Archiv: Alben 2010-2021

Pop als Kulturtechnik

Marina findet zu sich mit einem Album des Jahres. Mindestens.

Marina Diamandis, unter ihrem Vornamen bekannt, früher Marina & The Diamonds genannt, schreibt und komponiert Lieder, in denen bereits die Merkmale und Stärken ihres Gesangs, ihrer Stimme, ihr Timbre, ihre Art zu phrasieren mitgedacht sind, ohne dass diese Lieder all zu gedacht wirken. Diese aussergewöhnliche Popsängerin braucht daher keinen Signature-Song, um einen Signature-Sound zu haben. Diese ihre Unverkennbarkeit liegt unter Anderem in der Art, wie sie ohne viel Aufhebens von Brust- zu Kopfstimme und wieder zurück springen kann, wie sie geliehene Akkorde in Melodie-Bögen webt, ohne die Eingängigkeit ihres Popentwurfes zu verlassen, wie sie mit wenigen Tupfern Pop-Lässigkeit in Pathos überführen kann und dabei auch die Disko nie vergisst.

Marina_ancientMag ihre letzte Platte, ein Doppelalbum namens „Love & Fear“, ein wenig ideen-überladen gewesen sein, ihr neuester Streich „Ancient Dreams In A Modern Land“ ist nicht weniger als ein Meisterwerk: Aus Rock, Pop, Jazz, Soul strickt sie einen Zehn-Song-Zirkel, ein feministisches Pop-Pamphlet mit Coolnes an der Klippe zum ironischen Kitsch, ein Empowerment mit fluffiger Popschwüle, eine Selbstermächtigung von und mit Disco und Piano.

All dies wird flankiert von selbstzweifelnd lyrischen Kleinoden, von Songtexten, die plötzliche Tiefen in Bubblegumlieder ziehen, offensive Blödsinnigkeiten in Songs, die von Depression handeln, von scharfer Konfrontation von Traurig- und Fröhlichkeit. Wer schreibt zum Beispiel so eine Strophe: „I’ve escaped many vices / like drugs and alcohol / but I can never escape / the war inside my skull / You know that love’s a gift / but it can also be a curse / always the optimist / dealing with somebody else’s can of worms“. Das Alles für die Pianoballade „Pandoras Box“, die sich auf seichten Akkorden mit Streichern aufbäumt, im Refrain komische Melodie-Kurven nimmt und gerade genug Pathos trinkt, damit man auch beim Hören merkt, dass hier eine Lyrikerin textet.

Dieses Album zeigt Popmusik als menschliche Kulturtechnik - so perfekt, dann man nie Perfektion riecht. Grandios.


Retro-Techniken für die Nuller

Die No Angels leisten Pionier-Arbeit

Die No Angels, die großen Künstlerinnen des Gewesen-Seins, des No Angels-gewesen-Seins, um genau zu sein, haben einmal wieder den Aggregatzustand des Seins, des No-Angel-Seins, um noch genauer zu sein, angenommen - sie sind zumindest temporär keine Ex-No-Angels mehr. Anlass dieser Schubumkehr raus aus dem Popstar-Ruhestand ist das 20-jährige Jubiläum ihres Debut-Albums „Elle’Ments“, von dem nun eine Celebration-Version erschienen ist. Auf dieser, sinniger Weise „20“ benannten Zusammenstellung finden sich freilich auch Songs jenseits der Elle’mente der Girlformation wieder, weshalb es eigentlich mehr ein Best-Of-Album als eine Wiederauflage des Debüts ist. 

EllemeDie No Angels haben also die entsprechenden Songs noch einmal aufgenommen und / oder remixen lassen: Sie haben die Stimme von Vanessa Petruo heraus gerechnet (denn Petruo arbeitet derzeit als Neurowissenschaftlerin an der University Of Southern California und hat dem No-Angels-Sein und dem Ex-No-Angels quasi auch adieu gesagt), sie haben die Teeniepop-Elemente der Originale ein wenig entschlackt und die Lieder insgesamt ein wenig entzuckert, um sie weniger gealtert erscheinen zu lassen. Sehr viel mehr Ideen hatte man für die Neuversionen nicht, aber die braucht es ja vielleicht auch gar nicht. Das Album ist als Retro-Projekt angelegt und organisiert: Menschen möchten das, was ihnen einst etwas bedeutete, wieder hören, ohne daran erinnert zu werden, selber 20 Jahre älter als 2001 zu sein. Das ist ein normaler Re-und-Upcycling-Prozess des Retro-Industrie-Zweigs der Popkultur.

Man könnte konstatieren, dass der Schwerpunkt des Retro-Hypes sich derzeit in zwei Richtungen wieder raus aus den 90ern bewegt: Die Reise geht zum gefühlt dritten Mal zurück in die 80er, während dem das Album „20“ der No Angels das Retro-Tor in die Nuller aufstösst. In diesem Sinne wird hier vielleicht auch Pionier-Arbeit geleistet, denn die Popkultur hat für die 80er und die 90er bereits Codes, Chiffren, Sounds und Reflexionsmuster heraus gebildet, einen Werkzeugkoffer also für kollektiv-popkulturelle Gedächtnisräume. Aber für die 00er gibt es diese Retro-Techniken noch nicht. In diesem Sinne ist No Angels’ „20“ mehr die Fragestellung, wie man es machen kann, als eine umfassende Blaupause für zukünftige Retro-Produkte des Nuller-Jahrzehnts. 

Album_No_Angels_20_coverNatürlich würde man „Elle’ments“ auch zu viel der guten Popverantwortung aufbürden, wenn es als wegweisendes Album der Nuller bezeichnen und als solches in die Retro-Küche schicken würde. Aber zumindest was Castingshows anbelangt, die zweifelsohne ein prägendes Element der Nuller waren, sind die No Angels im deutschen Raum einzigartig: Keine Castingformation oder irgendein Solokünstler hat besseren oder erfolgreicheren Bubble-Pop zustande gebracht. In Zusammenarbeit mit entsprechenden Produzenten und Hitschreibern (ich habe nachgeschaut, es sind leider nur Männer) wurde hier handwerklich stimmig der von Frauen repräsentierte und gesungene, von männlichen Produzenten geprägte RnB-Pop aus den USA nachgebaut. Und so markiert diese Platte durchaus auch den Beginn des Popjahrzehnts - in die 90er passten und passen die No Angels auch nicht mehr rein.

Dementsprechend wirken die teil-entschlackten Neu-Versionen vor allem dann pfiffig, wenn die Reduktionen nicht die damals schon zitierten Sounds und Beats betreffen. Bei der ein oder anderen Neuversion muss man sich fragen, warum man schon damals zitierte Elemente von „Elle’Ments“ für die Neufassungen weggelassen hat, weil man das Gefühl hat, gerade sie sind für sich schon retro. So klingt denn zum Beispiel die Celebration-Version von „Feel Good Lies“ deutlich muffiger als das Original - die an Timbaland erinnernden Zwischen-Beats, die zusammen-gestauchten, Destinys-Child-artigen Chöre machten die Single damals zu einem der besten No Angels-Songs überhaupt, während die nun erschienene Überschreibung öde und leer klingt.

Aber summa-summarum muss man dem heute erschienenen Jubiläums-Album attestieren, als das, was es sein möchte, zu funktionieren, und vor allem fällt auf, dass die No Angels und ihr Popentwurf selbst aus heutiger Sicht angenehm divers sind. Man kann sich gut vorstellen, dass die vier Sängerinnen im gerade beginnenden Popjahrzehnt ihren Platz finden.


Elefant ohne Porzellanladen

Die Ohren auf Deutschpop werfen - Folge 17  

Was, wenn die Mehrheit der Popmusiker:innen, die deutsche Songtexte singen, die Warnung des Poptickers beherzigten und sich Alleinstellungstrategien ersönnen, auf dass Deutschpop nicht in der Nähe des Schlagers inflationär verbrenne? Dies wäre natürlich zu viel des Guten und aus Sicht des Poptickers schon ein wenig anmassend. Aber vorurteilsfrei Musik zu hören und eben deren Musiker:innen den Anspruch zugestehen, sich nicht nur aus dem Setzkasten der Popstilmittel welche auszusuchen, damit man seine statistische Erfolgschance erhöht, das ist für die hiesige Kolumne ohnehin ein Anspruch. JorisUnd in diesem keimt die Hoffnung, dass auf diese Weise wird auch teils sehr erfolgreiche Deutschpop reflektiert wird, für den es so gut wie keinen Popjournalismus gibt.

Wie wenig man in die Trickkiste greifen muss, um originell zu sein und nicht nur nach Menschen-Null-Acht-Leben-Fünfzehn-Welt zu tanzen und zu klingen, zeigt der Sänger Joris mit dem Song „Nur die Musik“ von seiner neuen Platte „Willkommen Goodbye“: Eine gepfiffene Melodie als catchy Hook, ein verschleppter und gleichzeitig wandernder Rhythmus, ein semi-perfekter Chor in der Bridge - schon man man dem mittelalten Affen Popmusik ein wenig Blues Winuntergehoben, einen Ohrwurm erschaffen und sich des Schlagers entledigt - guter Song. Zwar sind auf erwähntem Album auch Lückenfüller und Popgerichte nach Rezeptbuch, aber insgesamt weiß dieser junge Mann, wie sein Pop sein könnte, und es macht Spass, ihm dabei zuzuhören.

Wincent Weiss ist dann wiederum im Vergleich dazu klassischster Deutschpop, wie er noch vor ein, zwei Jahren die Charts verstopfte: Instrumente und Elektrik halten sich die klare fifty-fifty-Waage, es gibt altbekannte Ouh-Oh-Chöre und die vielen Ingredienzien eines schlager-affinen Popentwurfs - je nach Song werden bekannte Register gezogen, Gewürze untergehoben und Stilmittel zitiert. Wie bei vielen solcher Platten kann man aber auch nichts wirklich dagegen sagen. Aber dafür fällt einem auch nicht so viel ein. Mich lassen diese Lieder frappant kalt. MineAuch die Texte sind ein wenig unterkomplex: „Sind Fragen da, hast du 'nen Plan / Planst du zu viel, bin ich spontan.“ - mh. Es sei an der Stelle trotzdem erwähnt, dass Wincent Weiss sehr sympathisch ist.

Die Sängerin Mine hat sich ein wenig zum Kritiker:innnen-Liebling des Deutschpop gemausert. Ihre subtil rätselhaften Texte, der Mix aus Hip-Hop-Zitaten, zuckersüssem Pop und Singer- und Songwriting  lädt auch zum Interpretieren ein, und ich denke schon seit Längerem, dass ich das sicherlich auch mag. Aber mir blieb die Musik bislang irgendwie zu entfernt, zu trocken - das Erratische drang nicht zu mir durch, weil es nichts so recht wach rief. Auf der neuen Platte „hinüber“ aber ist das jetzt anders, die neuen Lieder berühren mich. Der Titelsong im Duett mit Sophie Hunger zum Beispiel vermag es in klassischen 3 Minuten, eine poplastige Schwülstigkeit in die Luft zu malen, die aus dem Nichts kommt und nie preis gibt, was sie erzählen will - wenn Mine so dicht bleibt, so undurchlässig, da in sich geschlossen, dann funktioniert der antiseptische Popentwurf ganz vortrefflich, weil er sich selber zu karikieren scheint und gleichzeitig keine ironischen Stilmittel verwendet. Auch der Popfunk von „ELEFANT“, bei dem man die ganze Zeit auf den Porzellanladen wartet, der aber dann doch unerwähnt bleibt, hat Größe: „Ein Elefant im Raum (Du siehst ihn) / Ich seh' ihn, du siehst ihn auch, Babe / Die Uhr hat schon zigmal geschlagen / Ich frag' dich, hast du keine Fragen?“ - wenn sich wie hier Text und Musik hinter zwei Rücken und drei Türen die Hand geben, dann kann Popmusik mit deutschen Lyrics wirklich toll sein. ClaudiaÜbrigens war der Move von Mine, ihren Song „Unfall“ vorab covern zu lassen, auch sehr schön - die Version ihres Songs war noch nicht erschienen, da bat sie Fans und Musiker:innen, den Song doch selber einzuspielen - anhand von Texten, Noten und Chords. 96 Versionen sind eingegangen. Findet man alle noch < hier > .

Apropos Cover - Cover-Alben mit Klassikern deutscher Popmusik sind mittlerweile auch keine Seltenheit mehr. Und nachdem Heino die Beginner gecovert hat, scheint es hier auch keine wirklichen Grenzen mehr zu geben. Nun hat die Sängerin Claudia Koreck ein zurückhaltendes Pianopop-Album gemacht. Es heißt „Perlentaucherin“ und Claudia Koreck covert hier schnörkellos die Ärzte, Echt, Grönemeyer oder Westernhagen. Bei dieser Platte spricht eigentlich alles dafür, dass man das für ideenlosen Blödsinn hält, aber auf eine sehr direkte Art und Weise gefallen mir die sehr simplen, manchmal Danaber in den Chamberpop rein-schnuppernden Versionen von etablierten Popsongs sehr. Die Interpretation, das Eigene liegt hier im Gesang, das Konzept liegt im Sound des Albums. Hört doch da mal rein. 

Wenn man schon bei einem Piano-Album ist, dann sei hier kurz eingeworfen: Danger Dan ist natürlich großartig, aber das wissen schon alle, das muss man hier nicht als Erkenntnis etablieren. Es sei hier nur der KleeVollständigkeit halber erwähnt: „das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ ist natürlich eines der besten deutschsprachigen Alben der letzten Jahre.

Und dann haben wir noch die alten Haudeg:innen von Klee. Diese Band, wenn wir sie kennen, erkennen wir wieder, weil sie immer noch klingen, wie vor einer recht langen Album-Pause; und so ist dann der Titel „Trotz alledem“ wohl auch programmatisch. Als Klee sich gegründet haben, hat man noch über eine Radioquote für deutsche Poplyrics gesprochen, und gleichzeitig schwappte gerade eine kleine Welle von Popsongs aus Berliner Radiostationen in die Welt. Und Klee 2021 klingen wie eh und je: Optimistisch fluffiger Syntiepop mit bescheiden-selbstbewusst singenden Ichs, weiten Flächen und der beiläufigen Art zu singen von Suzie Kerstgens: „Alle optimieren sich - ich nicht. Und alle retuschieren sich - ich nicht. Alle reduzieren sich oder reproduzieren sich - ich nicht. Alle werden immer dünner, und alle ham nen Ring am Finger - ich nicht. Alle glauben jeden Scheiß und alle so: Nice!“ - ja das ist schon irgendwie schöne Popmusik. Aber vielleicht ein wenig erwartbar - wir erkennen es gerne wieder, aber nicht im Neuen sondern im Beständigen. Auch ein Konzept natürlich.


Songs zum Sonntag /// 09052021

/// Die überaus großartige Songschreiberin, Sängerin, Gitarristin und Banjospielerin Laura Veirs sucht ein wenig eine neue Position im Pop-Gefüge. Seit ein paar Wochen zum PantherBeispiel ist sie jetzt auch auf der Plattform Patreon aktiv, auf der Fans Künstler:innen mit monatlichen Beiträgen unterstützen können, wofür sie direkten Kontakt, priorisierten Zugang zur Kunst oder Musik und Einblicke in die Arbeitsweisen bekommen. Amanda Palmer hat diese Plattform so euphorisch und virtuos für sich entdeckt, dass sie von den dortigen Unterstützungen quasi leben kann. Laura Veirs vielleicht noch nicht, aber ihr neuer Song atmet ein wenig den Geist der Plattform. Er heißt „The Panther“ und ist klassischer Veirs-Folk, Zupfgitarre, schnörkelloser Gesang und immer mit lachendem Auge im melancholischer Grundstimmung. Wenn man ihn auf Bandcamp kauft, bekommt ihn einmal voll arrangiert und produziert und einmal in einer abgespeckten Ukulele-Version. In beiden Fassungen entfaltet der Song eine Hirosorgsame Unruhe. Und ich weiß noch nicht einmal, wovon er handelt. Vermutlich von einem Panther. /// Claire Laffut hat einen höchst unterhaltsamen Weg gefunden, den wunderbaren Kitsch des Chanson zu unterlaufen und gleichzeitig für ihren Popentwurf zu nutzen, indem sie Lounge-Beats und Understatement unterhebt. Daraus entstanden bislang einige wundervoll französische Pop-Perlen. Nun hat sie die erste Single ihres ersten, bald erscheinenden Albums „bleu“ veröffentlicht, und diese ist eine musikalische Paraphrase des Filmes „Hiroshima Mon Amour“, welcher die Geschichte einer Affäre erzählt - in der Kulisse der Stadt, die man vor allem als Ort eines Atombombenabwurfs im Kopf hat. Man versteht, wenn man nicht sooo gut Französisch spricht, nicht alle diese Schichten unter einem Song, der eben auch "Hiroshima" heißt, aber vielleicht muss man das auch nicht. Der Track funktioniert auch so gut: Schluffige Beats, sphärische Refrain-Chöre und tremoloefreier relaxter Gesang - man möchte direkt einen Rosé aufmachen. ///


They are what they are or what

Für mich das schönste Comeback des Jahres: „Edie Brickell & The New Bohemians 

Als wäre nichts gewesen: Funky Rock mit flockigen Beats und snippy Percussions, straighte Bässe, schöne Gitarren-Sounds, und über all dem erzählt Edie Brickell Geschichten, die durch die Bildschirmfoto 2021-04-06 um 10.00.28Hintertür emotional werden. Die Platte „Hunter and the Dog Star“ ist nicht nur das Comeback einer tollen Sängerin und Songschreiberin, es ist das auch einer ganzen Band, einer Band, die weiß, was sie spielt und dem genügend vertraut - unweigerlich fällt eine der Refrain ihres größten Hits ein: „What I am is what I am, are you what you are or what?“. Und wenn man sie früher geliebt hat, diese Band und diese Sängerin, wenn man die beiden ersten Alben „shooting rubber bands at the stars“ und „ghost of a dog“ hin und wieder rausgezogen und aufgelegt hat, dann ist es so schön, das wieder zu hören, neue tolle Lieder.

Balladen sind hier selten, die Platte sucht erwähnten Funkpoprock, die erste Seite wimmelt gar von Mitsingrefrains, und aus Seite B wird es dann allenfalls mal ein wenig weirder. Man könnte leicht sagen, hier herrscht nicht gerade die größte Abwechslung, aber mir ist das egal. Ich liebe die Platte.


In die Ferne zurück schweifen

Ein paar Gedanken zum Mittelalter-Rock anlässlich einer neuen Platte von „dArtagnan“

DartagnanWo wir es ja gerade einen Post weiter oben von Subsubgenres auf Spotify hatten, die mehr auf algorithmischen Prinzipien fussen, bekommen wir es heute bei mit einem durchaus musikalischen Subsubgenre zu tun (oder Subsubsub?). Hinter dem zudem, laut Eigenaussage der betreffenden Band, eine philosophisch-ideologische Grundhaltung steckt - die  Rede ist hier vom Musketier-Rock. Erfunden hat diesen die Band „dArtagnan“, und die erwähnt philosophisch-ideologische Grundhaltung ist, ihr ahnt es, der Schlachtruf der Musketiere: Alle für einen, einer für Alle. Was immer das nun musikalisch bedeuten mag. Grundsätzlich ist der Musketier-Rock natürlich eine Spielart des Mittelalter-Rock, um nicht zu sagen: Gleicher Met in alten Schläuchen - die meisten Mitglieder der Band spielen denn auch in anderen Mittelalter-Kombos, zum Beispiel bei „Feuerschwanz“, mit denen ich mich hier im Blog auch schon beschäftigt habe - < hier >. Im Klangbild von „dArtagnan“ hört man zwar nicht so viele mittelalterliche Instrumente wie bei anderen Vertreter:innen dieses überaus erfolgreichen Subsubsubgenres, aber die mummenschanzische Verankerung in der Ritterzeit funktioniert im Sound des reinen Rock klassisch über die Scharniere mittelalterlicher Melodien und einen entsprechenden Wortschatz, aus dem sich die typischen Songtexte eines Mittelalter-Songs bauen lassen: Wetter, Feuer, Gelage, Zusammenhalt, Blut und Durchhalteparolen. Daraus ergeben sich dann hübsch doppeldeutige Singalongs: „Heho, denn wir sind Glücksritter!“ oder „Wer nicht kämpft hat schon verloren, wer nicht fällt, steht nicht mehr auf.“ 

Erstaunlich an dieser Musik ist, dass sie ihr eigenes Regelbuch mitliefert - die Formel aus den genannten Zutaten eine Musik zu brauen, ist weitest gehend immer dieselbe, und diese Musik ist in diesem Sinne wie meistens im Pop im Grunde bewahrend, konservativ. Verblüffend ist, mit welchem Feuereifer diese Formel in Musik umgesetzt wird, und wie musikalisch versiert man in diesem Subsubsubgenre also zu Werke geht - auch bei „dArtagnan“. Im Mittelalter-Rock ergibt sich daraus im Allgemeinen ein augenzwinkernder Bierernst, der sich, wie schon öfter über andere Mittelalterbands in diesem Blog beschrieben, trefflich ironisch Bildschirmfoto 2021-03-29 um 18.19.27deklinieren lässt. Im Fall von „dArtagnan“ und ihrer neuen Platte „Feuer & Flamme“ ist verblüffend, mit welchem Ernst sie ihren Musketier-Rock zelebrieren. (Ich habe schon überlegt, auch eine Musketier-Rock-Band zu gründen. Arbeitstitel: porThos. Das wäre der zweite Vertreter in diesem Segment, auf dem also noch Platz ist.) Jedenfalls verschwimmt durch die ironische Distanz zum überzeugtem Ernst der Eskapismus, der dieser Musik natürlich trotzdem innewohnt. Man wird gleichzeitig woanders hin mitgenommen und zurück geschickt. Oder anders gesagt: Die Refrains mit Mitgröhl-Charakter holen die entrückten Hörer:innen dann auf den Boden der heutigen Tatsachen zurück. Mithin ist diese Musik also keinesfalls so unterkomplex, wie man im ersten Moment denken mag.

Trotzdem ist es schwierig, ein Anliegen der Band zu erspüren, das über die ja letzten Endes abstruse Idee, Musketiere Rock spielen zu lassen, hinaus geht. Vermutlich ist aber genau das Zurückholen in die Jetztzeit mit erwähnten Singalongs, die mithin oft Durchhalteparolen sind, Grund genug, sich für diese dadurch weniger abstruse Musik zu ereifern - musizierender wie hörender Weise. Und das ist ja auch durchaus ein erstaunlicher Popeffekt, vielleicht sogar ein konstatierender im Allgemeinen, wenn das Ferne, in die Popmusik entführen kann, nicht das Mittelalter sein muss. Vielleicht also ist Musketier-Rock letzten Endes genauso wenig abwegig wie Gangster-Rap.


Fluffige Welt

Wunderbare Musik von Tania Saleh aus dem Libanon

 

Die gleichsam sehr persönliche wie auch höchst politische Musik der libanesischen Sängerin Tania Saleh ist für mich die erste hinreissende Pop-Entdeckung in diesem Jahr - ihr vor zwei Wochen erschienenes Album „10 A.D.“ höre ich derzeit beim Kochen und Entspannen. Der Titel steht hier im Übrigen nicht für „anno domini“, oder zumindest nicht nur, sondern für „after divorce“ - die Platte Slehfeiert sozusagen ihren Scheidungs-Geburtstag. Auf Deutschlandfunkkultur sagte Tania Saleh dazu letzte Woche: „Ich wollte über mein Leben in diesem Land als geschiedene Ehefrau sprechen.“ Gleichzeitig eben ist der Titel mit seinem Verweis ins Altertum Teil ihrer Mission: „Mittelalterlich mutet es an, dass im Libanon nach wie vor religiöse Gerichte und die Scharia-Gesetzgebung über Heirat, Scheidung, Unterhalt oder Sorgerecht urteilen.“ - die Wut und Verzweiflung, die Saleh in Musik giesst, merkt man den Liedern zunächst einmal nicht an, man muss sie sich, wenn man kein Arabisch spricht, anlesen oder eben im Radio dazu-hören, denn ihre Musik klingt an sich versöhnlich. Doch natürlich schlummert genau in diesem scheinbaren Widerspruch ihr Reiz: Klavierballaden, ziehen sich in arabischen Harmonien mit chanson-haften Streichern, jazzigen Upbeats und getragenem Gesang in die Breite, Synthies, Oud und Bläser verorten die Lieder in der Welt, in der Schönheit. Tania Saleh kann beiläufig wie im Pop singen, Pathos wie im französischen Chanson erzeugen, sie findet zu spoken-word performances auf fluffigen Rhytmen, und urplötzlich kann sie auch rappen und schichtet ein E-Gitarrensolo auf leise Lieder. Ich komme nicht von dem Begriff, der Weltmusik los, den viele inzwischen ablehnen, aber wenn man Welt in der Popmusik hat, trifft er doch zu. Jenseits dieser Frage ist „10 A.D.“ eine famose Platte.


Le disque de discours

Suzane und ihre Chanson-Discothéque

Bildschirmfoto 2021-03-09 um 11.38.54Der französische Chanson ist schon fast eine Kulturtechnik, ein kulturell tief verwurzelter Code, der stabil bleibt, egal in welche Richtungen er gebeugt wird, oder aber vielmehr, der so beständig ist, weil er ständig erweitert wird, weil sein Kern dabei immer sichtbar bleibt. Die junge Sängerin und Chansonnière Suzanne hat gerade ihr schon nicht mehr ganz junges Debut-Album auch offiziell hierzulande veröffentlicht und präsentiert auf „Toï Toï“ eine Chanson-Variation, die von Dancefloor, Synthpop und Housebeats unterfüttert wird - Clubmusik mit einer Träne Melancholie in der Plattenrille, mit Texten über das heutige Frankreich, gelbe Westen, queere Frauen und Klimawandel. Die Musik von Suzane wird dabei fast Diskurspop und bleibt doch französisch bis ins Baguette-Klischee: Magnifique.


Bravo von Eden

Die iTunes-Album-Charts von Freitag den 26.02.2021

BrvoVermutlich gibt es auch noch die Zeitschrift, aber zumindest meine Kinder wissen nicht mehr, was die „Bravo“ ist. Aber die Hit-Compilation unter diesem Namen ist immer noch sehr erfolgreich: Platz 01 der deutschen iTunes-Album-Charts ist derzeit „Bravo Hits 112“. Und mehr noch als die Frage, wer heute noch die Zeitschrift „Bravo“ kauft, fragt man sich, wer eine Brav-Hits-Compilation als Download kauft. In Zeiten, in denen das NinoKuratieren von Streaming-Playlisten eine neue Pop-Sammel-Kultur heraus gebildet hat, wirkt eine solche Compilation nahezu 90er-retro. Sie zu kaufen ist vielleicht als ökonomischer Pop-Gestus ein ähnlicher Akt wie die Vinyl-Liebe der über 45 Jährigen. Ein Grund könnte freilich auch die schiere Masse an Songs sein: 26 sind es, die man mit „Bravo Hits 112“ sein eigen nennen darf - Kostenpunkt 13,99 €.

Auf Platz 2 und 9 der aktuellen iTunes-Charts befindet sich amerikanischer, hoch komprimierter Dark-Rock mit gepitchten Streichern hoch über düsteren Stimmen, und auf Platz 4 eigentlich auch. Nur sind hier die Texte auf Deutsch und mit Schlager untersetzt: Nino De Angelo, nunmehr Nickmit weißem Ziegenbart und nachdenklichem Blick in die Ferne, will es noch einmal wissen und fühlt sich „Gesegnet & Verflucht“ - so heißt seine neue Platte. Fast scheint es, als meine er damit seinen einstigen Hit „jenseits von Eden“, den er auch auf dieses Album noch einmal drauf packt, in einer dem neuen De-Angelo-Sound angepassten Version, welcher wie gesagt mit dem Mitteln des Rock in den Schlager-Gewässern nach Trübem fischt. 

In unmittelbarer Nähe in der Chartsplatzierung zu einem Lockdown-Album von Nick Cave, der nicht nach Trübem fischen muss, um in scheinbarer Hoffnungslosigkeit Schönheit und Würde zu finden, kann man den auch heute wieder einmal höchst stilvielfältigen Album-Charts Eskapismus attestieren. Als übergreifende Sehnsucht des Pop-Käufers im Jahre 2021.


Synthpop und Wald

Dagobert hat dem Popjahr 2021 ein erstes Meisterwerk geschenkt

Der Sänger und Songschreiber Lukas Jäger hat für sich die Kunstfigur Dagbobert ersonnen - Dagobert ist ein gut angezogener melancholischer Gentleman, der städtische Hipness mit schweizer Landluft verbindet, eine Idee irgendwo zwischen den schweizer Bergen und Berlin. Dass er in in einer solch skurrilen Erscheinungsfigur die Schwere und die Nähe zu Kitsch sucht, hat in einer gewissen Schubladen-Hilflosigkeit dazu geführt, dass man Dagobert dem Schlager zugerechnet hat, aber seine stark verknappten Poplyrics und sein intelligent-subtiler Humor haben ihn eher in der indie-affinen Pophörerschaft Fans eingebracht.

Bildschirmfoto 2021-02-01 um 12.33.04Mit dem vierten Album „Jäger“, am Freitag dem 29.01. erschienen, findet die Figur zu sich und zum Synthiepop: „Jäger“ ist ein Liedzyklus über Sterben, Tod, Vergänglichkeit und Liebe, eine erratisches Kunstwerk voll Poesie, schillerndem Vermissen und verknappten Zeilen: „Mama geht’s gut. Papa geht’s auch gut. Obwohl … nicht mehr ganz so gut. Aber immer noch gut. / Lucy geht’s gut. Christoph geht’s auch gut. Es ging ihm nicht immer gut. Es war auch mal gar nicht gut.“ - es zieht sich durch das Album, dass  man zwischen den Zeilen Sehnsüchte nach Freundschaft, Familie und Beständigkeit hört. In „ich will noch einmal“ singt er dann: „Wie viel Zeit, bis wir sterben? Und wie viel Sinn machen die Dinge, die wir bis dahin tun? Nicht sehr viel. Wenn wir ehrlich sind. Doch darum geht’s nicht, darum ging es uns noch niemals. Es gibt noch so viel zu tun. Alles noch einmal, die Lust ist viel zu groß um auszuruhen.“

Es ist erstaunlich, wir hier mit wenigen Zeilen ein philosophisches Geworfensein mit den Mitteln der Popmusik skizziert wird. Damit das funktioniert braucht er im Album-Fluss, in der Dramaturgie einer Platte auch Lieder, die ironischer daher kommen, die nicht die Schwere einfordern, wie zum Beispiel die die zweite Single „Nie wieder arbeiten“, in der Dagobert genau dies konstatiert, und dass er lieber „schön durch den Tag gleiten“ möchte. So etwas. Und dann aber steht er auf einmal „Im Wald, wo die Bäume stehen. Und - wo die Tiere leben. Und - wo die Nächte finster sind … erscheint ein Geist, jeder weiß, wie er heißt, doch niemand spricht seinen Namen laut. Wenn er kommt, wird ein Opfertisch aufgebaut und ein Leben ausgehaucht.“ -„Jäger“ lässt trotz Schönheit stets offen, wo wir gerade sind, und was wir als nächstes zu erwarten haben, sie lässt einen erstaunt zurück. Ich bin seit drei Tagen teils zu Tränen hingerissen, wie toll dieses Album ist.