„Forian Paul + die Kapelle der letzten Hoffnung“, ihre neue Single "heile Welt" und das Video dazu, das ein Trailer ist
Zeitweise, noch vor der Pandemie, konnte man in den Speisewagen der Deutschen Bahn das Gefühl bekommen, das alkoholfreie Weizenbier sei das Adäquat zum Tomatensaft im Flugzeug geworden - man bestellt es wie selbstverständlich kurz nach Göttingen, obgleich man niemals sonst alkoholfreies Weizenbier trinkt, und am Nebentisch bestellt es dann auch jemand - eben so, wie man Tomatensaft trinkt, wo die Freiheit wohl grenzenlos scheint. Aber einmal bekam ich es nicht, mein Weizen ohne Alkohol.
Es war im Eurocity nach Prag, auch wenn ich nur nach Berlin fuhr, der Zug geht nach Tschechien, und führt einen tschechischen Speisewagen, das Essen dort ist viel besser, aber Weizenbier haben sie nicht, jedenfalls kein Alkoholfreies. Aber sie sind ein wenig altmodisch eingerichtet, viel schöner als die modernen ICEs oder der hässliche ICE 4 gar, der gar keine Speisewagen-Flair mehr entfachen kann, und ich schaute aus dem Fenster des tschechischen Speisewagen-Flairs mit einem Bier ohne Weizen und ohne ohne Alkohol, und ich denke damals auf einmal: Bin ich hier also in einem Wes Anderson-Film.
„Wie in einem Wes Anderson Film“ ist ein wenig die Allzweckformulierung für farblich abgestimmte Retro-Atmosphäre mit Einsamkeit und schrulligen Menschen geworden, und vielleicht geht einem heutzutage „bisschen wie bei Wes Anderson“ all zu rasch über die Lippen - so wie „kafkaesk“. Wes Anderson steht also im selben Verhältnis zu Kafka wie das alkoholfreie Weizen zum Tomatensaft. Naja. Sicher ist indes: Von meinem tschechischen Bier hätte ich vielleicht gar nicht erzählen sollen, denn um so weniger glaubwürdig habe ich mich dadurch gemacht, wenn ich nun sage: Das neue Musikvideo zu dem Song „Heile Welt“ von „Florian Paul + die Kapelle der letzten Hoffnung“ wirkt ein wenig wie aus einem Film von Wes Anderson Film gegriffen. Ich habe es aber dennoch so eingeleitet, weil ich poetischer darüber schreiben wollte, als über andere Deutschpopmusik.
In erwähntem Musikvideo jedenfalls wohnen eine Frau und ein Mann in einem Raum, den sie nicht zu verlassen scheinen - weil sie nicht wollen, weil sie nicht können, weil sie nicht dürfen? Wir wissen es nicht. Verpflegt sind sie ausreichend mit Ravioli in Dosen, die ein wenig an Warhols Tomatensuppe erinnern; und das ganze Szenario also ist farblich abgestimmt und schrullig. Manchmal wackelt ein Regal. Ungglücklich scheinen die beiden nicht, aber insbesondere die Frau sehnt sich woanders hin, möchte hinaus, offenbar gibt es noch andere Räume, und an sich wähnen die beiden diese Räume leer. Später werden sie diese anderen Räume erkunden, die Frau wird vorgehen, und sie werden auf andere Leute treffen, eine Bar, eine Party, das sieht man auch hier schon, aber wirklich erzählt wird dies wohl erst in dem gesamten Film, denn dieses Musikvideo ist gleichermassen ein Trailer zu einem Musikfilm, und dieser Film begleitet die neue Platte von „Florian Paul“. Film wie Platte werden „auf Sand gebaut“ heissen - ein ungewöhnliches Vorhaben mit deutscher Popmusik, von dem wir hier im Popticker noch hören werden.
Florian Paul und seine Kapelle haben den Sound ihrer Musik schon in ihrem Band-Namen ein wenig beschrieben: Chamberpop, eine Stimme, eine Kapelle; ein Popentwurf irgendwo zwischen „Element Of Crime“, Hamburger Schule und Max Raabe. Florian Paul singt mit leidenschaftlicher Beiläufigkeit poetische Geschichten, die er als Regisseur seines Musikfilms nun auch visuell erzählt. Die Single „Heile Welt“ ist eine getragene Piano-Ballade, eine skeptisch leise Aussicht auf Besseres: „Mach das Licht aus, schau die Welt geht endlich unter, doch wir haben uns eine neue ausgedacht.“ - mich persönlich berühren Lied wie Musikvideo sehr, weil ich in der Melancholie der Skepsis eine Denkfigur der Hoffnung spüre, die in diesen Zeiten gesund sein dürfte.
Links zu "Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung"
< Website >
< Musikvideo "heile Welt" / Trailer "auf Sand gebaut" >
PS - nun ist mir endlich eingefallen, an welche Band mich diese Musik noch erinnert, auch wenn das mit dem "die klingen ja wie ..." immer auch ein wenig blöd ist: The Nits - insbesondere an deren Platte "Adieu, sweet Bahnhof"