Pop, purer Pop

Songs zum Sonntag /// 280523

Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.33.39/// Die trotzige Popfarbe, die Carla Lina ersingen kann, macht auch ihre neue Single „Lift Me Up“ zu einem Song, bei dem man sich in zweiter Instanz fragt, ob er eigentlich aus dem Jazz oder dem RnB kommt; was aber ja auch wurscht ist. Carla Lina ist auf jeden Fall eine tolle Sängerin, „Lift Me Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.34.27Up“ ist kompositorisch vielleicht nicht der Originalität letzter Schluss, aber Pop erfindet selten das Rad neu, und das wird mit dem Songtitel, der auch schon mal da war, auch nicht suggeriert oder gar versprochen. Ich verspreche aber, dass ich Carla Lina im Auge behalte. Oder im Ohr, je nachdem. /// Das neue Album von Peter Fox muss ich nicht auch in den Himmel heben, aber glücklich macht mich, und das sei eben doch erwähnt, Bildschirmfoto 2023-05-28 um 11.34.04ein Song darauf: „Toscana Fanboys“ im Duett mit dem wunderbaren Adriano Celentano - das Ding ist so relaxed und reduziert, es klingt schon fast nach Gorillaz - für mich einer der besten Popsongs des bisherigen Jahres. /// Da kann man natürlich hintendrei auch noch den diesjährigen ESC-Beitrag aus Italien hören, „Due Vite“ von Marco Megini - ein italiano-Schmachtfetzen aus dem Lehrbuch von Eros Ramazotti. Das kann kaum blöd finden. /// Links /// "You Lift Me Up" (video) /// "Toscana Fanboys" (audio) /// "Due Vite" (video) ///


Von der Verheissung zur Presets

Drei Newcomer:innen und ihre heute, Freitag den 05.04.23, erscheinenden Singles

Bildschirmfoto 2023-05-04 um 12.59.48/// „Du hörst den Trapbeat viel zu laut / isst deinen Mettigel und kaust mit Mund auf. / Ich glaub ich raste aus / Du fragst mich “hast du PMS, / oder vielleicht zu selten Sex?” / Reiß dein Maul noch weiter auf / und es gibt Stress!“, singt Paula Carolina zu Beginn ihrer neuen Single „Bitte Bitte“, und wer ihren Popentwurf aufgrund dieser Zeilen irgendwo zwischen NDW und Deichkind einsortiert, hat schon irgendwie Recht damit, aber die und Art und Weise, wie hier jegliches Blatt vor dem Mund in Grund und Boden gesungen wird, die Selbstverständlichkeit wie hier die globale Mensplaining-Lobby zum Schweigen aufgefordert wird, das ist so leichtfüssig eigen, dass selbst NDW und Deichkind vermischt noch zu kurz greifen. Paula Carolina ist in ihrer popgewordenen Wut die größte Verheißung, seit es Ideal nicht mehr gibt. /// Ähnliche Hoffnung weckt Gloria Nussbaum - allerdings in einem ganz anderen Sub-Genre der Popmusik. Während ihre ersten beiden Singles „twenty“ und „highest“ die Fühler in elektronischen Soul ausstreckten, ist ihre heute erscheinende, dritte Single „Maze“ fast schon in der Indietronica oder in synthesiertem Folk zuhause. Zwar übertreibt Nussbaum hier an mancher Stelle das Gehauche, und hin und wieder möchte man ausrufen: NUN SING DAS DOCH MAL MAZE CoverAUS! UND RAUS! - aber dennoch überwiegt der Eindruck, dass hier eine großartige Songschreiberin und Sängerin nach einem Sound für ihre Ideen sucht, und dass das mal riesig werden könnte. /// Ein Pop-Suchender ist sicher auch Filo, der seine Musik selber als Optimism-Pop bezeichnet. Mit seiner großen Brille bringt dieser Filo aber nicht nur Optimism sondern auch Nerdism in seine Musik, womit man auf Umwegen auch wieder bei Indietronica wäre, ein Substil, für den vor zehn, zwölf Jahren der auch irgendwann mal eine gewisser Caribou konstatierend war. 1OTwTTRY
Vielleicht ist es abwegig, sich an diesen kanadischen Musiker zu fühlen, wenn man nun das neue Lied von Filo „places“ hört, aber man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass die melancholische Verspieltheit eines Caribou, für die es eben vor eben einem Jahrzehnt noch ein hohes Mass an Know-How brauchte, um sie in Sounds zu suchen und zu giessen, heute zu den verfügbaren Presets gehört, die man ohne viel Umstands am Apple erspielen kann. Wenn man von dem teils etwas ungelenkem Englisch absieht, ist der Newcomer Filo auf jeden Fall ein hörenswertes Beispiel, auf welchem Niveau man sich Pop-Mittel klauen kann, ohne verstohlen zu klingen, wenn man einen guten Song im Gepäck hat: und den hat Filo. /// Videos /// verlinkt um 10 Uhr ///


Das! Ist! Gut!

Fulminant: Jessie Ware

Bildschirmfoto 2023-04-28 um 12.42.13Der britische R&B ist nicht erst seit Dua Lipa ein globales Phänomen geworden, das mit trojanischen Popmitteln auch in die USA schwappt. Um so erstaunlicher, dass Jessie Ware mit ihrem nunmehr sechsten Album nicht der Versuchung erliegt, sich eben diesen Trojaner:innen hinzugeben. Sie zitiert diese allenfalls in ihrem deutlich altschulischerem Soul-Entwurf: „That! Feels! Good!“ ist damit hin- und mitreissender Disco-Soul mit funkigen Off-Beats, Wall-Of-Sound-Streichern und unwiderstehlichen Melodien. Jenseits aller Modernismen und dennoch ohne Retro-Hörigkeit wird hier ein R&B gepflegt, der jeden Tanzmuffel zum Mitwippen zwingt: Der Opener und Titelsong klingt nach 70ern, Nile Rodgers und Donna Summer, „free yourself“ lädt in die Space-Disco von Daft Punk, „Freak Me Now“ surft auf Boney M-schen wellen, und mit „These Lips“ endet dieses Album, als hätte Jessie Ware Sade gecovert. Diese stilistische Vielfalt wirkt aber beiläufig und derart aus einem Guss, dass dieser durch und durch britische „Pop & B“ angenehm bescheiden und ebenso virtuos daher kommt. Ein fulminantes Album mit 10 Songs, von denen keiner misslungen ist.


Brücken säen

Das Phänomen Miley Cyrus und ihr aktuelles Album

Bildschirmfoto 2023-04-24 um 14.22.34Eines Tages wird wahrscheinlich irgendeine Stimmtrainer:in oder eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin zu Miley sagen: „So geht es nicht weiter, Frau Cyrus. Wenn sie jeden noch so blubbernden Bubblepop so rau übersingen, werden irgendwann Ihre Stimmbänder abschmieren.“ Wer weiß, ob sie sich das jemals wird sagen können, aber in jedem Fall können wir uns beim aktuellen Miley Cyrus-Album „endless summer vacation“ darüber freuen, dass Miley die Lieder, die sie mit nerdigen Songwritingcampteilnehmer:innen geschrieben und mit top Produzent:innen eingespielt hat, in einer einer Hingabe singt, als wären ihr die Stimmbänder wirklich schnurzpiep. Nach Ausflügen in verschiedenste Sub- und Subsubgenres des Pop und nicht zuletzt anschliessend an verschiedene Rockpopcover im Rahmen ihres vorletzten Albums, haben die Lieder der endlosen Sommerferien in einer Art Contry-Blues-Rock ein Zuhause gefunden, indem die Bildschirmfoto 2023-04-24 um 14.26.12immer auf Anschlag singende Miley Cyrus ein ideales Bett für ihren Popentwurf gefunden hat. Ihre stets doppeldeutigen, nämlich auf sie und oder auf allegorische Schnittpunkte beziehenden Geschichten, Andeutungen und Metaphern ihrer Lyrics tun ihr Übriges, um sich in jedwede Art von Popmusik zu verbreiten. Das hat diese Platte zu dem  ersten großen Popkonsens dieses Jahres gemacht - das Album also, auf das sich von Teenager:innen bis hin zu über 60 jährigen Ex-Spex-Leser:innen alle einigen können.

Es gibt einen großartigen Live-Moment von Miley Cyrus, der verdeutlicht, warum sich vermutlich so viele auf sie einigen können, der zeigt, auf was sie sich alles einlässt und wohin sie überall Augen hat. Da kommt sie 2019 in Glastonbury auf die Bühne, sie setzt erst mit der ersten Zeile ihres Gesangs zu spät ein, kürzt ein zwei Silben, kommt auf die Spur, sagt dann noch kurz Mark Ronson an, um im nächsten Moment mitten in der ersten Strophe die „nice titties“ irgendeiner Zuschauerin zu loben - vor einem Publikum von geschätzten 50 000 Menschen: Hier ist ein Vollprofi am Werk, der nach Disney-Star-Dasein und innerer wie äusserer Befreiung durch Skandälchen nun die große Brückenbauerin im amerikanischen Popbusiness geworden ist. Mal ganz abgesehen davon, dass es kaum einen Menschen auf der Welt gibt, dem es in aller Öffentlichkeit gelingt, Brüste zu loben, ohne dass das irgend jemand peinlich finden wird, erntet Miley auf ihrem aktuellen Album flankiert von der Über-Single „Flowers“ nun eben von den Brücken, die sie gebaut und bepflanzt hat. Der Folkpop bis Poprock dieser Platte ist der Soundtrack ihrer Versöhnlichkeit, und seine Urheberin ist die einer der erstaunlichsten Entertainer:innen unserer Zeit.


Songs zum Sonntag /// 230423

Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.37/// „Lawine“ heißt der Song von Olliso, den der Berliner Musiker nun zusammen mit der Sängerin Chiara Innamorato veröffentlicht hat. Die Lawine des Liedes ist eine Gefühlslawine, die eben durch sprechen ausgelöst wird, sondern eben durch ein, durch dieses Lied: „Und deshalb sitze ich hier, zuhause an meinem Klavier, die Töne sprechen mit mir, Gedanken bei Dir.“ Das Lied handelt damit sozusagen auf zweiter Ebene von Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.48ebenso der Chance als auch vom Dilemma vieler Lieder des Deutschpop: Die Emotionalität wird sozusagen von erster Sekunde derart massiv behauptet, dass das Lied fast daran zerbricht, und wenn man dann nicht mehr hinterher kommt, enteilt der Song in den unendlichen Weiten des Kitsch. Wenn man aber hinterher kommt und mitgeht muss man gleichzeitig auch schmachten und könnte in Tränen ausbrechen. So ist „Lawine“ je nach Disposition des Hörers mal großartig, mal peinlich entrückt. /// Irgendwann habe ich auf diesem Blog mal den Begriff der Coverstabilität erfunden. Er meint, dass ein Song eine Form von Affinität mit sich bringen kann, von Anderen nachgespielt zu werden und Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.11eben auch in anderen Genres als dem des Originals zu funktionieren. Die Band „Jante“ hat sich nun des Hits „Lila Wolken“, im Original von Materia, Yasna uns Miss Platnum , angenommen und ihn als Folk- bis Country-Nummer eingespielt - samt Flanell-Hemd und Banjo. Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.30Die lila Wollen erweisen sich hier als eben coverstabil, das funktioniert wunderbar und wirkt souverän und melancholisch. Tolle Version eines tollen Songs einer tollen Band. /// Einen auf seine Weise recht merkwürdigen Popsong hat die Sängerin Anika Auweiler aufgenommen - merkwürdig weil der spacige Synthpop nicht zu der Interpretin passt: „Ich will mit Dir tanzen, Baby  heißt der Song und ist ein Selbst-Cover, das in vielerlei Hinsicht aus der Zeit zu gefallen zu sein scheint und genau deswegen in die Zeit passt, wenn man auch tanzen will. /// Kann man gleich hinterher  it will be alright“ von Carla Lina hören, das wirkt, als hätte jemand einen Jazz-Standard in einen britisch Tee-affinen Soul gehüllt. Carla Lina hat ein trotziges Timbre in der Stimme, mit dem man vielleicht gerne auch mal ein etwas tiefer gehenderen Song hören würde, aber „it will be alright“ ist schon alright. /// Video-Links /// < Lawine > /// < lila Wolken > /// < ich will mit tanzen, Baby > /// < i will be alright > ///


Ohren auf beim Deutschopopkauf

Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.28.57/// „Hier auf meiner langen Reise bist Du der einzige Passagier“, singt Poul Jacobsen in seinem Song, der auch „Passagier“ heißt. Klassischer Deutschpop könnte man im ersten Moment attestieren, aber hier hört man vor allem aber Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.18Rock durch, einen sehr basslastigen Sound-Teppich zudem, wie Indiepop, manchmal klingt PeterLicht so, auch wenn die doppelten Böden hier durch den Rocksieb gefallen sind. Jacobsen schickt dieses Lied einer EP voraus, die den sehr schönen Namen „ein Weg, der so nicht in den Büchern steht“ tragen wird, und auch wenn hier melodisch und lyrisch das Rad nicht neu erfunden wird, ist das Poprock mit einer sehr gesunden Mischung aus Melancholie, Wut und Understatement, das sehr in unsere Zeit passt. /// SOPHIA passt auch in unsere Zeit, in der sich der Schlager beim Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.30.01Deutschpop bedient und der Schlager sich den Deutschpop aneignet - irgendwo auf der Mittelspur der beiden Fahrwasser hat sich ein Subgenre herausgebildet; was erst einmal ein normaler Effekt der Popkultur ist: Scheinbar gegenläufige Phänomene graben sich gegenseitig das Wasser ab, nähern sich einander an, um dann schliesslich im eigenen Substil aufzublühen. So gesehen ist SOPHIA eine Art Kapitänin des neuen deutschen Schlagerpops: Ihre Einsamkeitsgassenhauer blähen Schlagertopoi wie Himmel, Ewigkeit, Kairos, behaupteter Kontrollverlust und so weiter mit den Verheissungen des Bubblegumpops auf: „Ich würde für dich tausend Sterne bewegen, ja, jeden Planeten / Die Erde soll beben / Ich will nur, dass du weißt / Du bist niemals allein!“ - so heißt es in dem Titelsong "Niemals Allein" ihres soeben erschienenen Debütalbums. Unter diesem lyrischen Empowerment liegt ein Soundteppich irgendwo zwischen Mark Forster und Helene Fischer, jedes Lied ist Uptempo gehalten und je nach Euphoriezustand als Ballade oder Eurodance zu antizipieren. Saugut gemacht und überragend öde. /// Da nimmt sich RAUHM einen ganz anderen Raum, obgleich man auch zu der Musik sagen könnte, dass sie sich aus zwei Quellen speist, die sich gegenseitig befruchten: Mit Mitteln des Cloud-Rap zieht RAUHM einen Deutschpopsong über Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.36das Wachsein in die epische Breite, die teils eine Breite erreicht, dass der Sing durchfällt. Dennoch: Zeilen, wie die, mit denen der Song „zwei Züge“ beginnt, muss man auch erst einmal schreiben können: „Wir reden übers wach sein /Pupillen werden weit. Zwei Züge später die Gedanken breit dann / Reden wir übers wach sein. Ich meine echte Worte. Sich nicht zu verlieren und jeden Satz auch so meinen.“ - das ist schon mehr als die low fruits allgemeiner Textbaukästen. /// Die neue Platte von „AnnenMayKantereit“ heißt „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ - und so klingt sie auch: Drei junge Männer sitzen bei sich. Ich kann damit nicht so viel anfangen, aber es ist natürlich völlig okay und gut und wichtig, dass es diese Band gibt: „Erdbeerkuchen, den musst Du mal versuchen.“ - wer kann da schon widersprechen? ///

Links /// < website > von SOPHIA /// und von AnnenMayKantereit /// Video von Poul Jacobsen /// Video von RAUHM ///


Brav kann schöner Widerspruch sein

Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.02.18/// „Hide & Seek“ ist die zweite Single der Münchner Sängerin Dimila - aber die erste unter diesem Künstlernamen, der zuvor Meela lautete. Das getragene Folk-Lied wird hier angegangen wie ein Jazz-Song und bekommt davon eine soulige Tiefe, derer die Stimme von Dimila auch gewachsen ist, zumal sie auch die Beiläufigkeit von Pop streifen kann, ohne ihren eigenen Song zu verraten. Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.05.26 Mögen Zeilen wie „Wrong direction, heading home / Physically in company / Being here alone / Even though it’s quite early / I drive into the unknown.“ auch nicht der lyrischen Weisheit letzter Schluss sein, so ist der Song dennoch eine Pop-Perle, und man darf bei der frisch getauften Dimila gespannt sein, was da noch so alles kommt. /// Andere Wiese, anderes Genres „Kicker Dibs“ machen astreinen Postpunk, der ja derzeit wieder angesagt ist, und sie veröffentlichen Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.02.41heute ihre neue Single "die Pointe". Hier geht’s nach vorne, auch wenn man Zeilen wie „Für ein kleines bisschen Liebe / Wär der Moment jetzt gerade nicht schlecht.“ in einem anderen musikalischen Genre verankern könnte, von Deutschpop bis Schlager wäre hier alles denkbar. Dadurch schimmert immer auch ein wenig Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.06.02Bravheit durch, aber vielleicht ist gerade dieser Gegensatz der Reiz. /// Naja, bisschen brav wirken auch „Schnaps im Silbersee“, aber eventuell liegt das am Namen, und der damti verknüpften Erwartung, dass man Schnaps-getränkten Partypop bekommt. Bekommt man irgendwie auch mit ihrer neuen Single „nichts mehr“ - aber er kommt lässig und im Reggae-Offbeat daher, und wer „Kunst ist voll mein Thema, ich geh ab zu Moritz Krämer:“ reimt, den finde ich sowieso erstmal gut. /// Leichter Tom-Beat, jazzige Gitarren-Licks, wenig Synthies - mehr braucht Peter Fox nicht für seine neue Single „weisse Fahnen“ - so reduziert hat er noch nie geklungen, sehr chillig, sehr trocken, sehr gut gemacht. /// Video-Links /// Dimila < hide & seek > ///Kicker Dibs < die Pointe > /// < Schnaps im Silbersee > /// Peter Fox < weisse Fahnen > ///


Fun-T-Shirt-Autor:innen

Angebliche Konzerte von Dieter Bohlen, das Ende von DSDS, sexistische Ausfälle - der Popticker rüttelt da mal paar Dinge gerade

Die anstehende Tournee von Dieter Bohlen hat einen sehr bescheidenen Namen: „Das größte Comeback aller Zeiten.“ - die große Suggestionsmaschine Pop, die zweifelsohne oft vom Behaupten der eigenen Angesagtheit lebt, überdreht hier in einen Superlativ, der, wenn er eine ironische Komponente hätte, sympathisch wäre, aber da Dieter Bohlen zu keinem doppelten Boden fähig ist, muss man hier schon von einem Mißbrauch der Marketingmittel von Pop sprechen. Denn Bohlen geht hier ja auf Tournee, er spielt Konzerte, und er behauptet seine Rückkehr als Musiker, was er de facto schon lange nicht mehr ist - er ist Star des Reality-TV. Sein letzter Hit liegt Jahrzehnte zurück, und was eine große Karriere ja tatsächlich ausmacht, den eigenen Sound einerseits zu bewahren und andererseits der Zeit gemäss zu variieren, das kann Bohlen nicht vorweisen: Sein musikalisches Gespür reichte gerade einmal 33794-dieter-bohlen-tour-2023-dresden-800x800für ein Jahrzehnt, als er mit Modern Talking Schlager in einer dem Englisch entlehnten Kunstsprache kreierte. Diesen Schlager wiederum lancierte er zwar mit einem der größten Coups der Popmarketinggeschichte, indem er dasselbe Lied stetig unbenannte und so aus einer mittelmässigen Idee um die 10 Hits heraus quetschte, eine Beständigkeit hat er in seinem Output jedoch nicht. Und alles, was er nach Modern Talking musikalisch erreichte speiste sich der Emotionsaufladung des Casting-Show-Prinzips: „We have a dream“ von den DSDS -all-stars oder „Take me tonight“ von Alexander Klaws oder „Irgendwann“ von Beatrice Egli waren Veröffentlichungen, die das Glücksversprechen von „Deutschland sucht den Superstar“ in musikalischen Produkten rückkoppelten.

Wirklich gespannt darf man sein, ob die Idee, Bohlen als Musiker zu vermarkten, überhaupt noch funktioniert - ob also genug Menschen Tickets für seine Konzerte kaufen. RTL hat ihm immerhin seine angestammte Plattform, DSDS, reumütig zurück gegeben - für die letzte Staffel der Superstarsuche (das Format wird dann eingestellt) hat man ihn noch mal in die Jury berufen, nachdem man ihn letztes Jahr gefeuert hatte. Und ganz in seinem Element hat er dort neben einigen seiner einstudierten Oneliner, die ihm Fun-T-Shirt-Autor:innen als Beleidigungen schreiben, eine Influencerin in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass man ihn auch direkt wieder rauswerfen könnte. Samir El Ouassil hat in ihrer gewohnt klugen Gedankenschärfe in dem Podcast mit Holger Klein letzte Woche beschrieben, dass das das Reality-TV-Format in den letzten Zeit eine Wandlung vollzogen hat: Wer rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend auskeilt, muss damit rechnen, aus diesen Shows zu fliegen - nachzuhören < HIER > . Das zwischenzeitliche Kaltstellen von Bohlen im letzten Jahr war bereits dieser Wandlung zuzuschreiben, aber ihn nun aus der laufenden Staffel zu nehmen, ist vermutlich schlicht unmöglich - dazu ist er in der Show einfach zu präsent.

Die Marketingmaschine läuft also, aber ob Menschen, die seine auswendig gelernten Punchlines lustig finden, auch ein Ticket kaufen, um „You’re my heart, you’re my soul“ ohne  Thomas Anders zu sehen und dabei ja auch hören zu müssen, ist zumindest der Frage würdig. Nach dem größten Comeback aller Zeiten jedenfalls ist Schluss mit lustig: DSDS wird dann wie gesagt Geschichte sein, und aus genannten Gründen dürften wir dann in Zukunft auch von Bohlen-Musik verschont bleiben.


Streichholz und Benzinkanister

40 Jahre 99 Ballons

Vor 40 Jahren erschienen „99 Luftballons“ am Pophimmel, die man, wie die meisten noch auswendig wissen werden, für Ufos aus dem All hielt, weshalb man ihnen eine Fliegerstaffel hinterher schickte. Der Rest ist Geschichte - einerseits die im Lied, nach der sich Männer, die sich für Captain Kirk hielten, einen Krieg abhielten, andererseits eine Geschichte des Liedes: Der Antikriegssong schoss an die Spitze der Charts in Deutschland, Schweiz, Japan, Mexiko, Kanada und Australien. (Zu den Kuriositäten des Liedes gehört es, dass die englischsprachige Version, „99 Red Balloons“, in England auf Platz 01 kam, während in den USA die deutsche Version reüssierte und schliesslich und bis auf Platz 2 kletterte.) Unabhängig davon bescherten die fast 100 Ballons Nena eine gigantische Karriere im deutschsprachigem Raum, die bis heute anhält. 

99-01
Single-Cover

Das Lied hat sich im kollektiven Kulturgedächtnis der Bundesrepublik verankert. Seine simple Friedensbotschaft ist gleichsam zeitlos und und zeugt doch von seiner Zeit, vom kalten Krieg, vom Nato-Doppelbeschluss und ganz allgemein von der Angst vor einem Atomkrieg. Aufgrund dieses naiven Pop-Pazifismus ist es eigentlich fragwürdig, „99 Luftballons“ als Prototyp der Neuen Deutschen Welle anzusehen, war diese doch vom Ursprung her der Postpunk der Bundesrepublik. Und auch wenn der später dem Funpop geopfterte Nihilismus dieser Bewegung explizit politisch war, steckt hinter der Geschichte der bombardierten Luftballons eher ein naives Erstaunen über den Zustand der Welt als ein Aufbegehren dagegen oder eine konkrete Protesthaltung. Die Songs der NDW hatten jedoch vor allem zu Anfang Wut und Zynismus, naiv waren sie nie - oder zumindest nicht politisch UND naiv. Im Zuge dessen steht „Ein bisschen Frieden“ den „99 Luftballons“ eigentlich näher als „Da Da Da“ oder „Hurra, die Schule brennt“.

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Screenshot aus dem Video

Musikalisch ist das Ganze natürlich, wir kennen den Song, ein tanzbarer Mix aus Rock und Synthiepop, der in den 80ern populär war, und der sich auch hin und wieder im NDW-Sound wiederfindet. Die Songstruktur ist allerdings ungewöhnlich für Pop: Die „99 Luftballons“ könnte man zwar als Hook durchgehen lassen, aber einen Refrain gibt es nicht - der Song besteht nur aus 5 Strophen mit dazwischen geschalteten Instrumentalstellen, von dem man eine wiederum als Keyboardsolo bezeichnen könnte. Erste und letzte Strophe sind getragen und langsamer als die drei in der Mitte, und diese Kreisbewegung ist ein schöner dramaturgischer Bau. Und vielleicht ist für den immensen Erfolg der „99 Luftballons“ auch die allererste Zeile mit verantwortlich: „Hast Du etwas Zeit für mich? Dann singe ich ein Lied für Dich.“ - eine schöne Idee, mit dieser Frage ein Lied zu beginnen.

Die postapokalyptische Zeile der letzten Strophe wiederum singt Nena schon seit Jahren nicht mehr so, wie sie ursprünglich gedichtet wurde: „Heute zieh’ ich meine Runden, seh’ die Welt noch nicht in Trümmern liegen.“ Die Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer in dem Lied ist natürlich, insbesondere wenn man es seit 40 Jahren singt, nachvollziehbar und völlig legitim, aber Nena begründete das eingeschleuste „noch nicht“ in einem Interview tiefgreifender: „Es liegt in unserer Hand. Ich glaube an uns Menschen und vertraue darauf, dass wir alle tief in unseren Herzen wissen: Wir gehören zusammen.“ (*) Das steht dann schon in einem gewissen Widerspruch zum Pessimismus des Liedes und zeugt zudem auch von einer gewissen Hybris, zumal es nicht das erste Mal ist, dass Nena ihr Handeln mit dem Glauben an die Menschheit begründet. In einem Instagram-Post zu ihrer Solidarisierung mit einer Demonstration gegen die Coronamaßnahmen stiess sie zum Beispiel in ein ähnliches Horn: „Wir haben nie gelernt, uns an der Andersartigkeit eines Jeden zu erfreuen. Das können wir in diesem Moment ändern und uns genau jetzt für die LIEBE entscheiden. Mögen wir zueinander finden und unser Miteinander als Menschenfamilie neu gestalten.“ (**) Auch der Titel ihres letzten Albums „Licht“ fusst laut Nena auf ihrem Willen, Licht und Liebe unter die Menschen zu bringen, wobei sie hier Licht und Liebe nahezu synonym verwendet - da schwingt dann also gar das Topos einer Erleuchtung mit. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie die Verantwortung für Ihr Handeln an eine diffus erleuchtete Sphäre der Menschenfamilie übereignet, was im Falle einer Umdichtung eines 40 Jahre alten Liedes noch kein Problem darstellen mag, in der Ablehnung von Hygienemaßnahmen aber einer andere Dimension hat. Viel fehlt dann nicht mehr zur These, von Nenascher Liebe und Licht Umwehte seien vor Ansteckungen geschützt.

Carlo
Carlo Karges (1951-2002)

Aber zurück zu „99 Luftballons“; so sehr der Song natürlich mit Nena verwoben ist: Komponiert hat ihn wiederum der damalige Keyboarder der Band Nena, Uwe Fahrenkrog-Petersen, und die Lyrics wurden von Carlo Karges geschrieben, der leider bereits 2002 verstorben ist. Karges war ein guter Songtexter und hat zudem eine längere Musikergeschichte in verschiedensten Bands - unter Anderem war er auch mal Gitarrist bei "Extrabreit" sowie bei der notorisch unerfolgreichen aber als einflussreich geltenden "Bleibtreu Revue" - er konnte aber nach Auflösung der Band „Nena“ nie wieder kommerziell an Erfolge wie den von „99 Luftballons“ oder „irgendwie irgendwo irgendwann“, das auch aus seiner Feder stammt, anknüpfen. Der Legende nach schrieb Carlo Karges den Text von "99 Luftballons" nach einem Rolling-Stones-Konzert, bei dem Mick Jagger in der Nähe der Berliner Mauer Ballons fliegen liess, und Karges machte sich darüber Gedanken, was passieren könnte, wenn die fliegenden Luftballons in Ost-Berlin falsch interpretiert würden. Zwar können wir heute nicht mehr verifizieren, ob diese Geschichte stimmt, aber warum sollte sie es nicht. Sicher ist indes: Ganz gleich wie und aus welchen Gründen Nena den Text an dem Lied ändert, Carlo Karges hat sich mit dem Songtext in die Pop- und Kulturgeschichte eingeschrieben.

(*) - dieses Zitat findet sich in sehr vielen Artikeln zu Nena, die erste Quelle, wo sie dies gesagt hat, ist nicht auszumachen

(**) - dieser Satz stammt aus einem Instagram-Post von Nena


Post-Atemlos

Wo steht Deutschpop? Eine Fragestellung anhand 5 heute erschienener Singles

Wenn man sich erinnert, wie sich die Neue Deutsche Welle in den 80ern selber zu Grabe trug, indem der Markt vollkommen Kometübersättigt wurde und man sich zudem dem Schlager anbiederte, kann man sich heute fragen, ob Deutschpop gerade an selbiger Schwelle steht - kurz davor im eigenen Hype zu ersticken; oder aber: Sich am erweiterten Schlagerentwurf im Post-Helene-Fischer-Atemlos-Zustand gesund zu stossen. Schaut man zum Beispiel auf die heutigen Charts, sieht man auf Platz 02 einen Song von Udo Lindenberg und Apache 207. Der Rocknroller und der Trap-Beat-Rapper finden für „Der Komet“ in der Schlager-Referenz einen gemeinsamen Nenner - auch wenn mich wahrscheinlich beide für diese Analyse erschiessen würden. Aber man kann das Ganze ja auch positiv sehen: Seit Helene Fischer Schlager zu Pop gemacht und Deutschpop sich in Silbereisen-Sphären entgrenzt hat, seit sogar Gangster-Rapper über psychische Gesundheiten sprechsingen, scheinen alle Genregrenzen Makulatur. LeyaUnd der leicht verschleppte Trap-Beat, der sogar Udo und Apache zusammen bringt, ist ein Kleister, der verschiedenste Einflüsse zusammen halten kann.

So auch die neue Single „neu verliebt“ der Newcomerin Leya Valentina (Videopremiere 20.01.23 um 19 Uhr < Hier >) - hier dient der dem Hip-Hop entlehnte Trap als flächiges Fundament für eine Ballade, auf der Valentina einerseits mit tremolofreier, breiter Stimme singt, als ginge es um Soul, während sie anderseits kurze Sprecheinwürfe dazwischen zieht („ist ja völlig klar“) - Aylivaheraus kommt ein Genrehybrid, der sowohl TikTok-affin als auch schlagerparadentauglich ist; und ich meine das durchaus positiv. Auf ähnliche Weise sucht Sängerin oder Rapperin AYLIVA die Schnittstelle zwischen Deutschpop in Schlagernähe und Trap-Rap von ums Eck - ihr Song „Sie weiß“ handelt von einer möglichen Trennung und streckt textlich auch die Hände in Richtung deutschsprachigem Soul. In Letzterem ist die Band „Ketzberg“ zuhause, deren Sänger Paul Köninger beim leider verstorbenen Roger Cicero in die Schule gegangen sein könnte - seine Intonation zumal auf der neuen Single Ketz„wenn ich sie seh“ - findet fast schon Jazz-Anleihen. Auch wenn das Songwriting vielleicht nicht ganz hinterher kommt, ist das ein Popentwurf, den ich sehr spannend finde. Deutlich rockiger geht es bei der Band „KICKER DIBS“ zu, deren Sound nun Dibstatsächlich nicht dem Schlager zuzuordnen ist - da bekomme ich nun selbst mit ganz viele Heribert-Faßbender-Vibes keine Überleitung hin; aber egal: Bei der Single "Son Gefühl" ist Sebastian Madsen zu Gast, und zusammen kommt dabei ein Song irgendwo zwischen Kraftclub und Mark Forster. Er handelt von einer gewissen Reizüberflutung in Zeitalter der sozialen Medien: „Ich hab da keine Meinung, ich bitte um Entschuldigung.“ - Videopremiere 20.01.23 um 18 Uhr < Hier >.

Was ich mit diesem Schnelldurchlauf durch diese samt und sonders heute erschienenen Lieder erzählen will, ist, dass der Deutschpop tatsächlich einerseits einheitlicher, gleicher wird und sich andererseits schon sehr breit aufstellt - an den Rändern passt so einiges noch rein. Und man weiß tatsächlich nicht, ob diese Verbreiterung der Ausweg aus einer Deutschpopkrise ist - oder wir erst an der Schwelle zu dieser stehen, weil der Markt implodieren könnte. Letzteres glaube ich eigentlich nicht, da, um einen Markt zum Implodieren zu bringen, erst einmal ein Markt da sein müsste, aber das ist ja fast nicht der Fall: Nie war es schwerer, als Musiker:in Geld zu verdienen, als heute - zumal wenn man neu hinzukommt. Das ist anders als bei der NDW, da konnte man mit paar Singles reich und berühmt werden.