Pop mit Konzept

Big Sister

„Songs zum Sonntag“-Spezial: Der erste Song von Peter Gabriels neuem Album nach 21 Jahren Pause

Dass Peter Gabriel kein TikTok-affinen Song veröffentlicht, ist jetzt natürlich keine Überraschung - ein Künstler, der sich einst weigerte, seinen Song „Down To Earth“ für den Auftritt bei der Oskar-Verleihung auf drei Minuten zu kürzen, nimmt sich auch bei  PeterGabriel_Panopticom-jpeg-copy-734x734seiner ersten Single für das erste neue Album seit über 20 Jahren die Zeit, die er braucht; aber wenn man das dann hört, merkt man den eigenen Hörgewohnheiten dann schon an, dass ein Song, der ein Intro in drei Teilen hat, und bei dem der Gesang erst nach 50 Sekunden einsetzt, heute eine Ausnahmeerscheinung ist. „Panopticom“ heißt er, und er klingt ohne Zweifel nach Peter Gabriel - wollte man als Sound-Referenz eines seiner Vorgänger-Alben nennen, es wäre wohl sein letztes, „Up“ von 2002: Verschiedenste Song-Teile, die ineinander gleitend Flächen öffnen, trockene Beats in schroffe Sphären schieben, Synthklavier-Töne tropfen lassen und sich in Refrains nach oben öffnen, was der gute Peter so unvergleichlich singen kann; es ist sozusagen Gabriel-Handwerk, und es macht den Fan natürlich glücklich.

„Panopticom“ ist die Vision eines positiven Big Brothers, Big Sister nennt Gabriel es in einem < Video >, in dem er über seine neue Platte spricht; die Idee, dass Ungerechtigkeiten nie und nirgends mehr unsichtbar bleiben. Der Song steht somit in in direktem Zusammenhang mit der von Gabriel mit gegründeten Menschenrechtsorganisation „witness“ (Link < hier >), die Bürger:innen von Unrechtsstaaten Kameras zu Verfügung stellt, um jene Sichtbarkeit zu erreichen, die er nun also in den Song „Panopticom“ besingt. (*) Und diese poetische Naivität als Nebenzweig tatsächlichen Menschenrechtsaktivismus ist offenbar im Allgemeinen der Kosmos, in dem das kommende Album von Peter Gabriel „i/o“ verortet ist. Mithin ein zunächst etwas trocken anmutendes Thema für Musik, aber Peter Gabriel hat auch schon Emotionen aus ein Lamm, dass sich auf dem Broadway ausruht, oder einem Schmiedehammer heraus geholt. Dennoch: Ein Liebeslied wie „In your eyes“ oder ein Smash-Hit wie Sledgehammer werden wir wohl nicht mehr serviert bekommen; ach aber - wer weiß.

Mit jedem Vollmond wissen wir ab sofort mehr, denn mit jedem Vollmond erscheint ab sofort eine neue Single seines vierten 2-Buchstaben-Albums (nach „So, „Us“ und „Up“), und ich werde mich um Neutralität bemühen; und daran scheitern - bin dann zu sehr Fan und hatte Tränen in den Augen als am Freitag „Panopticom“ erschien.

*- Gabriel nennt noch zwei weitere Organisationen, um zu verdeutlichen, was er mit seiner Idee des Panopticoms meint, die beide Daten-Forensik betreiben: "bellingcat" und "forensic architecture" 


Alben & Songs des Jahres

Bildschirmfoto 2022-12-14 um 11.32.02... wie immer unfassbar subjektiv und ebenfalls wie immer habe ich bei den Songs nur solche reingenommen, die nicht auf einem der Alben des Jahres sind. Nicht wie jedes Jahr habe ich in diesem Jahr als jemand, der nicht streamt, deutlich weniger Neues gehört als sonst, wodurch mir bestimmt tolle Musik entgangen ist - wie gesagt: Unfassbar subjektiv halt.

ALBEN

01 Florian Paul & die Kapelle der letzten Hoffnung / auf Sand gebaut < Huldigung >

02 M / Révalité < Link-Tree >

03 Katie Melua & Simon Goff / Aerial Objects < Playlist Youtube >

04 Ariane Roy / Medium Plaisir < Website >

05 Sona Jobarteh / Badinyaa Kumoo < Website >

06 Laura Veirs / Found Light < Bandcamp >

07 Tocotronic / nie wieder Krieg < Narrativer >

08 Tears For Fears / The Tipping Point < Poptickers Lob >

09 Maggie Rogers / Surrender < Website >

10 Nits / Neon < nicht nur Dutch Mountains >

SONGS

01 Camille / Humaine(Herbert Grönemeyer-Cover) < official audio >

02 Ka2 & Gabrielle / i natt < official audio >

03 Lana Del Rey / Did you know that there is a tunnel under Ocean Boulevard < official audio >

04 Herbert Grönemeyer / Deine Hand < video >

05 Fishbach / Masque D’Or < video >

06 S10 / De Diepte < ESC >

07 Camilla Cabello / Bam Bam < echt jetzt? >

08 Les sœurs Boulay / Les lumières dans le ciel

09 Dominique Fils-Aimé / Go Get It < video >

10 Deichkind / in der Natur < video >


/// Songs zum Sonntag /// 111222 ///

Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.37.54/// „Asoziale Medien“ ist, wie man sich denken kann, ein kritischer Track über soziale Medien. „Chill Boomer“ , könnte man sagen, zumal, was der Sänger dieses Liedes, Sören Vogelsang, dann so sagt, ein wenig altbacken daher kommt, als würde die Sendung mit der Maus die Verführungen des Internets erklären - und zwar 2011: „Ich vergeude meine Zeit auf Facebook allein, ich hab’ 4000 Freunde, um einsam zu sein. Scroll durch Storys auf Insta, Doomscrolleffekt, die Leben der Anderen sind alle perfekt.“ - klingt ein wenig, als ob Rolf Zukowski mal nicht über die Weihnachtsbäckerei Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.14singen und hip sein möchte. Die Binsenweisheiten über soziale Medien eines Menschen, der eben diese nicht zu nutzen scheint, zeugen von einer derartig unerschütterlich Naivität, das der Song in seinem Acoustic-Folk-Rap irgendwann eine gewisse Eingängigkeit entwickelt. Ich fürchte nur: Von der Gefahr der sozialen Medien wird sich von diesem Lied niemand was erzählen lassen. /// Erstaunlich aber Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.35schon, wohin deutscher Rap heute alles klingen kann. Steffen Freund zieht seinen Song „Heimweh“ mit Trap-Beats und Autotune derart in die Breite, dass er mit dem Song problemlos auch im „ZDF“-Fernsehgarten auftreten könnte - wie soll man dieses Genre nun nennen? Schlager-Trap? Komische Zeiten im Deutschpop. /// Andere Wiese: Lana Del Rey hat tatsächlich schon wieder ein Album inpetto. Es wird ihr achtes sein und „Did you know, that there is a tunnel under the Ocean Boulevard?“ heißen. Und ebenso heißt auch ihr neuer Song, und ich muss ja sagen, ich höre mir das auch beim zehnten Album wieder an, obgleich an der Machart fast nichts ändert: Tiefe Klavier-Akkorde tupfen eine Melodie in den Himmel über LA, welche sepiatonal von Del Rey umschlungen wird, und aus der Ferne beschleichen Streicher ein Motel - wundervoll, wie hier immer noch ein Hollywood-Kitsch herauf beschworen wird, dessen Melancholie längst mit erzählt, dass er eine Chimäre ist. /// YoutubeLinks /// < asoziale Medien > /// < Heimweh > /// < did you know that there is a tunnel under the ocean boulevard > ///


Bedroom and Stadium

Die sehr schöne Debüt-EP von Saguru

Spricht man eigentlich noch von Bedroom-Pop? Ich weiß es nicht, und ich nutze ja nebenbei auch kein Spotify, wo am gestrigen ersten Dezember wie jedes Jahr zusammen gefasst wurde, was man alles so hört und Subsubgenres an die Oberfläche spülen, von denen man meist wirklich nur am ersten Dezember hört, und vermutlich splittet sich also der mutmassliche Bedroom-Pop in zig Unterstile. Für den Münchner Musiker Saguru bin ich geneigt, auch einen zu erfinden, jedenfalls könnte man hier eventuell von COVER_In Bloom (EP)Bedroom-Pop sprechen; wer damit aber spleenigen Aufnahme-Dilettantismus meint, der ist hier an der falschen Adresse, denn die Musik von Chris Rappel, wie Saguru mit „bürgerlichem“ Namen heißt, sucht den Breitwandpop, die weite Fläche und tiefe Räume - Sound-Elemente also, die man eher mit aufwendigem Studio-Equipment verbindet. Von diesem Widerspruch zwischen leiser, bescheidener, inniger Musik, die aber im Sound nach Bon-Iver und Coldplay schielt, lebt die heute erscheinende Debut-EP „In Bloom“.

Man kann an den vier Songs (und einem Interlude) recht gut ablesen, warum die EP, das kurze Album also, die Darreichungsform der Stunde ist. Es eignet sich zum Ausloten des eigenen Stils über mehrere Songs, muss aber noch nicht die Klarheit darüber vermitteln, was es alles sein und nicht sein will, die ein Album irgendwo braucht. Auf „In Bloom“ hören wir also einen Musiker auf der Suche nach einem Popentwurf: Was für Lieder eignen sich für diesen Stadion-Bedroom-Pop? Wie viel Hall kann ich auf meine E-Gitarre geben, damit sie nicht doch schon nach U2 klingt? Wieviel Synthies und E-Drums verträgt ein Lied, das auch Folk bleiben könnte? Und wie oft kann ich von Brust- in die Kopfstimme wechseln, ohne dass es zu viel wird?

Also ich weiß jetzt nicht, ob das wirklich Fragen sind, die sich Saguru stellt - könnt ich ihn mal fragen, seine Mail-Adresse habe ich - aber es sei hier einmal gesagt, was hoffentlich schon durchgeklungen ist: Das ist wirklich tolle Musik von einem interessanten Musiker und vor allem auch tollen Sänger. Hört Euch das mal an und sagt mir - zum Beispiel in den Kommentaren - gerne, ob ihr das auch so schön findet wie ich ... - Link: < saguruofficial.com > 


Wer entern will, muss auch B sagen

Ohren auf beim Deutschpopkauf - Folge 23 (ca)

Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.55Nicht sehr beackert wird das Feld des Blödel-Metals. Komisch eigentlich: Baby-Metal, Mittelalter-Metal, Death-Metal - viele Metalle gibt es Poperiodensystem, aber metallen geblödelt wird relativ wenig. Deutschlands meiste Band Knorkator sind also allein auf weitem Subgenre-Flur. Die satirischen Hardrocker haben die NDW in den Rock geschweisst, und ihr neues Album „Sieg der Vernunft“ ist wider jeder Vernunft vorne in den deutschen Charts: Brettharte Riffs, herrlich bekloppte Texte und Deutschpop-Zitate für die Referenz-Jäger - ein gutes Rezept, und Spass macht es auch irgendwie - im Opener singen sie von einem Asteroiden, der auf die Erde zujagt, fast schon „Look Up“ als Metal-Song: „Schicken wir Atomraketen, um das Ding zu sprengen / Oder müssen wir uns alle in Bunkern zusammendrängen? / Was auch passiert, eine Sache ist klar: /Die Welt wird nie wieder so, wie sie vorher war.“

Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.12.20Konzepte aber sind für die Demarkationslinien der Alleinstellungsmerkmale im Deutschpop schon elementar; jedenfalls beweisen dies ein ums andere Mal die Shantydeutschrocker von Santiano, die nun erstmals Bilanz ziehen mit ihrer Compilation „Die Sehnsucht ist der Steuermann - das Beste aus 10 Jahren“, und besser hätten sie eine solche Zusammenstellung ja nicht betiteln können, denn in dem Singen von Semannsweisheiten als Allegorien auf das urbane Leben besteht das Konzept Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.36dieser Band, deren Steuermann also in diesem Sinne tatsächlich die Sehnsucht ist. Denn einem echten Seemannsmann muss immer der Wind um die Nase wehen, und wenn er hinfällt setzt er allemal ein anderes Segel, da er weiß: Wellen sind nur die Spitze des Eisbergs, wenn die Ruhe vor dem Sturm ebendiesem gewichen ist, und die Kälte kann nun mal auch mit der Ebbe kommen - stille Wasser tief, und wer entern will, muss auch B sagen.

Wer dabei schlechte Laune bekommt, der muss sich von Max Raabe fragen lassen, warum, denn dessen neues Album heißt „Wer hat hier schlechte Laune?“: „Brauchst du 'ne Umarmung, ein Kuss oder 'n Kicks?/ Oder dicke Socken für unterwegs? / Willst du Schokolade oder Teddybär? / Hast du 'ne Blockade? / Komm, setz dich mal her:“ Raabe, der irgendwann seine Komfort-Zone der 20er des letzten Jahrhunderts verlassen hat und dann mit Anette Humpe anfing, Popsongs zu schreiben, in deren DNA eben diese seine Komfort-Zone nur mehr ein fernes Zitat war, dieser Raabe also hat sich nun das Feld des Pop mit Allzweckwaffe Peter Plate wieder komfortabel einrichten lassen: Im breiten Orchesterklang der Echokammer des Deutschpop wirkt die Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.21Beiläufigkeit des Raabeschen Gesangs fast schon ein wenig verloren - man vermisst die Stacheln von kleinen grünen Kakteen. Peter Plate, den ich hier Allzweckwaffe nannte, ist Teil von Rosenstolz, Komponist und Texter für Michelle, Sarah Connor, Bibi und Tina und viele Andere, und ein Meister der Leichtigkeit, der aber immer auch ein wenig die Frechheit fehlt. Was für Sarah Connor funktioniert hat, der sie für ein queeres Publikum anschlussfähig machte, scheint Max Raabe eher auszubremsen.

Jadu befindet sich im Modus Operandi - so jedenfalls heißt ihr neues Album. Die Multi-Intrumentalistin hat sich einen vielschichtigen Pop entworfen, ein breit orchestralen Klangteppich aus Hiphop-, Singer-Songwriting- und Jazz-Elementen, auf dem sie Gesang, Chöre, Spoken-Words und Raps schichtet. Erstaunlicher Weise wirkt das Ganze aber zu keiner Zeit überladen, sondern in sich stimmig und homogen. Ihre merkwürdig düsteren Lyrics, die anmuten als seien sie ein Tagebuch in Songtexten, ziehen sogar noch eine weitere Ebene in dieses filigrane Pop-Konstrukt. („Ich bin im Modus Operandi / I know that It 's toxic / Doch Fuck, ich bin Junkie/ Luzifer erwischt mich Inflagranti/ Ab in den Fahrstuhl / Avanti Avanti. „ Ich muss zugeben, dass dies alles in allem überhaupt nicht meine Wiese ist, aber „Modus Operandi“ ist zweifelsohne in dem, was es sein möchte, ein Meisterwerk.


PYROLYSE ist kein Ponyhof

Das Debut-Album von AYMZ

„Who the fuck is AYMZ?“, fragt AYMZ. Und diese Frage könnte man natürlich sogleich zurück geben: Who the fuck ist eine Musiker:in, die laut wie Punk nach eigener Identität fragt? Rational kann man immerhin antworten, dass AYMZ mal Amy Wald war, die mit Deutschpopsongs von sich hören liess, aber Deutschpopsongs eben, dieses Label greift nun nicht mehr, da nun AYMZ auf den Plan tritt: Zusammengestauchte Rockgitarren, Trap-Beats, düstere Synthieflächen und aggressive Selbstsuche prägen den Soundentwurf des Debutalbums „PYROLYSE“. Der Titel des Albums ist in dem Fall auch synonym für eine Transformation verwendet, denn beim chemischen Prozess der Pyrolyse werden durch hohe Temperaturen chemische Bindungen in deren Startmaterialien gespalten, wobei durch die Abwesenheit von Sauerstoff das Verbrennen verhindert wird.

Bildschirmfoto 2022-09-27 um 13.05.17Schon an diesen Versuchen, die Popmusik von AYMZ zu beschreiben, kann man ablesen, dass dieses stark autobiografisch geprägte Album kein harmonischer Spaziergang ist - „PYROLYSE“ ist kein Ponyhof. Hier muss man sich einlassen auf die Gefühls- und Musikwelten von AYMZ, und die sind mit Themen wie Selbstverletzung, Auflösung in gefühlte Abwesenheiten und Schmerzen totaler Leere kein Zuckerschlecken. Und wenn man dann wieder auf die Frage zurück kommt, wer zur Hölle AYMZ ist, muss frau schon nach nur einmaligem Hören von „PYROLYSE“ sagen, dass AYMZ selber vermutlich auch keine abschliessende Antwort auf diese Frage hat. Aber Popmusik ist seit je her mehr ein Medium für Fragen denn für Antworten, und so erschreckend düster die Punk-Attitüde dieses Indie-Rocks hin und wieder sein mag, so spürt man hinter allen Selbstzweifeln doch wieder Hoffnung: „Ich brauche einfach bisschen Zeit für meine Zweifel und für mich allein“, singt AYMZ zum Beispiel im letzten Song auf der Platte „Ich tanze allein“, und auf einmal wird es doch Pop; eine Popmusik, zu der ich zunächst unglaublich wenig Bezüge hatte, das ist so gar nicht meine Wiese, aber ich habe gigantischen Respekt vor dieser „PYROLYSE“. Mutet Euch das ruhig mal zu. 

LINK: < website AYMZ >


Das Hit-Rezept

Elton John hat eine neue Form der Musealisierung seines Songs-Katalogs erfunden

He did it again - Elton John, der alte Haudegen, hat die Prinzipien seines Konsens-Streichs „Cold Heart“ in ein Rezept übersetzt und nach diesem Rezept dann wieder einen Hit gekocht. Das Rezept lautet hierbei: Nimm einen alten Schmachtfetzen von Elton John, Holdmelass Dir ein Uptempo-Dancebeat drunter legen, engagiere einen weiblichen Popstar als Duettpartner, und nimm eine andere Zeile als Titel - fertig ist die Laube. Statt „sacrifice“ hat Elton nun „tiny dancer“ überschrieben, statt Dua Lipa hat er sich Britney Spears ans Mikrofon geholt, wieder aber ist aus einer Pianoballade ein Killer-Ohrwurm mit 120 Beats per minute geworden, der Dancefloor-Qualitäten hat, aber auch noch als Lounge-Pop zum Martini funktioniert - Titel des Ganzen: „Hold Me Closer“. Aber natürlich sind trotz aller Parallelen die Vorzeichen andere: Während Dua Lipa mit ihrer „Pop als Dienstleistung“-Attitüde im Elton-John-Fahrwasser fluffige Bescheidenheit unter den Überhit hob, ist die blosse Anwesenheit von Britney Spears sechs Jahre nach ihrer letzten Song-Veröffentlichung und ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung aus der Vormundschaft ihres Vaters schon eine erfreuliche Sensation. Da kann „Hold Me Closer“ noch so unaufgeregt in die Ohren dotzen - hier hören wir auch pophistorische Meta-Ebenen mit, ob wir wollen oder nicht, und fast ist es so, als hätte Dua Lipa ihren Platz im virtuellen Raum eines Duetts mit Elton John geräumt, um Britney ein entspanntes Comeback zu ermöglichen. Das wirft automatisch die Frage auf: Was kommt als nächstes? „Blue Eyes“ als Uptempo-Ohrwurm im Duett mit Madonna, um diese aus ihrem aufkommenden Wahnsinn zu befreien? „Nikita“ mit Nelly Furtado? Oder „Goodbye Yellow Brick Road“ mit 120 Beat per minute zusammen mit Cindy Lauper? An möglichen Originalsongs aus dem Katalog von Elton und möglichen Partnerinnen für die Überschreibung mangelt es sicher nicht - der Popticker bewirbt sich mit genannten Ideen um einen Platz im Beraterstab von Sir John und wünscht ein schönes Wochenende.

 


Zuckerreduziert

Die Liebäugeln mit Schlager ist als Kriterium auf der Suche nach Pop-Newcomer:innen angekommen

„Konstanze“, sagt Gordon Kämmerer zu seiner Schwester: „Lass uns doch mal n’ Schlagerhit machen, der dann viral geht.“ - ob er viral gehen wird, wissen wir nicht, aber was wir wissen, ist dass Konstanze Kämmerer sich von „Verhaltenstherapie“, wie sich ihr Bruder nennt, wenn er Popmusik macht, zu dem Schlagerhit hat überreden lassen: VerhaDer Song „Rote Rosen“ erscheint heute am 10. Juni, und sein Popentwurf siedelt irgendwo zwischen Catan, Andreas Dorau und Christian Steiffen - das sehr hübsche Promostichwort hierzu lautet: „New Wave Schlager“.

Ein zuverlässiges Trendbarometer ist nicht nur, wenn ein Untergrund-Phänomen in den Maistream wächst, sondern vor allem auch, wenn im Nachwuchs die Schnittstelle zwischen Indie-Whatever in den Mainstream gezielt gesucht und promoted wird. Und da nimmt es nicht Wunder, wenn auf einmal verschiedentliche Newcomer an den Schlagerrändern fischen, und es dort nicht immer trüb zu geht. „Geschwister“ jedenfalls, wie sich die Geschwister mit ihrem Lied „Rote Rosen“ nennen, unterwandern Euphorie und überbordende Emotionen mit einer gehörigen Portion Understatement. Ihr Schlager-Entwurf, wenn man ihn denn überhaupt so nennen will, findet zu allegorischen Zeilen: „Ist wie ein Strauch roter Rosen, Du stichst mich nieder.“ - nicht nur wechselt das angesungene Individuum von einer Sache zu einem Du, überhaupt spielen sich die Lyrics dieses versucht viralen Schlagerhits im Vagen ab (überhaupt ein Konzept im Pop von „Verhaltenstherapie“). Wenn der Song vorbei ist, bleibt ebenso vage, wohin Konstanze und Gordon damit wollen, und wie man es finden soll, aber in der Summe überwiegen bei mir die Sympathien für diese Fusion aus Nerdismus und Schlager.

FalkMit gänzlich anderer Gewichtung aber auch mit der letztlich irrigen Annahme, Schlager nachzubauen, geht der Sänger FALK seine Suche nach einem Popentwurf an. Er kommt allerdings auch mit einem Bein aus der NDW, wenn er Herbert Grönemeyers ersten Hit „Männer“ zitiert und im Songtitel die Frage stellt: „Wann ist der Mann ein Mann?“ - die Frage ist natürlich gestattet. Seine Idee, Schlager mit Rock zu unterwandern, ist zwar keineswegs neu und mit einem Vertreter wie Ben Zucker auch äusserst erfolgreich, dennoch merkt man der Musik von FALK an, dass er nicht von aussen konzeptioniert wurde, um an Gatekeeper wie Silbereisen vorbei zu kommen, aber dennoch reicht die mit Rock einher gehende Ironisierung von Gefühligkeit nicht aus, um Zeilen wie „Du bist die schönste Frau hier im Pub, lange Bein, Rock viel zu knapp“ eine Pop-Absolution zu erteilen. Wenn man also seine von Herbert übernommene Frage, Dagowann ein Mann ein Mann ist, stellt, so lautet bei dieser Single zumindest meine Antwort: 2022 sollte man als Mann sensibler dichten.

Ein im unterwanderten Schlager alter Hase ist Dagobert - man schaue sich nur noch mal seinen Auftritt im ZDF-Fernsehgarten mit seiner ersten Single überhaupt „zu jung“ an. Das war damals ultra-weird und nimmt sich heute völlig alltäglich aus - man merkt schon, wie aus Poprichtung nach der Schlagerwelt geschielt wird, während Helene Fischer und ihr Fahrwasser den dortigen Mainstream in Richtung Pop entgrenzt haben. Nun hat der schweizer Anzugträger auch schon wieder eine neue Langspielplatte im Rucksack, „Bonn Park“ wird sie heißen, und unabhängig Moritzdavon, dass so auch ein Kollege von mir heißt, und Dagobert sein Album in diesem Sinne auch „David Gieselmann“ hätte nennen können, ist die erste Single „Ich will ne Frau, die mich will“ so etwas wie eine Rückkehr zum Sound von „zu jung“, nachdem die letzte Platte recht darker Synthwave war. Gut, aber im Falle von Dagobert bin ich nicht neutral da Fan.

Der junge Osnabrücker Moritz Ley verortet sich und seinen Popentwurf, dem man freilich schon kaum mehr Schlager unterstellen möchte, dennoch im selben Spannungsfeld des Dabobert, irgendwo zwischen gefühligem Deutsch- und wavigem Synthiepop. Der Song „Bei mir“, letzte Woche erschienen, zeigt dann doch, wie filigran die Trennungslinien zwischen Popmusik und der einst hermetischen Volksmusik, um einmal dieses nicht ganz stimmige Synonym zu bemühen, inzwischen sind: Da muss man ganz schön hinterher musizieren, um die Sache noch in deutschen Soul oder so zu biegen. Dennoch ein ganz interessanter Newcomer - erwähnte Single „Bei mir“ ist die Dritte des Osnabrückers, und der Popticker bleibt dran, wenn Weiteres erscheint ...

/// Links zu den Musikvideos /// Geschwister "Rote Rosen" /// FALK "wann ist ein Mann ein Mann?"  /// Dagobert "ich will ne Frau, die mich will" /// Moritz Ley "bei mir" ///


Style These

Endet mit dem neuen Harry-Styles-Album die Popgeschichte?

Gleich in der Lobby von Harry Styles neuem Album „Harry’s House“, können wir Sushi essen, denn der Opener heißt „Music For a Sushi Restaurant“. Er beginnt mit einer kreiselnden Synthie-Melodie mit schnipsend handclappendem Beat, worüber sich dann ein geschichteter „Ooooouh“-Chor crescendiert, der dann a-capella in ein „Bah Bah Bah“ mündet; dann setzt der Beat wieder ein, und wenn Styles schliesslich die erste Strophe singt und sich in der Folge das „Bah Bah Bah“ mit Bläsern aufgepumpt als Refrain entpuppt, ist das Album gerade mal 75 Sekunden lang gelaufen, und wir befinden uns mitten in einem Mix aus Justin Timberlake, Terence Trent D’Arby, Bruno Mars und Stevie Wonder und somit in den 70ern, 80ern, 90ern gleichzeitig. Und so geht das weiter: Bevor als vierter Song die schon bekannte „dancing with tears in my eyes“-Remiszenz „as it was“ erklingt, blubbert „Late Night Talking“ in den RnB der Nuller, während „Grapejuice“ mit seiner Indierock-Koketterie ein High-Five an Robbie Williams schickt.

Harrys-house

Sämtliche Popmusik ist heute ja heutzutage ohnehin nur einen Klick entfernt, und somit ist nur konsequent, dass in Harry’s Haus aller Pop drin ist. Und in dessen Zimmern verdichtet sich Alles zu 13 Liedern, die samt und sonders Hit-Potential haben. Viele Stile und alle wesentlichen Pop-Jahrzehnte fasst dieser Sänger also in einen eigenen Popsound, findet von Synthie zu Folk, von Soul zu Jazz und zurück zu Fun- und Funkpop. Niemals aber hört sich diese Musik bemüht oder ungewollt retro an, dazu sind die Melodien zu eigen, das Songwriting zu aktuell, die Produktion zu souverän. 

Die Art und Weise, wie hier alles mit allem in einen verqueren und queeren Popentwurf mündet, wie sich Widersprüchlichkeiten mit guter Laune und stetig catchy Hooks vertreiben lassen, lässt ebenso ratlos wie begeistert zurück. Begeistert, weil es für sich funktioniert, ratlos, weil mit diesem Album in gewissen Sinne auch die Popgeschichte zu einem Ende findet - „Harry’s House“ ist Synthese von sehr viel Pop. In jedem Falle hat man das Gefühl, jetzt muss wieder irgendwas wie Punk und Grunge um die Ecke kommen, irgendein Genre, das alle Erinnerung platt walzt und sich für nichts ausser sich selbst interessiert und nicht alles zu einem stylischen Brei verrührt. Styles singt ja selber: „You know it’s not the same as it was.“


Kollektive Gefühls-Felder

"Man votet nicht politisch.", sagt der ehemalige Popbeautragte der Bundesregierung, Dietmar Poppeling über den ESC 2022 - unser alljährlicher Eurovision-Talk diesmal mit hübschen Fotos von tollen Verpackungsmaschinen 67611ea3.600x400

POPTICKER Herr Poppeling, wie hat Ihnen der ESC vorgestern gefallen?

POPPELING Gut.

Prima. Dann bis nächstes Jahr.

Musikalisch gut. Vom Visuellen her, nun ja, ein gewisser Overkill, und die Show mitsamt den Moderator:innen so mittel.

Der Mythos, der ESC sei unpolitisch ist, so die allgemeine Einschätzung, ziemlich ins Wanken geraten.

Das ist auch sicherlich nicht völlig verkehrt, aber man muss trotzdem differenzieren, denn die Menschen voten nicht politisch - sie voten in allererster Linie emotional. Dass aus der Entscheidung dann als eine politische Botschaft gelesen wird, wie jetzt mit dem Sieg der Ukraine, ist natürlich dennoch nicht totaler Blödsinn. Der ukrainische Beitrag aber hat es vermocht, die emotionale Konstellation der Solidarität mit einem angegriffenen, im Krieg befindlichen Land aufzunehmen und zu bündeln. Das kann Musik eben. Insofern ist der Sieg des „Kalush Orchestra“ durchaus mit musikalischen Mittel erreicht worden. Das darf man auf keinen Fall klein reden.

Wie gefällt Ihnen der Song „Stefania“ denn persönlich?

Ich kann damit ehrlicher Weise nicht so viel anfangen. Die Hook, die der Chor singt, ist enorm catchy, und  vermag wie gesagt in wenigen Zeilen und Tönen die Geschundenheit aber auch den Stolz des ganzen Landes einzufangen, der Rap ist toll, die Flöte erinnert man auch sofort, und allein dass ein Beitrag ohne eine einzige englische Zeile den ESC gewinnt, finde ich erst einmal prima. Aber persönlich, nein, gefällt mir der Song nicht. Aber ich sehe sofort ein, dass Millionen von Zuschauerinnen das anders sehen.

Mit ihrer These der emotionalen Entscheidung von eben diesen Millionen, die den Sing gewählt haben, lässt sich auch erklären, warum die Jurys der Ukraine deutlich weniger Punkte gegeben haben. Weil die Jurys eben NICHT emotional wählen?

89-1000-1Diese These, werter Herr Gieselmann, ist natürlich Unfug.

Und warum, Herr Poppeling?

Die Jurys voten nicht unemotional - sondern in anderer emotionaler Konstellation; und kommen daher zu anderen Entscheidungen. Allein schon, weil sie nicht die Show sehen - sondern ihre Entscheidung nach einer Probe fällen, wirft sie eher auf sich zurück, als auf bestimmte kollektive Gefühls-Felder -

Oho!

- Gefühls-Felder von Mehrheiten. Der Effekt, das sich ein Raum auf etwas einigt, allein WEIL man in einem Raum ist, und wenn ebendies sich aus der ESC-Halle  mitsendet und dann viele für die Ukraine anrufen, davon ist die Jury, davon sind die Jurys nicht beeinflusst. Aber sie gehen vielleicht schlecht gelaunt in den Tag, und dann erreicht sie ein fröhlicher Titel mehr als eine Liebes-Ballade. Daher sind die Jury-Votes mitnichten professioneller als die der Publika - im Gegenteil, sie sind um Weiten privater.

Nicht zum ersten Mal wurde Kritik laut, nachdem aus jedem Land egal ob von Jury oder TV-Publikum Punkte nur an zehn Länder gehen. Platz 11 bis Platz 25 aus jedem Land bekommen die gleiche Punktzahl - nämlich Null. Auch Peter Urban hat in dieses Horn gestossen; nicht zuletzt, weil Deutschland wieder mal Letzter wurde: „Du kannst 40 Mal im guten Mittelfeld landen und hast immer noch keine Punkte. Insofern ist dieses System ungerecht, das prangern wir schon länger an.“

Holz-verpackung-posch-packfix-967x725Urban sagt auch (Link < HIER >), dass jeder Beitrag Punkte bekommen sollte, und ja, ich finde schon, dass das dann gerechter würde, da hat er Recht. Aber man müsste sich dann eben davon verabschieden, dass die Höchstpunktzahl 12 ist. Mit dem „Our twelve points go to … SWEDEN“ wäre es dann vorbei. Und diese 12-Punkte-Tradition abzuschaffen, das wäre ein Tabubruch. Ich fände das auch grauenhaft, aber es wäre vermutlich eine Punktereform, die den Wettbewerb gerechter und als besser machen würde, und spätestens im dritten Jahr davon, dass jeder Beitrag sagen wir 2 bis 50 Punkte bekäme, hätte man die 12 Points vergessen.

Dann hätte Deutschland auch ein paar Punkte mehr.

Gewiss, aber darum sollte es nun nicht gehen - wenngleich auch ich finde, dass unser Beitrag in diesem Jahr besser war als sein Ruf; aber was willste machen.

Welcher Beitrag hat Ihnen denn am Besten gefallen?

Ganz klar „De Diepte“ aus Holland, eine klassische, unheimlich tolle ESC-Ballade, die sehr clever gebaut ist - ein Harmoniedurchgang für je Strophe, Bridge oder Refrain dauert genau 10 Sekunden, und diese 10-Sekunden-Module sind dramaturgisch toll arrangiert - mit seichter Steigerung zunächst und abklingendem Bombast und großer Bremse hinten raus. So muss man das machen. Toll. Und ich bin da ganz ehrlich: Ich mochte die gelben Wölfe aus Norwegen, die dem Wolf eine Banane geben wollen, bevor er die Großmutter frisst. Das war herrlicher Quatsch.

Aber Sie waren das nicht? In einer finnischen Zeitung wurde gemutmasst (< HIER > der Link), Sie steckten unter einer der gelben Wolfsmasken.

Doch doch, das war ich.

Wußte ich es doch. Und wen, so frage ich jedes Jahr wieder, sollte Deutschland im nächsten Jahr zum ESC schicken?

Wilhelmine.

______________________

Dietmar Poppeling ist Poppproduzent und -theoretiker. Er war Popbeauftragter der Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Er lebt in Nürnberg und ist eigentlich sonst nur < HIER > im Popticker zu finden. Und auf Facebook < HIER > - dort auch seine Disko- und Biografie.