Dietmar Poppeling im Gespräch mit dem Popticker über das Ende des Rock durch Pop, mit der Hook beginnende Lieder und die Wirkungsgewitter in Zeiten von Hygienekonzepten anlässlich des Eurovision Songcontest 2021. Bebildert in diesem Jahr nur mit Stockfotos - aus Gründen
Herr Poppeling, nach eine Jahr Pause konnten wir gestern den Eurovision Songcontest unter pandemischen Bedingungen beiwohnen - wo soll man da bloss anfangen? Klassisch? Mit der Frage, wie Ihnen der Songcontest ingesamt gefallen hat?
Dietmar Poppeling mit seinem Jet
Oder wir fangen dieses Mal da an, wo wir sonst enden, nämlich mit der Frage, wen wir im nächsten Jahr zum Contest in Italien schicken sollten, denn es braucht kein Corona, um mein Ritual der Antwort zu hinterfragen, die ich immer gebe: Vanessa Petruo. Denn wir wissen nun: Vanessa Petruo wird es nicht machen, sie ist Neurologin in Berkeley und an einer weiteren Karriere in der Popmusik mit oder jenseits der No Angels nicht interessiert, und auch wenn wir beiden Gott und die Welt bewegen würden: Der Zug ist abgefahren. Deswegen gebe ich in diesem Jahr eine diplomatische Antwort: Wen wir schicken, ist vielleicht weniger die Frage, als vielmehr die, wie wir an ein Lied kommen, das dann - von wem auch immer - gesungen werden kann, denn ich denke, das war in diesem Jahr der Knackpunkt: Ein Popsong braucht so vieles, ein ESC-Song braucht auch vieles davon, aber hier hatten wir es mit einem Beitrag zu tun, der eine an sich saugute Hook hatte, aber damit hat man sich leider zufrieden gegeben: „I don’t feel hate“, auf diesem Satz könnte man einen Song aufbauen, aber sonst hat man halt nicht viel komponiert: Keine Strophe, kein Refrain oder eine Bridge, die in die Hook mündend einen Refrain suggeriert, nix, und dann hat man den Rumpf eines Liedes auch noch mit der Hook, den einzigen Trumpf, den man im Ärmel hat, beginnen lassen, und hat halt damit schon seine Pfeile verschossen. Somit hatte man auch keine Dramaturgie drin, keine Geschichte, keine Konklusion.
Was wäre eine Konklusion?
Nun, dass man irgendeine Situation beschreibt, aus der heraus man Gründe hätte zu hassen, und dann sagt man aber eben: Nee! I don’t feel hate! All dies hat man nicht getan, sondern, man lässt Jendrik direkt singen:
Jendrik bei seinem Auftritt in Rotterdam
Ich verspüre keinen Hass. Und damit ist diese Hook eben auch schon verschenkt, und eine verschenkte Hook ist keine Hook - sondern eine leere Phrase. „I don’t feel hate“ ist die Folge von etwas. Wenn man es vorweg schickt, folgt daraus nichts. Überhaupt denke ich, dass ein ESC-Song nicht mit dem Refrain beginnen sollte. Ich habe hier keine Statistik, aber ich wage die Behauptung, dass beim Songcontest noch nie oder zumindest selten ein Lied gewonnen hat, das mit dem Refrain beginnt.
An Jendrik lag es also nicht?
Nein. Der hat eine silberne Ukulele, und dass er sie wirft und fängt, ist auch prima, aber der Song war kein Song, und ohne einen geht es halt nicht.
Nun sind wir bereits mittendrin und haben den deutschen Beitrag analysiert, da können wir gleich mit der Tür im Haus bleiben und Sie fragen: Wie finden Sie den italienischen Sieger-Beitrag?
Naja, dass Rock niemals sterben wird, wie der Sänger uns euphorisch unterrichtete, das mag schon als Botschaft einer der Gründe sein, warum so ein Titel gut ankommt, aber natürlich ist die Botschaft auf einer Popveranstaltung wie dem ESC schon irgendwie fehl am Platz, um nicht zu sagen: Der Mummenschanz, die Ironie, mit der Rock hier retro-romantisch und also mit den Mitteln des Pop inszeniert wird, ist natürlich im höchsten Masse kontemplativ und damit vom Gestus her ziemlich wenig Rock. Überspitzt könnte man sagen, die Botschaft, dass Rock nicht sterben könne, kommt in dem Fall aus der Gruft des Rock, womit ich aber nicht gesagt haben will, dass die Band, die gewonnen hat, nicht trotzdem Rock lebt. Die Pressekonferenz von Måneskin war sicher mehr Rock als der Beitrag, der Song „Zitti e Buoni“ es sein kann. Aber das sind natürlich Spitzfindigkeiten, die Spass machen, gedacht zu werden - letztendlich ein verdienter Sieger.
Ihr Favorit war es nicht?
Go_A aus der Ukraine
Mein Favorit war die Ukraine, ganz klar, weil die es vermocht haben, die neue Art und Weise, wie heute Popsongs gebaut werden, als stetes Crescendo von Einzelpartikeln, die ihrerseits jedes für sich auf TikTok funktionieren würden, in einen Beitrag für den ESC zu übersetzen. Gleichzeitig haben sie Sprache und Harmonien eines folkloristischen Beitrags, wie sie für den Contest typisch sein können, ernst nehmend zu zitieren. Das ganze Ding „shum“ von Go_A war der erste Beitrag zum ESC aus der Streaming-TikTok-Ära der Popmusik. Solche Beiträge werden wir nächstes Jahr mehrere und in zwei Jahren sehr viele zu Gesicht bekommen, und sie werden eher nicht so stark sein, wie dieser dies Jahr der Ukraine - ein Feuerwerk visueller wie akustischer Hooks.
Welche Beiträge waren zudem bemerkenswert?
Frankreich hat es mit einem puren Genre versucht, das kann immer auch funktionieren, obgleich die statistisch meisten Beiträge vermutlich einen Genremix suchen, um in möglichst vielen Publika und Jurys, Stimmen zu gewinnen. Hier hatten wir es mit einem originären Chanson zu tun, der sich zu 100 Prozent auf dessen Wirkungsweisen verlässt. Das fällt eben allein schon deswegen auf, weil wir gesagt viel Beiträge Anschluss in viele Richtungen erhoffen. Hier war es eben von Barbara Pravi auch toll vorgetragen. Im Gegensatz dazu wirkte der Beitrag aus der Schweiz schon fast wie ein Kunstlied, das fiel schon auch auf, und auch hier war der Vortrag seitens „Gijon’s tears“ bemerkenswert gut.
Warum war der maltesische Beitrag so hoch gehandelt und hat es letztlich nur auf den siebenten Platz gebracht?
In dem Fall würde ich sagen, dass „nur“ in Bezug auf den siebenten Platz relativ ist, aber warum es vielleicht nicht in den Ausmass gefunkt hat, in dem das Wettbüros erwartet hätten, hat meines Erachtens damit zu tun, dass die Überwältigungsstrategie, dass Wirkungsgewitter in einem Jahr mit nur 3500 Zuschauer:innen in der Halle nicht automatisch auffallen. In anderen Zusammenhängen hätte dieser Beitrag vielleicht gewinnen können.
Fans in der Halle
Was für Lehren ziehen wir insgesamt aus diesem Songcontest für die die Kommenden?
Der Rockanteil wird nächstes Jahr stark steigen, aber es wird sicher kein Rock gewinnen. Insgesamt sollte man irgendwann wirklich überdenken, ob die big five wirklich automatisch für das Finale qualifiziert sein müssen, denn man sieht ja, dass man sich damit keinen Gefallen tut. Wenn man das Halbfinale überwinden muss, steigt durch den Wettbewerb die Identifikation mit dem eigenen Beitrag eines Landes, und damit letztlich auch der Wert im nationalen TV als Sende-Ereignis. Die Idee, dass man damit ein Ereignis finanziert, bei dem man dann selber nicht vorkommt, weil man im Halbfinale ausscheidet, ist letztlicht eine Illusion, eine Chimäre, denn man sieht ja an unserem diesjährigen Beitrag: Ohne Lied kann man sich die Teilnahme auch schenken. Schauen Sie sich UK an - vielleicht würde das vereinigte britische Königreich den Wettbewerb nicht verweigern, wenn es für sie einer wäre.
______________________________________________________________
Dietmar Poppeling ist Poppproduzent und -theoretiker. Er war Popbeauftragter der Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Er lebt in Nürnberg und ist eigentlich sonst nur < HIER > im Popticker zu finden. Und auf Facebook < HIER > - dort auch seine Disko- und Biografie.