Lieblingsplatten

RIP Ryuchi Sakamoto

Ryuchi Sakamoto ist gestorben, und ich muss sagen, dass ich so vieles über den japanischen Komponisten, Musiker, Pianisten, Dirigenten und Vermittler gar nicht weiß - aber eines seiner Alben ist eines meiner all-time-favorites: „Beauty“ aus dem Jahre 1990. Es war dies die Zeit, in der ich vieles, was man damals Weltmusik nannte, hörte, und „Beauty“ ist, wie immer man heute zu dem Begriff Weltmusik stehen mag, voller Welt: traditionelle japanische Instrumente, Flamenco-Gitarren, indische, malische, senegalesische, brasilianische Trommeln, türkische Laute, Jazzmusiker:innen, Chöre und wunderbare Sänger:innen - neben Sakamoto selber, Robert Wyatt, Nicky Holland, Brian Wilson, Laura Shaheen und Youssou N’Dour - um nur einige zu nennen.

Beauty_By_Ryuichi_Sakamoto_1989

Mit dem illustren Kreis an Musiker:innen (Wikipedia listet alleine 35) schichtete Sakamoto einen globalen, homogenen Popsound, einen Weltteppich merkwürdiger Beats und unbekannten Melodielinien, in dem ein altes japanisches Volkslied „Chinsagu no hana“ indisch mit Beat und spanisch mit Gitarre unterfüttert wird, oder Rollings Stones’ „We love you“ als funky Disko-Track eine kurze Reise in die Ägäis und nach Bamako unternimmt. Das Album hat so viele Ideen, Wendungen und Klänge, wie manch Musiker:in nicht in zehn Alben hat, und so viele Überraschungen in den Arrangements und gesungene Sprachen, dass diese Musik an sich schon eine Utopie des menschlichen Miteinanders, des Friedens und der Humanität ist.

Schlicht und ergreifend, ich wiederhole mich, eines der besten Pop-Alben aller Zeiten - hört Euch nur mal "Diabaram" an: Ein paar Akkorde auf E-Piano und die Stimme von Youssou N'Dour sowie später ein Kokyū-Solo - wunderbar! Findet ihr < hier >.


Lieblingsplatten: Laura Veirs "Year Of Meteors" (2005)

Year-of-meteors-54097cc19adfeIch wollte wissen, was für Musik diese Frau mit der Brille macht, und dies ist eine Platte, die ich einzig aufgrund des Covers gekauft habe - ich war mir sicher, ich würde auch die Musik mögen, und so war und ist es auch. Es ist dies das erste Album der Singer- und Songwriterin, das jenseits der klassischen Folk-Instrumentierungen auch Pop-Verheissungen aufgreift - Synthies, Stimmeffekte, Weirdo und Zucker. Daraus entsteht ein in sich gekehrter und dennoch nach Pop-Aussen greifender Space-Folk über Spelunken in Käffern, Schwimmen in Waldseen und freundliche Fremde.

Laura Veirs kann wundervolle Liedtexte schreiben, ihre trockene, umweg- und tremolofreie Art zu singen sitzt auf den Songs in schüchterner Sicherheit, und sie spielt fantastisch Gitarre, Ukulele oder Mandoline und ist eine Expertin für die ungeschriebene Geschichte des Banjo-Fingerpickings in verschiedenen Epochen des amerikanischen Country- und Folks. Jedes Ihrer Alben lohnt sich ohne Ausnahme - auch die ganz frühen Lagerfeuer-Songs, ihre Kinderlieder oder zuletzt ihre Platte mit Neko Case und KD Lange - aber „Year Of Meteors“ markiert für mich den Ursprung einer grossen Pop-Liebe.


Lieblingsplatten: Geoffrey Oryema „night to night“ (1997)

GntnDies ist die dritte und letzte Platte Oryemas, die der ugandische Musiker auf dem Real-World-Label von Peter Gabriel veröffentlichte. Oryema war nach dem Tod seines Vaters, der vom ugandischen Diktator Idi Amin verhaftet worden war, 1977 ins Exil nach Paris geflüchtet, wo er bis heute lebt. Oryema hat eine der schönsten Stimmen, die ich kenne - in ihr schwingt immer gleichzeitig Tiefe und Höhe, Beiläufigkeit und Inbrunst mit. Gabriel bekam Demos Oryemas in die Finger und lud ihn ein, in seinen Studios ein Album aufzunehmen. Das Debut heisst „Exile“  (1990) und wurde von Brian Eno produziert, es ist ein stilles, zurückgezogenes, elegisches Album mit utopischen, friedfertigen und gleichzeitig traurigen Liedern über Oreyemas Lebensgefühl im Pariser Exil. Auf der zweiten Platte „beat the border“ (1993) nimmt Oryemas meisterhaftes Spiel auf der Lukeme mehr Raum ein, der Klang des Daumenklaviers paart sich mit chorisch geschichteten Stimmen-Loops und europäischeren Songstrukturen. Sowohl „Exile“ als als auch „beat the border“ sind Meisterwerke, aber besagtes „night to night“, 1996 erschienen, nimmt für mich eine Sonderstellung ein. Das hat vielleicht auch biografische Gründe - ich habe diese Platte in Endlosschleife in einer Wohnung in Berlin gehört, Dunckerstrasse 4, um genau zu sein. Unter mir war eine Techno-WG, die den ganzen Tag Musik hörte, die eine Techno-WG eben hört, und ich musste da irgendwie gegen gehen. Also hörte ich dieses Album, laut.

Es ist wahrscheinlich die Platte, auf der Oryema es im gewissen Sinne am wenigsten gelingt, die verschiedensten musikalischen Einflüsse zu einem ganzen zu binden. Französischer Chanson, Indie-Rock, Lukeme-Elegien, Folk - alles bekommt seinen Moment, die Platte wirkt hin und wieder zerrissen - aber eben genau dies macht ihren Reiz aus. Nie weiss man, was als nächstes kommt, Geoffrey Oreyma singt auf Ganda, Englisch, Swahili, Französisch und Ganda, es erzählt von utopischen Tagträumen, Landschaftsschönheiten in Uganda, der Nomandie und der Gegend um Bath in der Grafschaft Somerset in England (wo das Tonstudio von Peter Gabriel beheimatet ist). Die Musik ist voller fremder Instrumente, verschiedene Lukeme und andere Lamellophone, Percussions natürlich, Retro-Synthies, die damals wahrscheinlich noch nicht retro waren, und an der ein oder anderen Stelle taucht auch Daniel Lanois‘ merkwürdige E-Harfe auf. Zudem hat Oryema einige Gastsänger eingeladen, die die riesige Riege an MusikerInnen auf dieser Platte komplettieren.

Das ist Weltmusik im besten zeitlosen Sinne und im besten Sinne der 90er, in der dieser Begriff populär wurde, später dann aber plötzlich einen weltfremd optimistischen Duktus aufgedrückt bekam. Das Album ist disparat und homogen zugleich, und wenn man es anhört und jemand in den Raum herein kommt, fragt diese Person ziemlich sicher, wer denn das ist.


Alben & Songs des Jahres 2015

Die für den Popticker besten Alben 2015

01 Blur                   Magic Whip

02 Sophie Hunger          Supermoon

03 Joanna Newsom          Divers

04 Christine & The Queens Chaleur Humaine

05 Belle & Sebastian      Girls In Peacetime Want To Dance

06 Björk                  Vulnicura

07 Ibeyi                  Ibeyi

08 Lianne La Havas        Blood

09 Dagobert               Afrika

10 Marina & The Diamonds  Froot

 

Die für den Popticker besten Songs 2015

01 The Very Best          Hear Me

02 Christine & The Queen  Christine

03 Blur                   Thought I Was A Spacemen

04 Joanna Newsom          Sapokanikan

05 Sophie Hunger          Love Is Not The Answer

06 Björk                  Stonemilker

07 Belle & Sebastian      Nobody‘s Empire

08 Lianne La Havas        What You Don‘t Do

09 Marina & The Diamonds  Happy

10 Blur                   There Are Too Many Of Us

 

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Lieblingsplatten: Me Phi Me "one" (1992)

ME PHI ME  / ONE  

„Me Phi Me“ ist das Projekt des Rappers und Songwriters La-Ron K. Wilburn, und es gibt nur ein Album von ihm unter dem merkwürdigen Bandnamen: „One“ aus dem Jahre 1992. Hierauf zeigt sich der heute 45-Jährige als ein Genie der Popmusik, das Album zieht derartig viele Register, dass es fast schon zu gut ist, und mit dieser Platte ist musikalisch derart viel erzählt und gesagt, dass hierin vielleicht der Grund liegt, dass es nie ein zweites Album dieses Menschen gegeben hat. „One“ ist die vollendete Fusion von Folk, Gospel, Jazz, Afro und Blues mit den Mitteln der Rapmusik, die damals 1992, noch in den Kinderschuhen steckte - zumindest, was den Flirt mit anderen Pop-Stilen anbelangte. Eine Musik wie diese hatte man damals, als sie erschien, noch nicht gehört, und gemacht wurde sie danach auch nie wieder - zumindest nicht in der Form dieser Virtuosität.

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Das Album beruht auf einer Art Philososphie, einem Credo, welches Wilburn zu Beginn, nach einen chorischen Bodypercussion-Intro rappt: „I believe that you can be what you wanna be“ - es handelt sich um einen leicht religiös anmutenden Aufruf zur Individualität und gegenseitigen Akzeptanz. Was als Credo und Intro zunächst ein wenig naiv und esoterisch daher kommt, ist auf Albumlänge gelebte und gerappte Philosophie, und was immer hier gesungen oder gerappt wird, die Texte sind durchdrungen von friedfertiger Skepsis gegen jede Art und Rassismus, Ausgrenzung oder sonstiger Machtstrukturen. Und die Texte, in denen diese Lebenshaltung ausgebreitet wird, ruhen auf einem weltmusikalisch radikal schönem Bett aus Zitaten und Versatzstücken traditionellerer, verschiedenster Musiken - wie oben schon genannt. Exemplarisch sei hier der Blues mit Zupf-Gitarre und Blues-Harp „Not my brotha“ genannt, der derart entspannt groovt, und die Melancholie und den Trotz des Blues in den Hiphop entführt, und der auf diese Art und Weise nie wie ein Mackertuhm oder chauvistisch wirkt. Das vorletzte Stück „where are you going“ rhythmisiert sich einzig durch die akustische Gitarre und einer wunderbaren Singalong-Melodie, die in verschiedenen Zwischenspielen schon zuvor auf der Album vorweg genommen wird.

„Me Phi Me“s „One“ ist ein Gesamtkunstwerk vollendeter Schön- und Erhabenheit, wie es sie selten im Hiphop gibt, wie es selten ein Album überhaupt gibt.


Crash-Kurs in Afrobeats

Hjaltalín aus Island und ihre neue Platte

Bildschirmfoto 2013-01-08 um 11.06.48„Enter 4“ nennen Hjaltalín ihr drittes Studio-Album, das also nur ihre vierte Platte ist, wenn man die Live-Aufnahme „Alpanon“ mitzählt. Die siebenköpfige Band aus Island hat für sich einen fast schon orchesterhaften Song-Pop entwickelt, der mit zwei Sängern - eine Frau, ein Mann - fast schon klassisch isländisch besetzt ist, mit einer Fagott-Spielerin als festes Bandmitglied aber dann doch sehr ungewöhnlich daher kommt. Ihr erwähntes Live-Album ist dann auch, in diesem Fall also durchaus konsequent, mit ganzem Orchester aufgenommen. Hin und wieder, insbesondere auf der zweiten Platte „Terminal“, gerät der Hajltalínsche Popentwurf ein wenig nahe an musicalhaften Kitsch. Diese Gefahr haben sie nun komplett gebannt und den Beats und Drums ihrer Musik eine deutlich wichtigere Rolle eingeräumt. Fast scheint es, als hätte Schlagzeuger Axel Haraldsson eine Crash-Kurs in Afrobeats bei Tony Allen belegt. Flockige Patterns tackern entspannt durch die nach wie vor wunderschönen Melodien und geben den Stimmen von Sigríður Thorlacius und Högni Egilsson ein schärferes Rhythmusbett als bislang. Die Platte wirkt so durchweg subtiler und abgründiger und bietet mehr Gelegenheiten komplett andere Dinge zu versuchen, als Hjaltalín es bislang getan haben. In diesem Sinne ist der Opener „Lucifer / He Felt Like A Woman“ durchaus programmatisch in seinen vielen flibbernden Ideen, die vom Beat und der letztlich klaren Songstruktur zusammen gehalten werden. Pop-randseitigere B-Teile und vollständige Abwege, elektronische Pfade und klassische Balladen zeigen eine Band, die unendlich viel versucht und doch immer bei sich bleibt, und die aus diesem Grund für mich zu den interessantesten Bands überhaupt zählen: Wunderbar!


Die Besten Songs & Alben 2012, strengstens subjektiv

Alben

01 David Byrne & St Vincent    Love This Giant           > Link

02 Hjaltalín                   Enter 4                   

03 Sophie Hunger               The Danger Of Light       > Link

04 Lianne La Havas             Is Your Love Big Enough?  > Link

05 Dexys                       One Day I‘m Going To Soar > Link

06 Of Montreal                 Paralytic Stalks          > Link

07 Esperanza Spalding          Radio Music Society       > Link

08 Poliça                      Give You The Ghost

09 Fatoumata Diwara            Fatou                     > Link

10 Of Monsters And Men         My Head Is An Animal      > Link

Zwei Platten habe ich zu spät gehört, um sie hier zu erwähnen, ich vermute inzwischen aber, sie hätten sich in die vorderen Plätze gedrängt: "An Awesome Wave" von Alt-J und Darren Haymans neues Doppel-Album "The Violence".

Songs

01 Poliça                      Dark Star

02 Max Herre & Sohie Hunger    Berlin-Tel Aviv

03 Hjaltalín                   Lucifer/He Felt Like a Woman

04 David Byrne & St Vincent    Who

05 Lianne La Havas             Age

06 Sophie Hunger               LikeLikeLike

07 Of Monsters And Men         Dirty Paws

08 Of Montreal                 Dour Percentage

09 Esperanza Spalding          Radio Song

10 Lena                        Stardust

 

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Allen Lesern schöne Feiertage und einen guten Rutsch - der Popticker geht am 2. Januar 2013 weiter !


10 Jahre Popticker - Jubiläums-Special III: Zehnerlisten & Jubiläumscharts

Heute vor zehn Jahren, am 03.12.2002 habe ich den Popticker angefangen - schon irre - heute also Listen, Listen, Charts!

Charts der Nennungen in zehn Jahren

Diese Liste habe ich vor neun Jahren angefangen und habe dann so gewissenhaft wie möglich an jedem Jahresende weiter gezählt. Bis 2006 habe ich eine Datei geführt, in der alle Popticker-Texte ever drin waren, und anhand dieser Datei konnte ich die Zählung überprüfen. Seit fünf Jahren kann ich nur noch hoffen, dass das Ganze stimmt - aber wird schon. Die Zahl in den Klammern ist die Vorjahresplatzierung.

01 (01) Britney Spears                      492     Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.47.21

02 (02) t.A.T.u.                            412

03 (03) Lena Meyer-Landrut                  385

04 (04) Kylie Minogue                       362

05 (05) Katy Perry                          122         Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.49.22

06 (09) Peter Gabriel                       111

07 (10) Camille                             110

08 (08) Morrissey                           109

09 (07) Lily Allen                          070

10 (06) Madonna                             078

 

Zehn Lieder, die den Popticker sehr beschäftigt haben

01 t.A.T.u.            All The Things She Said Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.50.43

02 Lily Allen          LDN

03 Kylie Minogue       Can‘t Get You Out of My Head

04 Britney Spears      Toxic

05 Katy Perry          I Kissed A Girl

06 Camille             Ta Douleur

07 Vanessa Paradis & M Les Piles Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.51.39

08 Lena                Satellite

09 Dixie Chicks        Not Ready To Make Nice

10 Kate Nash           Mouthwash

 

Zehn Videos, die den Popticker sehr beschäftigt haben

01 t.A.T.u.            All The Things She Said

02 Britney             Spears Toxic

03 Kylie Minogue Come  Into my World Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.53.53

04 Robbie Williams     She‘s Madonna

05 Lykke Li            I‘m Good, I‘m Gone

06 Lily Allen          LDN

07 Brett Domino Trio   Justin-Timberlake-Medley

08 Kutiman             YouTube-Mash-Ups

09 LaRoux              Bulletproof

10 Christina Aguilera  Fighter

 

Zehn Sängerinnen und Zehn Sänger, die den Popticker sehr beschäftigt haben

01 Kylie Minogue                 01 Robbie Williams Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.54.55

02 Britney Spears                02 Morrissey

03 Camille                       03 Darren Haymann

04 Lena Meyer-Landrut            04 Peter Gabriel

05 Lily Allen                    05 M (Mathieu Chedid)

06 Katy Perry                    06 Damon Albarn

07 Christina Aguilera            07 Youssou N‘Dour

08 Alizée                        08 David Byrne

09 Björk                         09 Trevor Horn

10 Rachel Stevens                10 Herbert Grönemeyer

 

Zehn Bands, Duos oder Trios, die den Popticker sehr beschäftigt haben

01 t.A.T.u.                     06 Hot Chip

02 Gorillaz                     07 Sugababes Bildschirmfoto 2012-12-03 um 12.59.57

03 Modest Mouse                 08 Pet Shop Boys

04 Hjaltalín                    09 Fugees

05 Dixie Chicks                 10 Of Montreal

 

Zehn Alben, die den Popticker sehr beschäftigt haben

Camille            Le Fil Bildschirmfoto 2012-12-03 um 13.02.10                 

Morrissey          You Are The Quarry

The Divine Comedy  Bang Goes The Knighthood

Hjaltalín          Sleepdrunk Seasons

Darren Hayman      January Songs

Dixie Chicks       Takin The Long Way

Robbie Williams    Rudebox

Christina Aguilera Stripped

Of Montreal        Hissing Fauna, Are You The Destroyer?

Peter Gabriel      So

 

Zehn Worte oder Begriffe, die der Popticker erfunden hat, um über Pop zu sprechen

Autorinnenpop      Singing und Songwriting von jungen Sängerinnen                      mit dem ungestörtem Hang zu den Verheissungen                       der Popmusik

Popstörquotient    (PSQ) Bewusste, akustische Störungen aus Angst                      vor den Verheissungen der Popmusik

Miss-geschrieben   Adäquat zum Missverstehen

Kyliesophie        Das Nachdenken und Philosophieren über Kylie                        Minogue

Hybridbeat         Zweischichtiger, sich überlagender Beat

Popmüllhaufen      Popmusik, die niemals mit der Idee in Verbindung                    stand, zeitlich über sich hinaus zu weisen

Urbane Prothese    Hilfsmittel und Gadgets, die den privaten Raum                      in den öffentlichen verlängern und damit                            umdeuten

Popentwurf         Ganzheitliches Konzept, das eine Popinterpretin,                    ein Sänger oder eine Band verfolgt

Refraindiktatur    Der Trend, Songs zu machen, deren Refrain den                        Rest komplett überschattet - bestes Beispiel:                        „I Kissed A Girl“ von Katy Perry

Poptopos           Ein für die Bildflächen des Pop inszeniertes,                        mögliches Ereignis, durch das sich ein Image                        des jeweiligen Interpreten sichtbar machen                          lässt


Wir sind ein Affe

St Sincent und David Byrne

„We wanted a brass-album“, sagt St. Vincent auf ihrer Website über die Platte, die sie mit David Byrne zusammen gemacht hat. Und das haben sie nicht nur gewollt, das haben sie auch in die Tat umgesetzt: „Love This Giant“ ist eine Ansammlung von Pop-Songs, die sich um Bläser-Sätze schlängeln. Dabei sind die Zusammenhänge zwischen den Bläser- und den Gesangsmelodien wirklich nicht den gängigen Popmusik-Schemen entlehnt - will sagen: Hier werden keine Riffs ausgebreitet, die sich um an Gitarren komponierten Moll-Dur-Akkorden-Songs orientieren. Eher scheint der Gesang aus den Zwischenräumen der Bläsersätze zu wachsen, und das ergibt eine völlig merkwürdige Melodik und Rhythmik. Gleichzeitig haben sowohl St Vincent als auch David Byrne genug Pop-Sehnsucht in ihrer Art und Weise zu singen und Musik zu denken, dass sich sozusagen auf zweiter Ebene wieder klassische Pop-Ohrwürmer an den Songoberflächen absetzen.

Bildschirmfoto 2012-10-02 um 14.10.21St Vincent hat meines Wissens, ich kenne sie nicht so gut wie David Byrne, noch nicht viel mit Bläsern gearbeitet. Ihr experimenteller Folk-Pop hantiert mit klassischen Band-Besetzungen und elektronischen Verfremdungen, in denen ebenfalls das Banale, das Poppige an der Musik in zweiter Instanz zu entstehen scheinen. Byrne hingegen hat immer wieder mit Bläsern zu tun gehabt. Sowohl in seinen südamerikanisierenden Platten „naked“ (noch mit Talking Heads) und „Rei Momo“, seine erste Solo-Platte. Diese Salsa- und Merengue-Zitate stolpern nun auch durch die Platte mit St. Vincent, aber die trockene Art und Weise der gleichförmigen Brass-Patterns scheint zudem von Minimal-Music inspiriert, auch wenn sie hier ganz und gar nicht minimal daher kommt. Ähnlich hat Byrne auch schon bei seiner Theater-Musik für Robert Wilsons „The Knee Plays“ grosse Bläsersätze komponiert. Er selbst nennt als Referenzen die „Dirty Dozen Brass Band“ oder das „Hypnotic Brass Ensemble“.

In ihrer surreal-poetischen Weise, Songtexte zu schreiben, ähneln sich Byrne und St Vincent durchaus, und so scheint die Zusammenarbeit auch hier durchaus logisch und fast zwingend: In „Who“ reihen sich die Fragen, wer etwas ist oder war in völlig irrwitzigen Beispielen; in „I am ape“ ist das singende Ich erst eine Statue, die an einen Krieg erinnern soll, dann auf einmal: Ein Affe. Das ist ebenso merkwürdig wie die polyrhythmische wie -melodische Struktur, und daraus erwachsen eben dann tanzbare Pop-Songs, bei denen man auf zweiter Ebene hinter die Wirkungsweise schauen möchte, aber nicht dazu kommt, weil man wieder auf ein Element stösst, dass man erst beim dritten oder vierten Hören realisiert hat. So kommt dieses Album nicht zur Ruhe. Eine ganz und gar grossartige Platte also, ein Meisterwerk, so weit das Jahr geschritten ist, für mich auch DER Platte-Des-Jahres-Anwärter. 


So ist es

Heute vor 30 Jahren, am 19. Mai 1986, erschien es, vor 29 Jahren kaufte ich mit „So“ von Peter Gabriel das für mich grossartigste Pop-Album aller Zeiten


71zy26EEpzL._SL1417_Das hat neben einer Reihe von musikalischen auch biografische Gründe: „So“ war die erste Platte, die ich kaufte, weil ich davon überzeugt war, dass das gute Musik ist. Bis dahin hatte ich mich noch sehr nach dem Geschmack und Empfehlungen meiner Schwester, meiner Eltern oder von Mädchen, die ich toll fand, gerichtet, aber mit Peter Gabriel und „So“ traf ich zum ersten Mal eine Entscheidung, um meinen eigenen Geschmack zu behaupten. Und die daraus resultierte Leidenschaft für „Peter“ hat bis heute gehalten - nicht nur kaufte ich in den 80ern nach „so“ die früheren Solo-Platten von Peter hinterher („car“, „scratched“, „melt“ „live“, „birdy“) und weitete meinen Horizont dann bis zu den Gabriel-Genesis aus, um bis heute noch alles zu kaufen, was von ihm noch erschien, und nicht nur sah ich jede Tournee mindestens einmal, nein, ich nahm auch die Fährten anderer Musiker auf, die auf „So“ zu hören waren: Kate Bush, Youssou N‘Dour“, Manu Katché oder Produzent Daniel Lanois. „So“ war die Herkunft vieler - wenn nicht gar aller - musikalischen Leidenschaften meiner inzwischen doch recht ansehnlichen Plattensammlung.

Was meiner Meinung nach ein gutes Album im klassischen Sinne ausmacht, ist dass es auf zwei Weisen wieder erkennbar ist: Einerseits als Werk der InterpretIn oder der Band, andererseits als Sammlung von Liedern, die im Sound und ihrer Reihenfolge einen Sinn ergeben, der sich vom sonstigen Schaffen dieser InterpretIn abhebt und eben den Rahmen des „Albums“ abstecken. Die acht Lieder auf „So“ erfüllen diese Wieder-Erkennbarkeiten - sie stehen für die disparaten Kräfte der Musik Gabriels - der Suche nach dem einen pointierten Popsong einerseits, dem kunstvollen, kryptischen Art- und Konzept-Pop andererseits, -ebenso wie für den Versuch, einen Klang zu schaffen, der jedes Lied als Teil des „So“-Sessions aufweist. Dazu gehören auch einige grossartige Songs, die es dann aus dramaturgischen Gründen nicht auf das Album geschafft haben - wie das Duett mit Laurie Anderson „this is the picture (excellent birds)“, das Beat-Ungetüm „Don‘t break this rhythm“ oder das fast schon literarisch-sphärische „Curtains“ und andere. Diese Songs haben auch diesen einerseits pointierten, andererseits flächigen, unglaublich präsenten und druckvollen Raumklang, den Daniel Lanois und Peter Gabriel für „So“ geschaffen haben, und bei dem man sich, wenn man ihn heute hört, fragt, was sie daran noch für die im September erscheinende Jubiläums-Edition remastert haben. Und trotzdem verzichtete Gabriel bei genannten Lieder darauf, sie auf das Album zu pressen (sie sind allerdings in der Deluxe-Variante auf iTunes dabei und werden vermutlich auch auf erwähnter Jubiläums-Edition sein).

Bildschirmfoto 2012-05-24 um 14.25.17Das Original-Album nämlich beschränkte er auf acht Songs, vier auf jeder Seite, die er in einer Reihenfolge baute, welche einen dramaturgischen Zusammenhang herauf beschwören, der „So“ tatsächlich in den Stand eines Kunstwerkes  hebt (ergänzt durch die bahnbrechenden Visualisierungen von fünf dieser acht Song als Musikvideos). Der Opener „Red Rain“ mit seinem schneidend einleitenden Hi-Hat-Tickern von Stewart Copeland und dem regnerischen Bass-Gewitter von Tony Levin klingt in Melodie und Textführung wirklich wie roter Regen, und wer sich dann mit dem berühmt berüchtigten „Sledgehammer“ mit seinem gestochen scharfen Bläsersätzen und diesem unwiderstehlichen Beat weiter der Platte hingibt, wird sich womöglich auf einem 70er Soul-Album wähnen. Diesen Eindruck kassieren dann der epische Hoffnungschimmer-Strohhalm „Don‘t give up“ im Duett mit Kate Bush und der kryptisch in Musik gegossene Alptraum „That voice again“, welcher am ehesten an den frühen Solo-Peter-Gabriel erinnert - mein persönliches Lieblingslied auf „So“. Dreht man die Platte dann um, begründet Gabriel mal eben im Handumdrehen die Weltmusik: „in your eyes“ als eines der vielleicht schönsten Liebeslieder, das je geschrieben wurde, fusst auf einem leicht afrikanischem Hybrid-Rhytmus von Percussion und Schlagzeug (beide gespielt von Manu Katché), der sich jeweils in Bridge und dann den Refrain ergiesst - kongenial austariert von zurückhaltedem Gitarrenspiel. Ich kann mich tatsächlich noch an die ersten Hörerlebnisse mit diesem Song erinnern, an jenen Moment natürlich auch, als aus der Ferne auf einmal die Stimme von Youssou N‘Dour auftaucht - damals gab es noch kein Internet, und es bedarf einiger Recherche-Energie, um heraus zu finden, wer das da war. Mein damaliger Theater-Leiter wusste es, er hatte sogar einige senegalesische Tapes, die er mir überspielte, die ich bis heute hüte wie ein „So“ flankierenden Schatz. Auf der Platte, die uns hier beschäftigt, folgt dann das anmutige, flächige, lyrische „Mercy street, bevor man dann noch mal in den Tanzhimmel geschossen wird: „Big Time!“. Mit „We Do What We‘re Told (Milgram‘s 37)“ beendet dann das vielleicht merkwürdigste Lied auf diesem Album den Geniestreich „So“. Blubbernder Synthiebeat und scharfe Gitarren formen das Fundament für die von einem Schulchor eingesungene Titelzeile, welche in diese kurze Aufzählung von Gabriel gesungen mündet: „One doubt, one voice, one war, one truth, one dream“, welches dann in die Ferne echot und die Platte ausklingen lässt: Eine Platte klingt aus, ein Meisterwerk tritt ab - und doch besitzt jedes einzelne Lied genügend Alleinstellungsmerkmale, um ohne den Albumzusammenhang grossartig zu sein. An diesem Album stimmt wirklich alles, jeder Ton, jeder Sound, jedes Detail - ich liebe „So“ so, wie es ist.