Newcomer

Ohren auf beim Deutschopopkauf

Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.28.57/// „Hier auf meiner langen Reise bist Du der einzige Passagier“, singt Poul Jacobsen in seinem Song, der auch „Passagier“ heißt. Klassischer Deutschpop könnte man im ersten Moment attestieren, aber hier hört man vor allem aber Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.18Rock durch, einen sehr basslastigen Sound-Teppich zudem, wie Indiepop, manchmal klingt PeterLicht so, auch wenn die doppelten Böden hier durch den Rocksieb gefallen sind. Jacobsen schickt dieses Lied einer EP voraus, die den sehr schönen Namen „ein Weg, der so nicht in den Büchern steht“ tragen wird, und auch wenn hier melodisch und lyrisch das Rad nicht neu erfunden wird, ist das Poprock mit einer sehr gesunden Mischung aus Melancholie, Wut und Understatement, das sehr in unsere Zeit passt. /// SOPHIA passt auch in unsere Zeit, in der sich der Schlager beim Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.30.01Deutschpop bedient und der Schlager sich den Deutschpop aneignet - irgendwo auf der Mittelspur der beiden Fahrwasser hat sich ein Subgenre herausgebildet; was erst einmal ein normaler Effekt der Popkultur ist: Scheinbar gegenläufige Phänomene graben sich gegenseitig das Wasser ab, nähern sich einander an, um dann schliesslich im eigenen Substil aufzublühen. So gesehen ist SOPHIA eine Art Kapitänin des neuen deutschen Schlagerpops: Ihre Einsamkeitsgassenhauer blähen Schlagertopoi wie Himmel, Ewigkeit, Kairos, behaupteter Kontrollverlust und so weiter mit den Verheissungen des Bubblegumpops auf: „Ich würde für dich tausend Sterne bewegen, ja, jeden Planeten / Die Erde soll beben / Ich will nur, dass du weißt / Du bist niemals allein!“ - so heißt es in dem Titelsong "Niemals Allein" ihres soeben erschienenen Debütalbums. Unter diesem lyrischen Empowerment liegt ein Soundteppich irgendwo zwischen Mark Forster und Helene Fischer, jedes Lied ist Uptempo gehalten und je nach Euphoriezustand als Ballade oder Eurodance zu antizipieren. Saugut gemacht und überragend öde. /// Da nimmt sich RAUHM einen ganz anderen Raum, obgleich man auch zu der Musik sagen könnte, dass sie sich aus zwei Quellen speist, die sich gegenseitig befruchten: Mit Mitteln des Cloud-Rap zieht RAUHM einen Deutschpopsong über Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.36das Wachsein in die epische Breite, die teils eine Breite erreicht, dass der Sing durchfällt. Dennoch: Zeilen, wie die, mit denen der Song „zwei Züge“ beginnt, muss man auch erst einmal schreiben können: „Wir reden übers wach sein /Pupillen werden weit. Zwei Züge später die Gedanken breit dann / Reden wir übers wach sein. Ich meine echte Worte. Sich nicht zu verlieren und jeden Satz auch so meinen.“ - das ist schon mehr als die low fruits allgemeiner Textbaukästen. /// Die neue Platte von „AnnenMayKantereit“ heißt „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ - und so klingt sie auch: Drei junge Männer sitzen bei sich. Ich kann damit nicht so viel anfangen, aber es ist natürlich völlig okay und gut und wichtig, dass es diese Band gibt: „Erdbeerkuchen, den musst Du mal versuchen.“ - wer kann da schon widersprechen? ///

Links /// < website > von SOPHIA /// und von AnnenMayKantereit /// Video von Poul Jacobsen /// Video von RAUHM ///


Garage-Dancehall-Sturz

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Ohren auf Deutschpop werfen, Folge 24

/// Wenn man auf Garage-Band versucht, zu klingen wie eine Band, klingt man am Ende des Tages vielleicht wie die neue Single „In mir ist was kaputt gegangen“ von Finder - und also, ich meine das nicht negativ; jedenfalls nicht nur. Man könnte schon sagen, dass, dafür, dass was in ihm kaputt gegangen ist, der Sound dieses Liedes ein wenig glatt wirkt, es ein wenig wütender zugehen könnte, aber auf der anderen Seite strahlt etwas einsam Euphorisches aus dem Song, was wiederum ziemlich gut passt: „Ich brauche einen Kompass. / Ich brauche wen, der mir die Richtung zeigt / weil sich alles nur im Kreis dreht / und dann jeder einfach drüber steigt.“ - komischer Weise klingt dieses Lied auch ein wenig nach Heinz-Rudolf Kunze, und obgleich dieser sich kürzlich sprachlich missbräuchlicher über das Gendern aufregte, als das Gendern es jemals sein könnte, meine ich auch das nicht negativ: „In mir ist was kaputt gegangen“ sucht musikalisch und lyrisch Wege aus der Einsamkeit, die in der Summe berühren. Bildschirmfoto 2023-02-24 um 10.35.46/// Filigraner geht es bei Ketzberg zu, von dem hier schon vor Kurzem die Rede war, als „Wenn ich ich seh“ heraus kam. Diese und andere Singles hat der Songwriter nun zu der EP „immer“ gebündelt, die einerseits zeigt, dass der jazzige Popsoul Potential hat, aber vielleicht noch nicht austariert und variiert genug daher kommt, um für die Dauer eines Albums zu funktionieren. Andererseits: EPs boomen eben genau deswegen, weil Künstler:innen im Streamingzeitalter austarieren, wo für längere Strecken nachhaltige Popentwürfe stecken, und so wie und wo Ketzberg seinen trocken Bildschirmfoto 2023-02-24 um 10.11.12Sound sucht, irgendwo zwischen Justin Timberlake und Roger Cicero, denen er gesanglich in nichts nachsteht, wird er ihn auch finden. /// Nina Chuba  hat ihn schon gefunden: Ihr TikTok-Teenie-Dancehall rund um den Konsum-Fetisch-Hit „Wildberry Lillet“ hätte mir persönlich auch als EP gereicht, aber wer spricht schon von mir, wenn es um TikTok-Teenie-Dancehall geht? Weder bin ich Teen, noch nutze ich TikTok oder höre Dancehall. Dennoch erstaunlich, dass man TikTok-Teenie-Dancehall überhaupt auf ein Album ausbreitet, denn die Währungseinheiten hier sind Playlisten und Follower (von denen Nina Chuba auf TikTok eine halbe Millionen hat). Dieser Pop auf diesem Album „Glas“ macht jedenfalls Spass, und was sind das für irre Texte, die Pops Versprechen Freiheitsdrang par excellence zelebrieren: „Mexico-City, Mangos mit Chili / Palm-Trees sind groß und die Röcke sind mini / Es hat sich gelohnt, hab' keinen Job im Büro / Meine Sterne stehen gut zwischen Dreck und Graffiti / Ich nehm' alle mit, schreibe auf Inseln / Tour’ durch die Charts, wenn ich da grade hinwill / Und falls ich ma' für ein paar Tage verschwinde / Komm’ ich zurück mit einem strahlenden Grinsen.“ /// Man sollte „Amor & Psyche“, das Debüt-Album der Augsburger Elektro-Popper Bildschirmfoto 2023-02-24 um 10.11.42„Fliegende Haie“, auf keinen Fall unmittelbar nach Nina Chuba hören, denn was bei Chuba unverblümt und jugendlich daher kommt, ist bei den fliegenden Haien Attitüde. Nun ist Attitüde seit je her ein Baustein von Pop, aber wenn es angestrengt fresh ist, wirkt es eben kalkuliert. Wenn man es aber nicht mit der Wildberry-Lillet-Nonchalance von Chuba vergleicht, hat man größere Chancen, weitestgehend genre-befreite Elektro-Club-Musik mit Störgeräuschen und Originalitätsboni zu hören, und hinter dem trashigen NDW-Anleihen finden sich urplötzlich verstörendere Zeilen - wie in dem Song „Venus“, in dem es Sexualisierung und Sichtbarkeiten geht: „Je mehr sie von dir haben / desto weniger hast du dich.“ - in dieser Musik steckt vielleicht mehr Tiefe, als ich darin erhören kann, aber das liegt wohl eher an mir, als an der Musik. /// Vor ziemlich genau einem Jahr hat der Songwriter „Janner“ ein Album Bildschirmfoto 2023-02-24 um 10.35.28veröffentlicht, das „Vor dem Hörsturz“ hieß, und heute nun erscheint seine neue LP „Nach dem Hörsturz“; und den Hörsturz hatte der Musiker tatsächlich, und so kann man den neuen Songs mit bestem Grund eine Art Musiker-Wiedergeburt als Thematik attestieren: „Was wir geschafft haben, hat uns geschafft / es gibt keine Schuld / Atme durch.“, heißt es in „Atme durch“, ein anderes Lied heißt „Aufwachraum“ - vielleicht der stärkste Song auf dieser Platte: Flächige Synthies, auf denen sich eine Gitarre ausbreiten kann, während darunter Bass pulsiert und Beats tropfen. Irgendwo zwischen Singer- und Songwriting-Pop, der die Fühler in Rap und Soul ausstreckt, findet das Album keine rechte Mitte oder ist für sich genommen zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass man die Mitte erkennt. Dennoch macht es Spass, hier einem Musiker beim Sich-Wieder-Finden zuzuhören. ///

 

Links

Video-Premiere < Finder / in mir ist was kaputt gegangen >  am 24.02.23 um 17 Uhr ///

Website < Ketzberg > /// Video < Nina Chuba / Mangos mit Chilly > ///

Website < fliegende Haie > /// YouTube-Kanal von < Janner > 


Womit füll ich jetzt die Strophen?

- Ach Freitag, was heute so erscheint #01 -

/// Die Berliner Band, „Schatz im Sibersee“, im Kern ein Trio, oft, wie es auf ihrem Youtube-Kanal scheint, mit mehr Menschen auf der Bühne, sind an ihrer eigenen Vision eines Klimaschlagers mit Pauken und Trompeten und schönen Streichersätzen herrlich gescheitert; denn ihr heute erscheinender Song „Die Arktis brennt“ mag vieles sein - Schlager ist er nicht: „Ich hab ganz kurz überlegt: Womit füll ich jetzt die Strophen doch dann schaute ich mich um: überall nur Katastrophen! / Hitze, Dürre, Hurricane – Seychellen gehen Baden / Ich frag mich manchmal: Juckt das wen? Wann folgen Worten Taten?“ Zunächst ist das Gesamtpaket dieser sympathischen Band so gar nicht berlinerisch, diese Musik kommt eher vom Land, von Biohöfen in der Uckermark, durchspült von kollektiven Gedanken und netten Leuten. Wenn ich also Scheitern sage, dann meine ich das, vermutlich klang das durch, Kraft meiner Ohren, durchweg positiv. Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Zuhause dieser Musik das Konzert ist - und nicht so sehr die aufgenommene Musik: Wenn man sich den Folk der neuen Single und der anderen Lieder dieser Band anschaut, dann bekommt man sofort Lust, diese Band live zu sehen. Aber gut - wenn das das Ergebnis einer Single ist, ist die Single ganz sicher nicht gescheitert. ///Bildschirmfoto 2023-02-10 um 10.58.57/// Vom Popentwurf her ist Sören Vogelsang sicher nicht so weit weg von „Schatz im Silbersee“ - auch seine Musik ist handgemacht und kaum als Pop produziert. Seine Texte sind jedoch eine Spur melancholischer, zumindest bei seiner neuen, ebenfalls heute erscheinenden Single „Große Freiheit“ ist das so: „Ist díe Straße ausgelatscht, und du wanderst ganz allein, kein Ausweg und kein Trampelpfad schlägst du dich mühsam querfeldein (…), auf dem Weg Richtung Meer.“ - wir befinden uns also höchstens zu Beginn des Liedes in der Uckermark und hören von einem Menschen, dessen Utopie der Weg zum Meer ist. Wobei etwas unscharf bleibt, wer sich hier warum nach dem Meer sehnt, aber das macht ja nichts. Das ist, ich bin da ehrlich, nicht so sehr meine Musik, aber in einem gewissen unerschütterlichen Glauben an die Musik und an den Song ist diese Musik mutig und bewundernswert. ///

Die Videos beider Lieder feiern heute 10.02.2023 um 19 Uhr ihre Premiere

"Schnaps im Silberseee" < HIER > und das von Sören Vogelsang < HIER >


Schüchtern tropfen

Eine Entdeckung: Sophie Hallberg

„Rhythm beats don’t touch my soul“, singt Sophie Hallberg, und genau in dem Moment setzt das Schlagzeug ein. Es ist dies nicht die einzige allegorische Rückkopplung zwischen Text und Musik in diesem famosen Song, der „I had it all“ heißt - an anderer Stelle heißt Bildschirmfoto 2023-02-03 um 09.20.44es „Piano chords, they don`t seem much to me at all / Since you’re gone.“ In erster Ordnung scheint hier eine Trennungsgeschichte erzählt zu werden, den die Verlassene singt, aber spätestens mit der zweiten Strophe muss man fest stellen, dass man vielleicht übereilt interpretiert hat und das singende Ich wohl vielmehr ein Fenster der Befreiung aufgestossen hat: „Tasting freedom is like getting high“, heißt es dann nämlich.

Musikalisch ist das Ganze ähnlich vielschichtig. Man könnte sagen, dass hier ein klassischer Popsong mit den Mitteln von Folk und Soul erspielt und jazzig gesungen wird: E-Piano-Akkorde tropfen schüchtern, dann setzt, ich erwähnte es, der fluffige Beat ein, hier und dann umspielen Gitarre und ein Xylophon (oder?) die Melodie, und auf dem Refrain folgt eine vorsichtig in andere Gefilde verweisende Gitarren-Linie. Produziert ist „I had it all“ zurückhaltend und kompakt.

Sophie Hallberg war vor diesem ihrem Debüt als Solokünstlerin 50% des Indiepop-Duos „SweetLemon“, welches musikalisch einen ähnlichen Entwurf verfolgte, und es wäre auch erschreckend, wenn eine solche Pop-Perle wie dies „I had it all“ die erste Veröffentlichung einer Musikerin wäre. Ich bin jedenfalls jetzt schon Fan dieser Musikerin und freue mich auf eine noch für den ersten Teil des Jahres angekündigte EP.

Link: < Video >-Premiere am 03.02.23, 16 Uhr

 


Post-Atemlos

Wo steht Deutschpop? Eine Fragestellung anhand 5 heute erschienener Singles

Wenn man sich erinnert, wie sich die Neue Deutsche Welle in den 80ern selber zu Grabe trug, indem der Markt vollkommen Kometübersättigt wurde und man sich zudem dem Schlager anbiederte, kann man sich heute fragen, ob Deutschpop gerade an selbiger Schwelle steht - kurz davor im eigenen Hype zu ersticken; oder aber: Sich am erweiterten Schlagerentwurf im Post-Helene-Fischer-Atemlos-Zustand gesund zu stossen. Schaut man zum Beispiel auf die heutigen Charts, sieht man auf Platz 02 einen Song von Udo Lindenberg und Apache 207. Der Rocknroller und der Trap-Beat-Rapper finden für „Der Komet“ in der Schlager-Referenz einen gemeinsamen Nenner - auch wenn mich wahrscheinlich beide für diese Analyse erschiessen würden. Aber man kann das Ganze ja auch positiv sehen: Seit Helene Fischer Schlager zu Pop gemacht und Deutschpop sich in Silbereisen-Sphären entgrenzt hat, seit sogar Gangster-Rapper über psychische Gesundheiten sprechsingen, scheinen alle Genregrenzen Makulatur. LeyaUnd der leicht verschleppte Trap-Beat, der sogar Udo und Apache zusammen bringt, ist ein Kleister, der verschiedenste Einflüsse zusammen halten kann.

So auch die neue Single „neu verliebt“ der Newcomerin Leya Valentina (Videopremiere 20.01.23 um 19 Uhr < Hier >) - hier dient der dem Hip-Hop entlehnte Trap als flächiges Fundament für eine Ballade, auf der Valentina einerseits mit tremolofreier, breiter Stimme singt, als ginge es um Soul, während sie anderseits kurze Sprecheinwürfe dazwischen zieht („ist ja völlig klar“) - Aylivaheraus kommt ein Genrehybrid, der sowohl TikTok-affin als auch schlagerparadentauglich ist; und ich meine das durchaus positiv. Auf ähnliche Weise sucht Sängerin oder Rapperin AYLIVA die Schnittstelle zwischen Deutschpop in Schlagernähe und Trap-Rap von ums Eck - ihr Song „Sie weiß“ handelt von einer möglichen Trennung und streckt textlich auch die Hände in Richtung deutschsprachigem Soul. In Letzterem ist die Band „Ketzberg“ zuhause, deren Sänger Paul Köninger beim leider verstorbenen Roger Cicero in die Schule gegangen sein könnte - seine Intonation zumal auf der neuen Single Ketz„wenn ich sie seh“ - findet fast schon Jazz-Anleihen. Auch wenn das Songwriting vielleicht nicht ganz hinterher kommt, ist das ein Popentwurf, den ich sehr spannend finde. Deutlich rockiger geht es bei der Band „KICKER DIBS“ zu, deren Sound nun Dibstatsächlich nicht dem Schlager zuzuordnen ist - da bekomme ich nun selbst mit ganz viele Heribert-Faßbender-Vibes keine Überleitung hin; aber egal: Bei der Single "Son Gefühl" ist Sebastian Madsen zu Gast, und zusammen kommt dabei ein Song irgendwo zwischen Kraftclub und Mark Forster. Er handelt von einer gewissen Reizüberflutung in Zeitalter der sozialen Medien: „Ich hab da keine Meinung, ich bitte um Entschuldigung.“ - Videopremiere 20.01.23 um 18 Uhr < Hier >.

Was ich mit diesem Schnelldurchlauf durch diese samt und sonders heute erschienenen Lieder erzählen will, ist, dass der Deutschpop tatsächlich einerseits einheitlicher, gleicher wird und sich andererseits schon sehr breit aufstellt - an den Rändern passt so einiges noch rein. Und man weiß tatsächlich nicht, ob diese Verbreiterung der Ausweg aus einer Deutschpopkrise ist - oder wir erst an der Schwelle zu dieser stehen, weil der Markt implodieren könnte. Letzteres glaube ich eigentlich nicht, da, um einen Markt zum Implodieren zu bringen, erst einmal ein Markt da sein müsste, aber das ist ja fast nicht der Fall: Nie war es schwerer, als Musiker:in Geld zu verdienen, als heute - zumal wenn man neu hinzukommt. Das ist anders als bei der NDW, da konnte man mit paar Singles reich und berühmt werden.

 


Alben & Songs des Jahres

Bildschirmfoto 2022-12-14 um 11.32.02... wie immer unfassbar subjektiv und ebenfalls wie immer habe ich bei den Songs nur solche reingenommen, die nicht auf einem der Alben des Jahres sind. Nicht wie jedes Jahr habe ich in diesem Jahr als jemand, der nicht streamt, deutlich weniger Neues gehört als sonst, wodurch mir bestimmt tolle Musik entgangen ist - wie gesagt: Unfassbar subjektiv halt.

ALBEN

01 Florian Paul & die Kapelle der letzten Hoffnung / auf Sand gebaut < Huldigung >

02 M / Révalité < Link-Tree >

03 Katie Melua & Simon Goff / Aerial Objects < Playlist Youtube >

04 Ariane Roy / Medium Plaisir < Website >

05 Sona Jobarteh / Badinyaa Kumoo < Website >

06 Laura Veirs / Found Light < Bandcamp >

07 Tocotronic / nie wieder Krieg < Narrativer >

08 Tears For Fears / The Tipping Point < Poptickers Lob >

09 Maggie Rogers / Surrender < Website >

10 Nits / Neon < nicht nur Dutch Mountains >

SONGS

01 Camille / Humaine(Herbert Grönemeyer-Cover) < official audio >

02 Ka2 & Gabrielle / i natt < official audio >

03 Lana Del Rey / Did you know that there is a tunnel under Ocean Boulevard < official audio >

04 Herbert Grönemeyer / Deine Hand < video >

05 Fishbach / Masque D’Or < video >

06 S10 / De Diepte < ESC >

07 Camilla Cabello / Bam Bam < echt jetzt? >

08 Les sœurs Boulay / Les lumières dans le ciel

09 Dominique Fils-Aimé / Go Get It < video >

10 Deichkind / in der Natur < video >


Bedroom and Stadium

Die sehr schöne Debüt-EP von Saguru

Spricht man eigentlich noch von Bedroom-Pop? Ich weiß es nicht, und ich nutze ja nebenbei auch kein Spotify, wo am gestrigen ersten Dezember wie jedes Jahr zusammen gefasst wurde, was man alles so hört und Subsubgenres an die Oberfläche spülen, von denen man meist wirklich nur am ersten Dezember hört, und vermutlich splittet sich also der mutmassliche Bedroom-Pop in zig Unterstile. Für den Münchner Musiker Saguru bin ich geneigt, auch einen zu erfinden, jedenfalls könnte man hier eventuell von COVER_In Bloom (EP)Bedroom-Pop sprechen; wer damit aber spleenigen Aufnahme-Dilettantismus meint, der ist hier an der falschen Adresse, denn die Musik von Chris Rappel, wie Saguru mit „bürgerlichem“ Namen heißt, sucht den Breitwandpop, die weite Fläche und tiefe Räume - Sound-Elemente also, die man eher mit aufwendigem Studio-Equipment verbindet. Von diesem Widerspruch zwischen leiser, bescheidener, inniger Musik, die aber im Sound nach Bon-Iver und Coldplay schielt, lebt die heute erscheinende Debut-EP „In Bloom“.

Man kann an den vier Songs (und einem Interlude) recht gut ablesen, warum die EP, das kurze Album also, die Darreichungsform der Stunde ist. Es eignet sich zum Ausloten des eigenen Stils über mehrere Songs, muss aber noch nicht die Klarheit darüber vermitteln, was es alles sein und nicht sein will, die ein Album irgendwo braucht. Auf „In Bloom“ hören wir also einen Musiker auf der Suche nach einem Popentwurf: Was für Lieder eignen sich für diesen Stadion-Bedroom-Pop? Wie viel Hall kann ich auf meine E-Gitarre geben, damit sie nicht doch schon nach U2 klingt? Wieviel Synthies und E-Drums verträgt ein Lied, das auch Folk bleiben könnte? Und wie oft kann ich von Brust- in die Kopfstimme wechseln, ohne dass es zu viel wird?

Also ich weiß jetzt nicht, ob das wirklich Fragen sind, die sich Saguru stellt - könnt ich ihn mal fragen, seine Mail-Adresse habe ich - aber es sei hier einmal gesagt, was hoffentlich schon durchgeklungen ist: Das ist wirklich tolle Musik von einem interessanten Musiker und vor allem auch tollen Sänger. Hört Euch das mal an und sagt mir - zum Beispiel in den Kommentaren - gerne, ob ihr das auch so schön findet wie ich ... - Link: < saguruofficial.com > 


Reiche Range

Als nächstes gerne ein Album: Die Debut-EP von David Gramberg

GrambergVon David Gramberg war hier hier im Popticker schon zweimal die Rede - < hier > und < hier >. Seine letzten vier Singles bündelt er nun zu einer EP, die unter dem Titel eines fünften Songs, „Where Have You Gone“ erscheint. Gut, so generiert man eben Aufmerksamkeit heutzutage, vier Singles und dann eine EP bieten eben fünfmal Anlass, um gestreamt zu werden und oder in Playlisten Einzug halten. Das ist eine Veröffentlichungs-Dramaturgie, die für mich ein wenig bizarr anmutet - aber nun denn: OK Eigenboomer. Und Schwamm drüber, denn das ändert natürlich nichts daran, dass die Musik dieses Ausnahmepopsängers wunderbaren Soul sucht und findet - diese Art Pop subsumiert Stile unter seiner Fittiche, bei denen mitten in einem Gospel-Zitat auf einmal eine Ukulele reinschneit, fröhliche Chöre „Dabababadabda“ singen und wir zuhören, wie Gramberg problemlos durch die reiche Range seiner Stimme surft - diese Musik hat es verdient, ein Album zu füllen. Wer darauf nicht warten kann, dem sei diese EP wärmstens ans Herz gelegt.

Link: < www.davidgramberg.com >


Es blubbert und chort

Das schöne Debüt-Album von Marley Wildthing

Die aus Niederösterreich stammende und in Prag lebende Sängerin „Marley Wildthing“ veröffentlicht heute ihr Debüt-Album, aus Bildschirmfoto 2022-11-19 um 17.21.23dem uns hier im Popticker schon die Single „Flow Wild“ beschäftigt hat - nachzulesen < hier >. Die Musikerin selbst nennt ihren Popentwurf „organic Indiepop“, und das trifft es auch irgendwie - aus akustischen und elektrischen Instrumenten, aus sehr warmer, naher Stimmaufnahme schichtet sich ein Folkpop, der immer wieder Eingängigkeit an den Tag legt, die man der Musik Momente zuvor noch nicht zugetraut hätte. Hinzu kommen percussive Elemente, die manchmal an das Schlagzeugspiel vom Thom Green von alt-j erinnern, von denen auch der ein oder andere chorische Effekt inspiriert sein könnte - in dem für mich schönsten Song „Hard To Find“ zum Beispiel; da ziehen sich auf einmal auch wunderschöne Streicher ein, blubbert und chort es eben, während die „Hauptstimme“ unaufgeregt präsent nach vorne gemisch bleibt - großartig. Nicht alle Songs auf diesem Album „Glasshouse“ heißt es, sind so toll wie dieser, aber Obgleich es sich aus so vielen verschiedenen Richtungen speist, wirkt die Platte in der Tat organisch, indie und abwechslungsreich - ein famoses Debüt. 

Link: Marley Wildthings  < YouTube-Kanal >


Subschublade mit Bass als Bett

Der Songwriter Davidson, der für einen Band-Trend steht

In der Corona-Krise wurden sehr viel Instrumente verkauft, und wenn man sich derzeit so durch Tik Tok oder Instragram klickt, bekommt man den Eindruck, dass die Menschen auch geübt haben: Allerorten spielen sie Pink-Floyd- oder Dire-Straits-Gitarrensolos nach, Mandoline scheint im Kommen, Drum-Tutorials hier und dort, und auf Tik Tok ergänzen sich Menschen zu Funk-Bands im virtuellen Raum, sie remixen, überblenden und ergänzen sich, und ein sehr kompakt trockener Funk-Soul-Sound scheint total in. Ich bekomme zudem zunehmend den Eindruck, dass auch aller-offline-orten Bands aus dem Boden spriessen - diese präsentieren sich in online-Medien, in Clubs und Probenkellern, und auch beim Reeperbahnfestival in diesem Jahr schien mir der Trend angekommen, wo deutlich mehr Bands die Clubs fluteten als in den Jahren während und vor Corona.

Womit wir bei beim Sänger, Gitarristen und Songschreiber Davidson wären, der zwar den Namen eines Solo-Künstlers trägt, aber dennoch für den Sound einer, seiner Band steht - deutschsprachigen Songwriting-Funk könnte man das Schubladenfach nennen, wenn man es denn benennen will: Versierte Musiker:innen spielen Popsongs mit E-Piano und staubtrockener Snare, bettigem Bass und prima Texten aus un-songigen Zeilen: „Selbstironie will ich nicht mehr verstehen / Dürfte ich dich nicht mehr sehen / Es ist Utopie, dass du Nichts von dir erzählst / Nur deinen Namen, Josephine.“, hier formuliert jemand Unsicherheiten einer Generation, von denen ich als 50-Jähriger nicht viel weiß. Popmusik erzählt nun davon.

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Davidson hat soeben zwei live aber mit Studiobedingungen eingespielte EPs zu einem Vinyl-Album zusammen gefasst, und der sessionhafte Bandsound passt großartig zu den suchenden Lyrics und zeigt gleichzeitig eine Band, die sich schon gefunden hat - trocken schnuppert sie in zig Genres hinein, verbleibt nirgendwo länger und ist gerade dadurch ziemlich da. Gute Texte, toller Sound - einzig in den Kompositionen ist noch Luft nach oben: Die Melodien gehen oft den nächst gelegenen Weg und folgen den Pfaden der Lyrics, wie man sie spräche, Überraschungen bleiben da ein wenig selten, obgleich wie erwähnt Zeilen nicht klassischen Song-Paradigmen folgen. Ach naja, wenn alles perfekt wäre, wäre es ja aber vielleicht auch wieder öde. Diese „Utopie“ ist wirklich tolle Popmusik, hört doch mal rein - auf dem YouTube-Kanal  von Davidson findet man sehr schöne Videos zu dem Doppel-EP-Album:

https://www.youtube.com/channel/UCTgQNH6W20HotWBgoX-nEew