hat auch Ex-Teenpopstar LaFee - und zwar im sprachlichem Sinne: Sie singt Madonna, Nik Kershaw oder Alphaville auf Deutsch. Sinniger Weise heißt das Album, auf dem sie diese Songs versammelt, „Zurück in die Zukunft“. Wobei das „Zurück“ in diesem Falle den Status von Doppeldeutigkeit erlangt, denn ihr 80er-Projekt ist gleichzeitig ihre erste Veröffentlichung von Musik nach zehn Jahren. Nun wissen die meisten Leser meines Bloges sicher nicht, wer das ist, LaFee, und um ganz ehrlich zu sein, der Autor dieses Bloges wußte Olsendas bislang auch nicht, aber damit ihr jetzt nicht googlen müsst, habe ich das mal getan: LaFee war ein Teenpopstar, der im von Viva und der Bravo geebnetem Fahrwasser von 2006 bis 2011 deutschsprachigen Poprock veröffentlichte - ein Image-Entwurf irgendwo zwischen Avril Lavigne und Helene Fischer, auch wenn die beiden in der Hochphase von LaFee noch nicht all zu bekannt waren. Nun schaut sie also in erwähnt doppeltem Sinne 10 bzw. 30 Jahre zurück, und wer macht diesem Ex-Popstar nun für dieses Vorhaben wohl ein Identitätsangebot - klar der Schlager. (Dessen Identitäten anbietende Strategie ich kürzlich < HIER > versucht habe, zu erläutern.) Der Spagat zwischen Schlager und Dekaden-Revival funktioniert überraschend gut - hier greift meine These von Pop, in dem man das Neue wieder-erkennt, vorzüglich, denn wir meinen Eurodance-Schlager zu hören und merken dann: Hoppla, das ist ja Cyndi Lauper („Wenn du fällst, lass dich fallen, ich steh’ hinter Dir / Zeit heilt die Zeit“). Oder man erkennt in den Zeilen „Und wenn der Regen auf uns fällt, wirst du mein Regenbogen sein“ plötzlich Pia Zadora und Jermaine Jackson - Freunde der Nacht, versteht mich nicht falsch, wenn ich sage, dass das Ganze funktioniert, das ist schon auch ziemlich furchtbar, was LaFee hier macht, aber funktionieren tut es.

Wirklich toll aber ist die kleine, feine EP „Aisles“ von Angel Olsen, die fünf 80er-Songs Sphäre, Zuseligkeit und fiebrige Unzufriedenheit abringt - mit 5 Liedern manifestiert sich ein klarer Popentwurf, der erkennen lässt, was Angel Olsen aus dem 80ern interessant findet, und wie sie das ins Heute singt. Ihre Version von Billy Idols "eyes without a face" zum Beispiel, für mich das gelungenste Cover auf dieser schönen Platte, malt in surrealer Einsamkeit eine schöne Pop-Perle auf die 80er-Leinwand. So schau ich gerne zurück.


Die Erosion der Charts

Schafft Transparenz! Pop-Charts haben mal Spass gemacht

Wenn man die aktuellen iTunes-Charts (Mittwoch den 17. März habe ich diesen Text angefangen) mit den offiziellen deutschen Albumcharts vergleicht, stellt man fest, dass sie zur Gänze unterschiedlich sind. Nehmen wir nur mal die Top 3: Auf iTunes finden sich die Drei Fragezeichen, Puccini mit Boccellli und ein völlig unbekannter Off-albumCountry-Star, in den „offiziellen Albumcharts“, was immer hieran offiziell ist, finden wir zweimal deutschen Rap sowie einmal Meta-Seemannsmusik. (Alle drei Charts-Neueinsteiger übrigens, die mit sieben Alben ohnehin die Top-Ten dominieren). Diese extremen Unterschiede sind derzeit ständig zu beobachten, und sie bilden einen Musikmarkt ab, in dem Menschen, die Musik runterladen, zur Gänze andere Musik hören, als solche die streamen, Vinyl kaufen oder noch andere Kauf-Vorlieben haben. Der Versuch in einem übergreifendem Marktsinn abzubilden, was in der Popmusik derzeit angesagt ist, ist zum Scheitern verurteilt und eine überkommenes Ritual aus alten Popzeiten. Der Markt ist so ausindividualisiert, dass ein Vergleich durch Listen gar keinen Sinn mehr macht. 

Konsequenter Weise rücken bei Streaming-Diensten andere Prinzipien in den Vordergrund. Die dortigen Listungen Itunesbilden das eigene, individuelle Hörverhalten ab - Selbst-Charts sozusagen. Diese Selbst-Charts vergleichen nicht mehr das Hörverhalten vieler sondern beschreiben das des Einzelnen für ihn. Natürlich kann man sich auch auf Spotify Charts anschauen, aber diese kann man mit Schiebereglern näher zu sich führen, indem man Hört-Ort, Zeitraum, Genres, Stimmungen und so weiter anhand seinen Interessen anpasst. So verkleinert sich mit Pop-Up-Menüs die Hörer:innen-Bubble bis hin zu erwähnten Selbst-Charts also, welche nur noch mein eigenes Hörverhalten kartografieren.

Natürlich aber analysiert Spotify das Hörverhalten seiner Nutzer:innen dennoch übergreifend und sicherlich auch mit dem ein oder anderen Tool, das der Idee von Charts ähnelt. Vor allem aber sucht man hier nach Parallelen: Nutzer, die dies und das gehört haben, haben auch dies und jenes gehört. Im gewissen Sinne sind das die eigentlichen Streaming-Charts, die Charts 2.0, denn diese JpcParallelen bilden das Herzstück des Online-Marketings, und beim Streaming inzwischen auch das der erwähnten Selbst-Charts. Um die Sache persönlicher zu gestalten, ernennt man diese Parallelen einfach zu Subsubgenres und gibt ihnen einen Namen - zum Beispiel „Escape-Room“, „K-Witch-House“ oder „Signum-Echo“. Diese Genres sind im musikalischen wie popkulturellen Sinne teils völlig absurd - unter ihnen können sich Metal wie Techno oder der neueste Schrei „Hyper-Pop“ subsumieren. Würde Amazon dieselbe Idee realisieren, würde, weil mehrere Menschen Einlegesohlen, Erotik-Krimis und Fimo-Knete gekauft haben, daraus eine Produkt-Kategorie kreiert werden, und man würde sie zum Beispiel „Chip-Crow-Objects“ nennen. Zu Ende des Jahres würde jeder Amazon-Kunde seine Selbst-Charts erhalten, laut derer er in den vergangenen 12 Monaten am meisten „Chip-Crow-Objects“ und „Sarry-Dots“ gekauft habe.

Anders als bei dieser absichtlich abwegigen Idee, verfolgt Spotify mit seinen individuellen Jahres-Resümees („Du hast in diesem Jahr 17 neue Genres entdeckt - weiter so“) eine Strategie: Die Hörerinnen werden gelobt und bekommen daher das Gefühl, aktiv ihren Musikgeschmack zu erweitern. Sicherlich stimmt das auch, aber sich dabei auf extra erfundene Subsubgenres zu berufen, die de facto keinen Sinn machen, ist doch schon recht abenteuerlich. Hier offenbart sich, dass es Spotify nicht um Musik geht, man muss sich wohl im Gegenteil davon verabschieden, dass der Streaming-Dienst ein Musik-Anbieter ist: So sehr auch Playlisten kuratiert, Hörverhalten kartografiert und Genres benannt werden, so sehr ist Spotify vor allem daran interessiert, dass man möglichst viel Zeit in ihren Datenströmen verbringt. Spotify verführt wie Facebook oder Instagram zu endlosem Scrollen.

Doch zurück zu den Charts: Wie könnten Listen darüber, was gerade am meisten angesagt ist, heute aussehen? Zu allererst müssten sie transparent werden, um sie wieder in Beziehung setzen zu können. Wer weiß zum Beispiel gerade, wie die aktuellen „offiziellen Single- und Albumcharts“ entstehen? Wikipedia sagt dazu Folgendes: „Zurzeit umfasst das Portfolio rund 2.500 Anbieter, die eine für die Chartermittlung hinreichende Meldung abgeben können. Neben dem Einzelhandel oder Onlineanbietern, können auch spezielle Vertriebsformen (Download, Großhandel, Streaming oder Teleshopping) ihre Berücksichtigung finden, wenn sie den Direktverkauf am Endkunden statistisch erfassen und melden können. Über die Teilnahme am Panel entscheiden Prüfungsbeauftragte.“ - tja, was heißt das nun? Was machen diese Charts für einen Sinne, die keine Sau begreift? Oder: Was bilden die wichtigsten Downloads-Charts auf iTunes ab? Welchen Zeitraum? Warum ist ein Lied dort auf Platz eins? Weil es in der letzten Stunde oft gekauft wurde? Innerhalb der letzten 24 Stunden? Keiner weiß es, und wenn die Charts abbilden sollen, was angesagt ist, man aber gar nicht weiß, wodurch die Behauptung entsteht, es sein angesagt, was macht das dann noch für einen Sinn.

Die einzigen Charts, von denen ich weißt, wie sie entstehen, sind die Album-Charts des auf Vinyl spezialisierten Versandhändlers JPC - sie werden täglich gegen 10 Uhr aktualisiert, hat man mir auf Anfrage mitgeteilt. Derzeit auf Platz 1: „Pink Floyd live in Knebworth 1990“.

Hinweis: die Abbildungen sind Screenshots der "offiziellen Albumcharts", der "iTunes-Charts Albums" und den "JPC-Viny-Charts von 19. März 2021 um 10 Uhr


Unter Beat verkauft

Robin Schulz ist kein Musiker

Derzeit auf Platz 6 der offiziellen deutschen Single-Charts ist der Song „Alane“ von Robin Schulz und Wes. Dieses Lied war bereits 1997 in den Hitparaden: Der französische Musiker und Produzent Michael Sanchez und der kamerunische Sänger Wes Madiku hatten sich unter dem Namen „Wes“ Bildschirmfoto 2020-08-26 um 12.01.59zusammen getan und aus Synthiepop und Weltmusik einen chartkompatiblen Sound diffundiert, der in „Alane“ zum Ohrwurm und Hit wurde. Schon Ende der 90er wurde das Hörerlebnis aber irgendwie durch einen bitteren Beigeschmack betrübt - zumindest mir ging es so. Lieber hätte man genauer gehört, was Wes Madiku ohne europäische Soundscapes singt. Die Kombination aus Eurodance und fanfarisch-euphorischer Melodie schien irgendwie gelogen, und das Video unterstrich zudem die leicht esoterische Tendenz in dem Weltpopentwurf. Wes-Kollege Michael Sanchez hatte schon mit seiner Band „Deep Forest“ Klangteppiche mit ethno-haften Fieldrecordings und Samples gewürzt und so einen unangenehm aneignenden Ambientpop erschaffen. Und trotz all dem war „Alane" zu geniessen, weil Madiku ein wirklich toller Sänger ist.

Der deutsche DJ und Produzent Robin Schulz hat nun 23 Jahre später nicht anderes getan, als etwas, das schon einmal geklappt hat, in einen nicht einmal all zu originellen Remix zu giessen - eigentlich ist es nocht einmal ein Remix, es ist eine Unterbeatung, das ist Robin Schulz' Rezept, und er hat auch kein Anderes: Für die, die es schon kennen, funktioniert es wieder, und für die, die es nicht kennen, funktioniert es zum ersten Mal. Seine Entscheidung, dieses Lied unter seinem eigenen Namen noch einmal zu veröffentlichen, ist die Entscheidung eines Kurators von Playlisten, der auch einen Drumcomputer besitzt. Er eignet sich etwas an, das ohnehin schon ein aneignendes Geschmäckle hatte - heraus kommt ein ekelhaftes Machwerk aus rein ökonomischen Interessen; und der endgütige Beweis, dass Robin Schulz nicht den Beruf eines Musikers ausübt. Das einzig Positive an der Wiederveröffentlichung ist, dass auch Wes Madiku davon profitiert: Er hat seine Parts noch einmal neu eingesungen und verdient an dem Erfolg der Unterbeatung mit.


Scooby-Doo-Dampframme

Pop aus der Post-Depression der Musik-Industrie Teil 2: Hayley Kiyoko

„Despacito“ ist erfolgreich als Erfolgsformel zum Franchise frei gegeben, (Nummer 1 der deutschen Single-Charts ist derzeit ein Lied namens „La Cintura“) da schickt die amerikanische Musik-Industrie auch schon den nächsten möglichen Superstar in die globalisierten Startlöcher: Hayley Kiyoko. Die ist, wie der Name schon vermuten lässt, Amerikanerin mit japanischen Album-roundWurzeln und schickt sich an, mit übersexualisiertem Hyper-Popentwuråf Katy Perry und Taylor Swift und deren Cleanpop links liegen zu lassen. Dass Hayley Kiyoko mit einem Film bekannt wurde und nunmehr zum Popstar per 4D-Drucker zum Star aufgebaut werden soll, zeigt dabei nur, dass Kiyoko zunächst nur Repräsentations-Qualitäten hat - der Pop, der ihr unter diese Aufgabe produziert wurde, hat vermutlich wenig bis gar nichts mit ihr zu tun, aber das ist natürlich wirklich egal. Der Film, mit dem sie bekannt wurde, heisst bezeichnender Weise „Scooby-Doo“.

Das Debut-Album, das nun also der Startblock der globalen Karriere sein soll, nennt sich „Expectations“ und ist ein markiger Bombast-Pop, bei dem schon das Intro klingt und heisst, als würde ein sechs-stündiger Muscial-Film eingeläutet: „Expectations / Ouverture“ sind Synthie-Flächen mit Buckelwal-Gesangszitaten, elektrischem Cello und „Ouuh Ohh“-Chören - da klingt jede Bluetooth-Boombox wie eine Konzert-PA. Dann kommt natürlich Soulpop mit Beats und einigen Prisen K-Pop, J-Pop und Bubble-Pop. Diese Musik ist so effektreich verschnürt, dass man eigentlich nie irgendwo Einspruch erheben und sagen könnte: Moment mal, das gefällt mir gar nicht. Dazu bleibt keine Zeit. Das klingt alles so zweifelsfrei wie eine Schaumbad am Ostermorgen und so positiv, positiv, positiv!

Die derzeitige Single „curious“ ist zwar weitestgehend melodiefrei, aber das Party-Video ist so bunt und so dampframmensexy, dass man sich eher schämt, bis man aufgibt und aber nicht dazu kommt, zu fragen: Was soll denn das? Naja, klar - das ist keine Musik, die sich an mich richtet, aber blöd finden kann ich sie wohl trotzdem.


Geiselnehmerin Popsoul

Wer den jeweils aktuellen Mainstream verachtet und alt genug ist, zu finden, dass früher alles besser war, der formuliert eben diese These im Bezug auf die Popmusik oft genug mit der Bemerkung, heute klänge doch eh alles gleich. Ich bin zum Beispiel in den 80ern popsozialisiert worden und kann mich noch gut an Kommentare erinnern, der ganze Synthie-Quatsch klänge gleich; und ich selber fand dann später in den Nullern, die 90er hätten doch nur Eurodance und Grunge hervor gebracht (was natürlich auch stimmt). Und inzwischen kann dann ich über die Zehner sagen: Dat klingt doch heute eh alles gleich. Und auch hier sollte konstatiert werden: Das stimmt auch ein wenig.

Dies ist kein weiterer Artikel über „the Voice of Germany",  aber ich bin durch diese Show auf diese meine These gestossen, dass Popsubgenre Soulpop inzwischen den globalen Mainstream in Geiselhaft genommen hat, aber um nun diese These einmal jenseits der Castingshow einem Nachhaltigkeitstest zu unterziehen, habe ich einmal die iTunes-Charts durch gezählt und kam auf folgendes Ergebnis: In den derzeitigen Top 100 sind selbst bei vorsichtigem Definitionskreis 37 Songs dem Soulpop zuzurechnen - das sind, ich Mathegenie ich: 37%. Bei den Top 100 der iTunes-Jahrescharts 2017 komme ich gar auf 45 Songs, fast die Hälfte also.

Rita-ora-credit-phil-poynterZeit einmal eben diesen Definitionskreis einzukreisen und zu definieren: Was meint der Popticker mit Soulpop? Soul ist natürlich zunächst einmal das vielleicht wichtigste Genre der afroamerikanischen Unterhaltungsmusik, entstanden aus Rhythm & Blues und Gospel und mithin dadurch schon per se politisch oder zumindest von sozialer Bedeutung. Über die Umwege Funk, Disko, Michael Jackson und Hiphop erfand der Soul sich in seiner Pop-Variante, und als in den Nullern auf einmal die Trümmer aller Umwege auf der Straße verstreut herum lagen, kamen findige Pop-Produzenten auf die Idee, die Trümmer einzusammeln, zu sampeln und neue Beats und melodische Soundgerüste daraus zu bauen und damit gleichsam Rapper und SängerInnen mit Playbacks zu versorgen. Im gewissen Sinne brachte der Super-Produzenten-Hype um Dr Dre, Timbaland, Neptunes (und viele andere) schliesslich aber mehr Instrumental-Tracks hervor, als vorhandene Stars berappen oder besingen konnten. Diesen Überschuss zu Pop zu verfertigen sahen dann Sängerinnen wie Rihanna, Britney Spears oder Christina Aguilera als ihre Chance - und ergriffen sie. Zudem schnipsten weltweit SongschreiberInnen mit den Fingern, damit die RapperInnen auch Texte zum Rappen und die SängerInnen Texte zum Singen bekamen. Aus der daraus resultierenden Zusammenarbeit von Songwriting-Teams und Soundtüftlern entstand so eine Hit-Industrie, die ihren Höhepunkt des quantitativen Output in diesem zu Ende gehenden Jahr 2017 fand: Eine Schwemme von funktionalem, industriellem Pop, der nur im entferntesten Sinne mit dem Soul zu tun hat, dem er sich gerne nahe fühlen würde. Diese Schwemme hat sich inzwischen derart algorhytmisiert und verselbständigt, dass heutzutage Hits tatsächlich planbarer als je zuvor sind. Der Soul, der in den Songs dieser Pop-Industrie steckt, ist eigentlich nur noch das Konzentrat und Klischee von Emotionen aus längst vergangenen Zeiten, aber all die Rita Oras, Rihannas und Aria Grandes brauchen dieses Konzentrat, um ihre Musik, die so gar nicht aus ihnen stammt, als authentisch verkaufen zu können. Das Verheißung-Versprechen von jeglichem Pop speist sich so aus der afroamerikanischen Popgeschichte, und dieses Versprechen ist das, was ich mit Soulpop meine.

Natürlich ist diese meine Verkürzung der Darstellung von Pop-Zusammenhängen eine kulturhistorische Unverfrorenheit, aber das anonymisierte und globale Parallelwerkeln an eigentlichen Einzelheiten von Popmusik - hier schnibbelt ein amerikanischer Studio-Besitzer an einigen Tracks, in Schweden saugt sich ein Think-Tank von KomponistInnen und Song-LyrikerInnen ein Liebeslied aus den Fingern, und weil ein Berater-Team von Rihanna beides in die Hände bekommt, und die RnB-Sängerin wiederum den richtigen Riecher für einen Hit hat, findet schliesslich beides zusammen - diese Entstehungsgeschichten aktueller Hits sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Und ob man entsprechend anonymisierte Musik nun bewusst oder unbewusst mit einigen Prisen Soul (sei es in den Harmonien, den Phrasierungen, den Sounds oder den Themen) würzt, es bleibt zumeist bei seelenloser Musik, deren emotionale Leerstelle sie so konsumerabel macht.

Es würde in diesem Sinne durchaus auch Sinn machen, hier von Postsoul zu sprechen, aber dieser Begriff ist dann doch zu wertend und würde suggerieren, Soul sei überwunden und tot. Aber es gibt ja durchaus auch heute noch veritable Soulmusik, die empathisch und emphatisch das tut, was Soulpop nur simuliert - deswegen der Begriff des Soulpop, der übrigens sowohl von der InterpretInnenseite als auch seitens des Songwritings von weiblichen Sängerinnen und Komponistinnen dominiert wird

Julia-Michaels-press-2017-2Und wie hört sich nun der durchschnittliche Song dieses derzeitigen Pop-Durchschnitts an? Der durchschnittliche Soulpopsong ist eine Uptemponummer, die versucht ihren Beat so vage zu halten, dass man ihn möglichst lange als Tanz-Rhythmus wie auch als Ballade interpretieren kann. Das funktioniert oft über eine extreme Reduktion, Synthie-Flupps, die klingen, als wären sie schon mit Beats versehen, dazu ein Klackern, ein digitales Fingerschnippsen (Dua Lipa „new rules“, Julia Michaels „issues“, Ed Sheeran „shape of you“, Rita Ora „your song“, Justin Bieber „sorry“, Selena Gomez „hands to myself“) - auf diesen schlanken Soundgerüsten platziert sich dann eine Gesangsmelodie, die meist sehr wortgefüllt ist, die also ein höheres Tempo zu haben scheint, als das bis dahin etablierte Instrumental, ein rhythmisches Sprechsingen, das leichte Melodiebögen fast automatisch durch die rhythmische Phrasierung findet - man höre sich hierzu in den bisher aufgeführten Beispielen die Lieder von Ed Sheeran, Dua Lipa und Rita Ora an, drei Songs, die tatsächlich extrem ähnlich klingen, und deren Melodie ohne den Rhythmus auf dem sie a aufbauen, eine musikalische Unverschämtheit wären.

Die reduzierte Instrumentierung birgt natürlich das Potential, den Song im Angesicht des ersten Refrains, mit weiteren Klängen nach und nach aufzufüllen: Bass, Kickdrum, ausschmückende Melodie-Linien, Gitarren-Licks (Hailee Steinfeld „starving“, Fergie „enchanté“, Jessie J „not my ex“, Justin Bieber „sorry“, Sabrina Carpenter „why“), um dann bei einer Bridge wieder das Feld ein wenig aufzuräumen, was oftmals auch zu einer reinen Instrumental-Bridge führt (wie in den zuletzt genannten Songs die Beispiele von Hailee Steinfeld und Fergie der Fall).

Dualipa2Spätestens nach 45 Sekunden muss der Refrain folgen (was auch noch mal zur 15-Sekund-Modul-Regel zurückführt, - mehr dazu im Post < hier >). Im Refrain lässt sich mit verschienden Mitteln eine emotionale Steigerung simulieren, beispielsweise durch digitalen Chorsatz: Wir hören die SängerIn also mehrstimmig oder aber mit einem Feature-Gast singen - hinzu kommt oft die klassisch eine Quart höhere Setzung des Chorus (Alessia Cara „scars to beautiful“, faktisch alle Lieder von Sia, Charlie Puth „attention“). Weiteres Steigerungselement können kleine Percussion-Einsprengsel im dadurch aufgefrischten Rhythmus sein, wodurch sich dann auch oft gut in die zweite Strophe überführen lässt (Demi Lovato „sorry not sorry“, Hailee Steinfeld „most girls“, Jessie J „bang bang).

Sofern es eine dritte Strophe gibt, gehört diese einem Feature-Gast - meist ein Rapper oder eine Rapperin, in 50% der Fälle ist das dann Nicki Minaj, oder - naja - jedenfalls oft, wenn Nicki Minaj aber nicht dabei ist und auch kein anderer Feature-Gast, dann bekommen wir es mit einem B-Teil zu tun. B-Parts sind grundsätzlich ein erodierendes Songphänomen, in besagten Soulpop-Durchschnittsongs sind sie oft nur Sound-Schleifen, ein Wiederhall von bereits Gehörtem, Strophenmaterial oder soundverfremdete Zitate aus dem bisherigen Song, das sich sich umstandslos wieder in den den dritten und letzten Refrain überleiten lässt (Aria Grande „they don‘t know“, Shawn Mendes „bad reputation“, Sabrina Carpenter „why“, Halsey „bad at love“) - fertig ist das Mondgesicht mit einer durchschnittlichen Dauer von 3:30.

Signifikant an allen meinen Beispielen ist, wie easy sich diese finden lassen - man muss eigentlich nur eine These aufstellen, die man schon nach 5 Minuten Googlen mit zehn Liedern bewiesen sieht - zwar wird jetzt sicherlich keiner alle diese meine Beispiele durchhören und sie auf ihre Beweislast testen, aber ich kann doch empfehlen, einmal die Durchschaubarkeit aller dieser Lieder zu überprüfen, indem einfach mal auf iTunes in den 2017er Jahrescharts jedes Lied für zehn Sekunden anhört - man merkt kaum, dass das alles von verschiedenen Personen sein soll - die Gleichförmigkeit, die Hit-Uniform ist schlicht frustrierend.