Alben 2022

Alben & Songs des Jahres

Bildschirmfoto 2022-12-14 um 11.32.02... wie immer unfassbar subjektiv und ebenfalls wie immer habe ich bei den Songs nur solche reingenommen, die nicht auf einem der Alben des Jahres sind. Nicht wie jedes Jahr habe ich in diesem Jahr als jemand, der nicht streamt, deutlich weniger Neues gehört als sonst, wodurch mir bestimmt tolle Musik entgangen ist - wie gesagt: Unfassbar subjektiv halt.

ALBEN

01 Florian Paul & die Kapelle der letzten Hoffnung / auf Sand gebaut < Huldigung >

02 M / Révalité < Link-Tree >

03 Katie Melua & Simon Goff / Aerial Objects < Playlist Youtube >

04 Ariane Roy / Medium Plaisir < Website >

05 Sona Jobarteh / Badinyaa Kumoo < Website >

06 Laura Veirs / Found Light < Bandcamp >

07 Tocotronic / nie wieder Krieg < Narrativer >

08 Tears For Fears / The Tipping Point < Poptickers Lob >

09 Maggie Rogers / Surrender < Website >

10 Nits / Neon < nicht nur Dutch Mountains >

SONGS

01 Camille / Humaine(Herbert Grönemeyer-Cover) < official audio >

02 Ka2 & Gabrielle / i natt < official audio >

03 Lana Del Rey / Did you know that there is a tunnel under Ocean Boulevard < official audio >

04 Herbert Grönemeyer / Deine Hand < video >

05 Fishbach / Masque D’Or < video >

06 S10 / De Diepte < ESC >

07 Camilla Cabello / Bam Bam < echt jetzt? >

08 Les sœurs Boulay / Les lumières dans le ciel

09 Dominique Fils-Aimé / Go Get It < video >

10 Deichkind / in der Natur < video >


Bedroom and Stadium

Die sehr schöne Debüt-EP von Saguru

Spricht man eigentlich noch von Bedroom-Pop? Ich weiß es nicht, und ich nutze ja nebenbei auch kein Spotify, wo am gestrigen ersten Dezember wie jedes Jahr zusammen gefasst wurde, was man alles so hört und Subsubgenres an die Oberfläche spülen, von denen man meist wirklich nur am ersten Dezember hört, und vermutlich splittet sich also der mutmassliche Bedroom-Pop in zig Unterstile. Für den Münchner Musiker Saguru bin ich geneigt, auch einen zu erfinden, jedenfalls könnte man hier eventuell von COVER_In Bloom (EP)Bedroom-Pop sprechen; wer damit aber spleenigen Aufnahme-Dilettantismus meint, der ist hier an der falschen Adresse, denn die Musik von Chris Rappel, wie Saguru mit „bürgerlichem“ Namen heißt, sucht den Breitwandpop, die weite Fläche und tiefe Räume - Sound-Elemente also, die man eher mit aufwendigem Studio-Equipment verbindet. Von diesem Widerspruch zwischen leiser, bescheidener, inniger Musik, die aber im Sound nach Bon-Iver und Coldplay schielt, lebt die heute erscheinende Debut-EP „In Bloom“.

Man kann an den vier Songs (und einem Interlude) recht gut ablesen, warum die EP, das kurze Album also, die Darreichungsform der Stunde ist. Es eignet sich zum Ausloten des eigenen Stils über mehrere Songs, muss aber noch nicht die Klarheit darüber vermitteln, was es alles sein und nicht sein will, die ein Album irgendwo braucht. Auf „In Bloom“ hören wir also einen Musiker auf der Suche nach einem Popentwurf: Was für Lieder eignen sich für diesen Stadion-Bedroom-Pop? Wie viel Hall kann ich auf meine E-Gitarre geben, damit sie nicht doch schon nach U2 klingt? Wieviel Synthies und E-Drums verträgt ein Lied, das auch Folk bleiben könnte? Und wie oft kann ich von Brust- in die Kopfstimme wechseln, ohne dass es zu viel wird?

Also ich weiß jetzt nicht, ob das wirklich Fragen sind, die sich Saguru stellt - könnt ich ihn mal fragen, seine Mail-Adresse habe ich - aber es sei hier einmal gesagt, was hoffentlich schon durchgeklungen ist: Das ist wirklich tolle Musik von einem interessanten Musiker und vor allem auch tollen Sänger. Hört Euch das mal an und sagt mir - zum Beispiel in den Kommentaren - gerne, ob ihr das auch so schön findet wie ich ... - Link: < saguruofficial.com > 


Reiche Range

Als nächstes gerne ein Album: Die Debut-EP von David Gramberg

GrambergVon David Gramberg war hier hier im Popticker schon zweimal die Rede - < hier > und < hier >. Seine letzten vier Singles bündelt er nun zu einer EP, die unter dem Titel eines fünften Songs, „Where Have You Gone“ erscheint. Gut, so generiert man eben Aufmerksamkeit heutzutage, vier Singles und dann eine EP bieten eben fünfmal Anlass, um gestreamt zu werden und oder in Playlisten Einzug halten. Das ist eine Veröffentlichungs-Dramaturgie, die für mich ein wenig bizarr anmutet - aber nun denn: OK Eigenboomer. Und Schwamm drüber, denn das ändert natürlich nichts daran, dass die Musik dieses Ausnahmepopsängers wunderbaren Soul sucht und findet - diese Art Pop subsumiert Stile unter seiner Fittiche, bei denen mitten in einem Gospel-Zitat auf einmal eine Ukulele reinschneit, fröhliche Chöre „Dabababadabda“ singen und wir zuhören, wie Gramberg problemlos durch die reiche Range seiner Stimme surft - diese Musik hat es verdient, ein Album zu füllen. Wer darauf nicht warten kann, dem sei diese EP wärmstens ans Herz gelegt.

Link: < www.davidgramberg.com >


Der Onkel vom Kumpel vom Klaus

Tokio Hotel und ihre neue Platte „2001“

Wäre das Album „2001“ nicht von „Tokio Hotel“ sondern von irgendwelchen 30-Jährigen Typen, würde man denken: Das ist von irgendwelchen 30-Jährigen Typen; von Typen, die zu viel Geld haben und sich von dem Geld  Equipment zu Aufnehmen von Musik Bildschirmfoto 2022-11-22 um 10.46.37gekauft haben, und der Onkel vom Kumpel vom Klaus, der arbeitet bei „Epic Records“, die würden das sogar veröffentlichen, wenn wir mit dem Kram echt und wirklich eine Platte aufnähmen. Und ehe man es sich versieht und das mit den Typen gedacht hat, die nicht „Tokio Hotel“ wären, denkt man: Die Story stimmt irgendwie ja doch, obwohl das Tokio Hotel sind. Das sind Typen, die zu viel Geld haben, und die Equipment besitzen, mit dem man eine Platte aufnehmen kann, und sie kennen andere Typen, die das dann sogar veröffentlichen. Fair enough. Man würde, wenn es nicht Tokio Hotel wären, vielleicht denken: Warum zur Hölle heißt das erste Lied auf diesem Album „Durch den Monsun 2022“, mussten die schon mal durch einen Monsun? Und warum ist dieses Stück das einzig Deutschsprachige auf diesem Album, und alles Andere ist auf Englisch? Aber auch hier gilt wieder: Das fragt man sich alles auch bei Tokio Hotel. Ansonsten, wenn man mal nichts fragt, hört man auf „2001“ Pop aus der Petrischale, Synthie-Bombast aus den Nullern halt; so klingt David Guetta, wenn er selber sänge. Nicht einmal der wunderbare Daði Freyr, mit denen Tokio Hotel ein Lied aufgenommen haben, bringt Seele, Humor oder einen Funken Ironie in diese traurige Platte.


Es blubbert und chort

Das schöne Debüt-Album von Marley Wildthing

Die aus Niederösterreich stammende und in Prag lebende Sängerin „Marley Wildthing“ veröffentlicht heute ihr Debüt-Album, aus Bildschirmfoto 2022-11-19 um 17.21.23dem uns hier im Popticker schon die Single „Flow Wild“ beschäftigt hat - nachzulesen < hier >. Die Musikerin selbst nennt ihren Popentwurf „organic Indiepop“, und das trifft es auch irgendwie - aus akustischen und elektrischen Instrumenten, aus sehr warmer, naher Stimmaufnahme schichtet sich ein Folkpop, der immer wieder Eingängigkeit an den Tag legt, die man der Musik Momente zuvor noch nicht zugetraut hätte. Hinzu kommen percussive Elemente, die manchmal an das Schlagzeugspiel vom Thom Green von alt-j erinnern, von denen auch der ein oder andere chorische Effekt inspiriert sein könnte - in dem für mich schönsten Song „Hard To Find“ zum Beispiel; da ziehen sich auf einmal auch wunderschöne Streicher ein, blubbert und chort es eben, während die „Hauptstimme“ unaufgeregt präsent nach vorne gemisch bleibt - großartig. Nicht alle Songs auf diesem Album „Glasshouse“ heißt es, sind so toll wie dieser, aber Obgleich es sich aus so vielen verschiedenen Richtungen speist, wirkt die Platte in der Tat organisch, indie und abwechslungsreich - ein famoses Debüt. 

Link: Marley Wildthings  < YouTube-Kanal >


Subschublade mit Bass als Bett

Der Songwriter Davidson, der für einen Band-Trend steht

In der Corona-Krise wurden sehr viel Instrumente verkauft, und wenn man sich derzeit so durch Tik Tok oder Instragram klickt, bekommt man den Eindruck, dass die Menschen auch geübt haben: Allerorten spielen sie Pink-Floyd- oder Dire-Straits-Gitarrensolos nach, Mandoline scheint im Kommen, Drum-Tutorials hier und dort, und auf Tik Tok ergänzen sich Menschen zu Funk-Bands im virtuellen Raum, sie remixen, überblenden und ergänzen sich, und ein sehr kompakt trockener Funk-Soul-Sound scheint total in. Ich bekomme zudem zunehmend den Eindruck, dass auch aller-offline-orten Bands aus dem Boden spriessen - diese präsentieren sich in online-Medien, in Clubs und Probenkellern, und auch beim Reeperbahnfestival in diesem Jahr schien mir der Trend angekommen, wo deutlich mehr Bands die Clubs fluteten als in den Jahren während und vor Corona.

Womit wir bei beim Sänger, Gitarristen und Songschreiber Davidson wären, der zwar den Namen eines Solo-Künstlers trägt, aber dennoch für den Sound einer, seiner Band steht - deutschsprachigen Songwriting-Funk könnte man das Schubladenfach nennen, wenn man es denn benennen will: Versierte Musiker:innen spielen Popsongs mit E-Piano und staubtrockener Snare, bettigem Bass und prima Texten aus un-songigen Zeilen: „Selbstironie will ich nicht mehr verstehen / Dürfte ich dich nicht mehr sehen / Es ist Utopie, dass du Nichts von dir erzählst / Nur deinen Namen, Josephine.“, hier formuliert jemand Unsicherheiten einer Generation, von denen ich als 50-Jähriger nicht viel weiß. Popmusik erzählt nun davon.

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Davidson hat soeben zwei live aber mit Studiobedingungen eingespielte EPs zu einem Vinyl-Album zusammen gefasst, und der sessionhafte Bandsound passt großartig zu den suchenden Lyrics und zeigt gleichzeitig eine Band, die sich schon gefunden hat - trocken schnuppert sie in zig Genres hinein, verbleibt nirgendwo länger und ist gerade dadurch ziemlich da. Gute Texte, toller Sound - einzig in den Kompositionen ist noch Luft nach oben: Die Melodien gehen oft den nächst gelegenen Weg und folgen den Pfaden der Lyrics, wie man sie spräche, Überraschungen bleiben da ein wenig selten, obgleich wie erwähnt Zeilen nicht klassischen Song-Paradigmen folgen. Ach naja, wenn alles perfekt wäre, wäre es ja aber vielleicht auch wieder öde. Diese „Utopie“ ist wirklich tolle Popmusik, hört doch mal rein - auf dem YouTube-Kanal  von Davidson findet man sehr schöne Videos zu dem Doppel-EP-Album:

https://www.youtube.com/channel/UCTgQNH6W20HotWBgoX-nEew


Pop-Dienst nach Vorschrift

Der Mainstream-Deutschpop ist einfach wirklich gähnend langweilig

Bertolt Brecht war es, der in seinem „Lied von der Unzulänglichkeit“ zwar dazu aufrief, zwei Pläne zu machen, gehen täten sie jedoch beide nicht. Nun wollen wir sicherlich nicht Brecht mit Johannes Oerding vergleichen, da zöge jenseits von Äpfel und Birnen der heutige Popsänger sicherlich den Kürzeren, aber dennoch musste ich an die beiden Pläne aus der „Dreigroschenoper“ denken, als ich mir nun den Titelsong von Johannes Oerdings neuem Album „Plan A“ anhörte, denn was Pläne anbelangt zeigt sich Oerding deutlich weniger skeptisch: „Vielleicht ′n andrer Plan, ey / Was, wenn wir keinen hab’n? / Denn die Idee von Plan B Ist, dass Plan A funktioniert.“ - so erklärt sich also quasi, warum die Platte nicht „Plan B“ heißt, und ergänzt wird noch: „Wenn man nur einen Versuch hat, ist Plan B halt gar nichts wert.“ Okay, so weit so gut, aber diese Theorie des Plan A wird in eben diesem Lied so breit durch dekliniert, dass die ganze Geschichte sich irgendwann in die Tautologie mäandert. Nach 3 Minuten und 23 Sekunden will man laut rufen: Ja Johannes, ich hab’s kapiert.

Bildschirmfoto 2022-11-14 um 20.26.07Aber Deutschpop-Songs sind oft tautologische Mantras. Schon der Opener „Kaleidoskop“ nutzt DEN lyrischen Topos des Deutschpop schlechthin: Irgendwann. (Max Giesinger macht das noch penetranter, gefühlt jedes zweite Lied handelt von einem Irgendwo oder eben einem Irgendwann.) Und bei Oerding klingt das dann so: „Doch irgendwann, irgendwann / Fängt es an, sich zu verändern / Sommer im Dezember / Ja, dann, irgendwann.“  (Das dann auch noch gesungen auf die Melodie von „You’re my heart, you’re my soul“) Mit dem Irgendwann lässt sich eben sehr gut operieren, weil es noch nahe des Jetzt, nahe der Realität ist, aber Veränderung verheisst, Ausbruch aus dem Jetzt, aus der Realität, zu einem Zeitpunkt, den man nicht benennen muss - eben irgendwann. „Ha“, denkt man, „Und Kaleidoskop steht dann bestimmt allegorisch für DIE Veränderung, es ist die visuelle Übersetzung des Irgendwanns“, und wir ahnen dies, sehen es kommen, bevor Oerding es uns dann trotzdem noch mal erklärt: „Aus kalt und weiß wird heiß und rot / Und nichts bleibt gleich, Kaleidoskop“. Das ist alles so unfassbar eindeutig, dass man sich fragt, warum Oerding für solche Binsenweisheiten nicht mal seinen Steputat aufschlägt und stattdessen „Plan“ auf „hab’n“ oder eben „rot“ auf „Kaleidoskop“ reimt. Möglicherweise sind diese Stilblüten ja sogar Absicht - wenn es auch noch eindeutig gereimt wäre, würde uns die gähnende Abwesenheit jeglicher Doppeldeutigkeit noch beflissentlicher einlullen. Diese Lieder geben sich noch nicht einmal Mühe, so zu tun, als hätten sie interessante sprachlichen Bilder, alles verliert sich in der ersten Bedeutung, im Plan A einer Formulierung, im Plan A einer Melodie, im Plan A eines Arrangements.

Lediglich das dreisprachige Duett mit Zeynep Avci, „the Voice“-Teinehmerin aus Oerdings Team im Jahr 2021, zeigt, dass es auch anders ginge: „Stärker“ ist eine kitschig-triefende Synthieballade über den Schmerz einer zerbrochenen Beziehung; mit einem Text, der Pathos und Zweideutigkeiten zulässt und sich eben nicht in diesen lakonischen Null-Probleme-Texten suhlt, wo man immer denkt: Irgendwann ist dieses Album vorbei, und ich werde mich an nichts erinnern.


Schimmernde Hoffnung

Schöne Songs auf dem ersten Album von Wilhelmine

Die Popsängerin Wilhelmine hat sich mit einigen Singles, EPs sowie einem Patreon-Account eine treue Fanbase aufgebaut und dieser und natürlich allen anderen interessierten Hörer:innen nun ein Album geschenkt - "Wind" heißt es. Ihr Autorinnenpop strotzt derart vor Empowerment und Diversität, vor woker Klarheit und wirklich tollen Texten, dass die Lieder in der Geballtheit eines Albums einen höchst ungewöhnlichen, wundervollen Kitsch ausstrahlen. Da ist es fast schon schade, dass ihr Signature-Song „Meine Liebe“ fehlt. (Aber das macht Bildschirmfoto 2022-11-10 um 14.24.39ja eigentlich auch nichts, denn den kann man ja trotzdem mal wieder hören.)

Die Stärke der Songtexte von Wilhelmine ist eine eher beiläufige Art, von sich und mithin vom Miteinander zu erzählen, eine relaxte Lakonie, durch die sie einerseits viel von sich aber dann eben auch viel von Anderen erzählt, und durch die so plötzliche, wunderbare Zeilen erklingen wie: „Die Wohnung hier wird auch mit neuen Möbeln nie nur meine.“ oder „Ich sollte jeden meiner Wege mit dem Herz gehen, hat mir mein Yogitee gesagt, dann versuch' ich das jetzt mal.“ - eine solche Art, Song zu texten, mag ich sehr - es echot Wut darin, aber die scheint überwunden, und diese Musik ist daher weise und auf schöne Weise versöhnlich.

Das einzige, das man dieser Platte vorwerfen kann, ist, dass die lyrische und melodische Schönheit und Schärfe der Lieder manchmal deren Arrangements übertüncht, und irgendwann merkt man dort dann eine gewissen Gleichförmigkeit: Akustische Gitarren und sanfte Beats, dann Chöre und Synthies mit viel Echo, die andere Soundräume aufstossen, Sequenzer, die Refrains beschleunigen - das wirkt auf Albumlänge als duschdekliniertes Rezept. Aber ach, es ist dennoch eine tolle Platte.

Als ich vor etwas einem halben Jahr mal meine Tochter von den Pfadfinderinnen abholte, und Zuschauer:innen vor dem "übel & gefährlich" warteten, und diese auf die Frage, wer denn heute dort spielte, in einer derart euphorischen Vorfreude antworteten: "WILHELMINE! WILHELMINE!", strömte Liebe zu dieser Musik aus den Wartenden, und tatsächlich hat auch mir die Musik von „Wilhelmine“ einmal durch eine Krise geholfen - mitten in der Corona-Zeit schimmerte mir Hoffnung in Liedern. Wenn man das über Musik sagen kann, dann kann man sich Arrangement-Gemäkel auch grad mal sparen.


Kochen mit Mondwasser

Taylor Swift und ihre Poprettung um Mitternacht

Taylor Swift hat mit den Alben „Reputation“ (2017) und „Lover“ (2019) den Postpop entworfen: Freie, radikale Hooks, die wie Trabanten auf Umlaufbahnen um eine zentrale Soundidee kreisen. Das klang dann wie hysterischer Minimalpop. Mit zwei Folk-Alben ("Folklore" und "Evermore", beide 2020) hat sich Swift dann auf Lyrics als den Kern von Songs zurück besonnen, und ihr neues Album nun, „Midnights“ fusioniert Postpop und Rückbesinnung in ein lupenrein blubberndes Synthiepop-Album.

Bildschirmfoto 2022-11-01 um 14.18.42Die der Veröffentlichung nur einige Stunden voraus geeilte Single „Anti-Hero“ setzt den Tonfall: „I have this thing where I get older, but just never wiser / Midnights become my afternoons / When my depression works the graveyard shift / All of the people I've ghosted stand there in the room“ singt Taylor zum Sequenzer, und die anti-heroische Hymne wird flankiert von Hashtags des Unperfekten: Fans des Liedes posten in den sozialen Medien Videos von ihren Schwächen und wählen als Soundtrack den Refrain „It's me / Hi / I’m the problem, it's me.“ Das hat in der ja doch recht perfekt durchgestylten Welt der Taylor Swift schon ein Understatement, welches Fallhöhe generiert: In den mitternächtlichen Stunden mit unseren Rotweingläsern sehen wir alle gleich aus, selbst der Überstar erträumt sich zur einsamen Geisterstunde,  Taylor Swift zu sein: Wir kochen alle nur mit Mondwasser.

Die eigentliche Botschaft von Taylor aber ist: Man kann auch Spotify-Kompatiblen Pop und trotzdem Alben machen - „Midnights“ ist keine Playlist. Hier wird also die Idee des Albums und des Pops gerettet - Postpostpop quasi, der dem Pop ohne Postpost irre nahe kommt. Schon toll.


Wer entern will, muss auch B sagen

Ohren auf beim Deutschpopkauf - Folge 23 (ca)

Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.55Nicht sehr beackert wird das Feld des Blödel-Metals. Komisch eigentlich: Baby-Metal, Mittelalter-Metal, Death-Metal - viele Metalle gibt es Poperiodensystem, aber metallen geblödelt wird relativ wenig. Deutschlands meiste Band Knorkator sind also allein auf weitem Subgenre-Flur. Die satirischen Hardrocker haben die NDW in den Rock geschweisst, und ihr neues Album „Sieg der Vernunft“ ist wider jeder Vernunft vorne in den deutschen Charts: Brettharte Riffs, herrlich bekloppte Texte und Deutschpop-Zitate für die Referenz-Jäger - ein gutes Rezept, und Spass macht es auch irgendwie - im Opener singen sie von einem Asteroiden, der auf die Erde zujagt, fast schon „Look Up“ als Metal-Song: „Schicken wir Atomraketen, um das Ding zu sprengen / Oder müssen wir uns alle in Bunkern zusammendrängen? / Was auch passiert, eine Sache ist klar: /Die Welt wird nie wieder so, wie sie vorher war.“

Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.12.20Konzepte aber sind für die Demarkationslinien der Alleinstellungsmerkmale im Deutschpop schon elementar; jedenfalls beweisen dies ein ums andere Mal die Shantydeutschrocker von Santiano, die nun erstmals Bilanz ziehen mit ihrer Compilation „Die Sehnsucht ist der Steuermann - das Beste aus 10 Jahren“, und besser hätten sie eine solche Zusammenstellung ja nicht betiteln können, denn in dem Singen von Semannsweisheiten als Allegorien auf das urbane Leben besteht das Konzept Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.36dieser Band, deren Steuermann also in diesem Sinne tatsächlich die Sehnsucht ist. Denn einem echten Seemannsmann muss immer der Wind um die Nase wehen, und wenn er hinfällt setzt er allemal ein anderes Segel, da er weiß: Wellen sind nur die Spitze des Eisbergs, wenn die Ruhe vor dem Sturm ebendiesem gewichen ist, und die Kälte kann nun mal auch mit der Ebbe kommen - stille Wasser tief, und wer entern will, muss auch B sagen.

Wer dabei schlechte Laune bekommt, der muss sich von Max Raabe fragen lassen, warum, denn dessen neues Album heißt „Wer hat hier schlechte Laune?“: „Brauchst du 'ne Umarmung, ein Kuss oder 'n Kicks?/ Oder dicke Socken für unterwegs? / Willst du Schokolade oder Teddybär? / Hast du 'ne Blockade? / Komm, setz dich mal her:“ Raabe, der irgendwann seine Komfort-Zone der 20er des letzten Jahrhunderts verlassen hat und dann mit Anette Humpe anfing, Popsongs zu schreiben, in deren DNA eben diese seine Komfort-Zone nur mehr ein fernes Zitat war, dieser Raabe also hat sich nun das Feld des Pop mit Allzweckwaffe Peter Plate wieder komfortabel einrichten lassen: Im breiten Orchesterklang der Echokammer des Deutschpop wirkt die Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.21Beiläufigkeit des Raabeschen Gesangs fast schon ein wenig verloren - man vermisst die Stacheln von kleinen grünen Kakteen. Peter Plate, den ich hier Allzweckwaffe nannte, ist Teil von Rosenstolz, Komponist und Texter für Michelle, Sarah Connor, Bibi und Tina und viele Andere, und ein Meister der Leichtigkeit, der aber immer auch ein wenig die Frechheit fehlt. Was für Sarah Connor funktioniert hat, der sie für ein queeres Publikum anschlussfähig machte, scheint Max Raabe eher auszubremsen.

Jadu befindet sich im Modus Operandi - so jedenfalls heißt ihr neues Album. Die Multi-Intrumentalistin hat sich einen vielschichtigen Pop entworfen, ein breit orchestralen Klangteppich aus Hiphop-, Singer-Songwriting- und Jazz-Elementen, auf dem sie Gesang, Chöre, Spoken-Words und Raps schichtet. Erstaunlicher Weise wirkt das Ganze aber zu keiner Zeit überladen, sondern in sich stimmig und homogen. Ihre merkwürdig düsteren Lyrics, die anmuten als seien sie ein Tagebuch in Songtexten, ziehen sogar noch eine weitere Ebene in dieses filigrane Pop-Konstrukt. („Ich bin im Modus Operandi / I know that It 's toxic / Doch Fuck, ich bin Junkie/ Luzifer erwischt mich Inflagranti/ Ab in den Fahrstuhl / Avanti Avanti. „ Ich muss zugeben, dass dies alles in allem überhaupt nicht meine Wiese ist, aber „Modus Operandi“ ist zweifelsohne in dem, was es sein möchte, ein Meisterwerk.