::: DieZeiten, in denen der Mittwoch des Reeperbahnfestivals noch etwas ruhiger und leerer ist, sind allem Anschein nach vorbei - das Imperial-Theater ist um 21:30 h zwar noch nicht so gut gefüllt, aber die RBF-app meldet durchaus Locations, in denen Einlass-Stop verhängt wurde, und auch die Reihen des Kiez-Theaters, in den derzeit Edgar Wallace’ „Die blaue Hand“ spielt, füllen sich nach und nach. Im Bühnenbild dieses who-dunnit treten aber in dieser Woche Musiker:innen auf, und ich sah dort die Irin Ailbhe Reddy, die mit wunderschönen Songs einen filigranen Indierock spielt, der manchmal nach Folk mit elektrischen Instrumenten klingt - zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug; wenn es solche Bands nicht mehr gibt, sind wir verloren - wunderbar. ::: Deutlich voller dann im Knust, in dem Paula Carolina auftritt, und die hat auch schon einige Hits im Gepäck, die die Leute mitsingen. Der NDW-huldigende Indiepop ist im Studio eher mit Zurückhaltung und auf Stimme und Text fokussiert produziert, live (und in ihrem neuen Song "offiziell glücklich" schon auch) kommt das ganze eher als Postpunkrock daher, als hätte die erschreckend professionelle Band einen Workshop bei IDEAL besucht, deren „Berlin“ auch mindestens einmal vom Keyboarder direkt zitiert wird. Dieser noch unfassbar jungen Popsängerin, gehört die Zukunft des Deutschpop, die wird berühmt, davon bin überzeugt. ::: Feiner, filigraner und stiller hatte ich den Abend im Grünen Jäger, 100 Meter meiner Wohnung begonnen und beendet: Die Sängerin und Songwriterin „C’est Karma“ aus Luxemburg trat mit Pianist auf, der auch Keyboard und Ableton live bediente, und die beiden holten ihre Popsongs aus dem Chanson ab und bliesen sie mit Effekten und Autotune zu leicht bombastischen Synthiepop auf. ::: Während Mina Richman in gleicher Location zu später Stunde akustischen Bluesfolk suchte und fand: Die Sängerin schreibt wunderbare Lieder und hat eine Band dabei, die sie mit akustischer Leidenschaft spielt, und Mina Richmans Stimme wandert von tremolofreier Energie zu trotziger Neugier in zig Stile: Für mich der Schluss- und Höhepunkt eines großartigen ersten Tages vom Reeberbahnfestival 23 :::
Die Audio-Kassette wird 60, und das weckt Erinnerungen. In den 80ern wussten wir, dass eine Chromdioxid-Kassette besser war - auch wenn wir den Grund dafür nicht kannten. Wir kannten die Tricks, dass man am oberen Rand ein Teilchen Plastik heraus brechen musste, um die Kassette unüberspielbar zu machen, und ebenso war bekannt, dass ein Stückchen Tesa reichte, um diese Art Kopierschutz aufzuheben. Auch Bandsalat wussten wir zu beheben; aber das Schönste an den Tapes war natürlich, dass man sie auf dem Schulhof herum reichen konnte, weil jemand die neue Platte von Depeche Mode schon hatte und sie auf Kassette überspielen würde. Als Falk und ich 1987 aus London wieder kamen und dort die am selben Tag erschienenen neuen Alben von Housemartins und The Smiths mitbrachten, die in Deutschland noch nicht erhältlich waren, hatten wir Kassetten mit Namen darauf in Warteschleifen zuhause vor dem Plattenspieler liegen, da es ja die Länge eines Albums dauerte, um diese zu überspielen und ein Nachmittag natürlich nur begrenzt Zeit bot. (Interessanter Weise handelte es sich bei den beiden genannten Alben übrigens nicht nur um zwei Platten mit besonders langen Namen, „the people who grinned themselves to death“ und „strangeways here we come“, sondern auch, wie sich nachher heraus stellten sollte, um die jeweils letzten Alben der beiden Bands …). Aber natürlich war die Kassette auch ein Mittel der Liebeserklärung und von Freundschaftsbekundungen, weil man Mixtapes zusammen stellte. Und wirkliche Nostalgie überkommt mich, wenn ich an die Tapes denke, die ich erwartungsvoll vor dem Radio sitzend zusammen stellte. Die Anzahl meiner am Radio zusammen gestellten Compilations war irgendwann so hoch, dass ich diese Kassetten durchnummerierte und mir eine Kartei anlegte - für jede vertretene Band gab es eine Karte, auf der Stand dann, auf welcher Kassette an welcher Position der und der Hit drauf war - herrlich.
So sah das das aus:
a-ha
Take on me 069 A 122
Cry Wolf 089 B 037
Hunting High And Low 072 A 317
Diese Kartei anzulegen war ein riesiger Spass, auch wenn ich sie so gut wie nie brauchte, denn letztlich wußte ich zumindest bei den Songs, die wirklich liebte, wo diese zu finden waren. Und die Position fand man im Übrigen auch nur dann zuverlässig, wenn man die entsprechende Tape-Seite zurückspulte und dann den Zähler des Tapedecks auf Null stellte. (Ich müsste eigentlich mal schauen, ob ich diese Kartei noch habe, viele der Kassetten sind noch da …) - jedenfalls kann man es nicht anders sagen: Kein anderer Tonträger prägte die Entstehung meines Musikgeschmackes so sehr wie die Kassette: Happy Birthday!
Die vielversprechende EP des jungen Popmusikers Fabian Saller
Die soeben erschienene EP des Sängers und Songwriters Fabian Saller „place / time“ klingt nach Deutschpop auf Englisch. Und vielleicht trifft es das auch: 4 Songs über die Unsicherheiten eines jungen Mannes Mitte 20 oder auch (nur) die Suche nach Problemen, über die es sich singen lässt. Gegen dieses Konzept, um Pop zu entwerfen, ist erstmal nichts einzuwenden, und Fabian Saller mach auch handwerklich alles richtig, weiß, wie ein Refrain funktioniert, ist als Sänger in der Lage versiert ins Falsett zu singen, um in höheren Lagen eine Spur Soul mit in den Pop zu nehmen; auch findet er Zeilen jenseits der Lyric-Setzkästen, und seine Band beherrscht zudem den kompakten Instagram-Funk, den auf social Media eine junge Generation virtuoser Popmusiker:innen erfunden haben, die nicht recht wissen, was sie mit ihren Instrumenten spielen sollen, die sie so toll beherrschen. Das Meiste also wurde hier richtig gemacht; aber dennoch denkt man: Handelte Pop nicht, oder Rock zumal, auch mal vom Kontrollverlust? Und führte uns die Verlockungen des Hedonismus vor Ohren? Wenn man an allen Ecken und Enden alles gut macht, was bleibt dann am Ende des Tages übrig? Vielleicht sind es in der Popmusik auch manchmal die Momente, in denen man zumindest riskiert hat, dass irgendwas nicht funktioniert. Dass man an der einen Kreuzung mal links abbiegt, obgleich seit Generation von PopmusikerInnen mit dem linken Abzweig ganz gut gefahren sind. Das Unperfekte kann zur Schönheit führen, das risikofrei perfekt Gemachte bietet einen guten Grundstock, ein Fundament, aber es ist noch nicht die Musik an sich, die berührt. Mit Fabian Saller also ist ein großartiger Musiker am Werk, dem seine Versiertheit an manchen Stellen im Weg steht, den es sich aber weiter zu verfolgen lohnt; und hörenswert ist seine EP „place / time“ allemal. /// - LINK: < YouTube-Channel > mit Videos zu allen vier Songs der EP - ///
/// Jocelyn B. Smith habe ich durch meine ehemalige Mitbewohnerin in Berlin kennen gelernt, das muss etwas 25 Jahre her sein, da haben wir sie live gesehen. Heute ist sie immer noch als Popmusikerin aktiv, inzwischen durch das Musical „König der Löwen“ deutlich bekannter. Heute erscheint eine neue Single von ihr, „Dancing In The Dark“ (nein, kein Springsteencover) - ein Dance-Soul-Song mit housigem Uptempobeat. Kompositorisch mag das nicht das Nonplusultra sein, aber Jocelyn B. Smith hat eine Stimme, mit der auch mittelmässige Nummern großer Pop werden. Wie sie dann im Video mit der beinahe 80-jährigen Stilikone Günther Anton Krabbenhöft tanzt, ist so unwiderstehlich charmant, dass man über diese Veröffentlichung eigentlich nur glücklich sein kann. /// „Call Me A Mess“ nennt das Kölner Duo „colin“ ihre neue Single - während im Text die Entropie des Alltags von Mittzwanzigern besungen wird, geht es musikalisch eher britisch verhalten zu und das im klassischen Gewand versierten, Gitarren wie Synthiesounds enthaltenden Indiepops. Der Song kommt wenig aufregend daher, aber die unbeschwerte Dreistigkeit, sich einen Popsong lang Zeit zu nehmen, von inneren Chaoszuständen zu erzählen, empfinde ich als befreiend und wundervoll melancholisch. Da finde ich mich selbst wieder, obgleich die beiden Typen von „colin“ altersmässig vermutlich meine Söhne sein könnten. Da sie es aber nicht sind, kann ich guten Gewissens sagen: Bloss nicht aufräumen, Jungs. /// Da geht es bei Julia Kautz ein wenig aufgeräumter zu, womit ich wohl den „Heribert Fassbender“-Award der konstruiertesten Überleitungen bekommen könnte. Julia Katz jedenfalls ist versierte Songschreiberin für zum Beispiel Wincent Weiss, Cassandra Steen oder Max Mutzke; und das hört man auch ihrer Single „Utopia“ an - im Guten wie im etwas Statischen: Kautz beherrscht versiert die klassische Mechanik des Deutschpop, ein melancholisches Flussbett für Hörer:innen zu machen, die gänzlich unmelancholisch sind, durch die man dann einen melancholischen Uptempofluss fliessen lassen kann - so ist der empfundene Kitsch quasi ein sich selbst prophezeiendes Perpetum Mobile der Traurigkeit für untraurige Menschen. An sich kann ich damit also nicht so viel anfangen. Im Falle besagter Single „Utopia“ aber steht dem hoch professionellem Songwriting die skizzenhafte Machart entgegen: Hingehuscht produziert klingt dieser Song so, als sei er dafür gemacht, für ihn eine Sängerin zu finden, für die man ihn dann ausformuliert, aber genau das etwas Unfertige der Machart und der unterkühlte Gesang fangen für mich ganz fluffig den sich selbst prophezeienden Kitsch auf. /// Das Lied „rosarot“ hat seinen Sänger sozusagen gefunden und ist ausproduziert - wenngleich die Machart hier sicherlich zurückhaltend ist, ein Ballade über einen One-Night-Stand, von dem sich das singende Ich mehr erhofft hat und noch immer erhofft - die Suche nach Liebe also, der Pop so viel zu verdanken hat, hier ist auch wieder. Moritz Ley gibt sich hier verschwindend bis zerbrechlich still, und wer kürzlich Ähnliches erlebt hat, wie erwähnt singendes Ich dieses Liedes, wird hier vermutlich in Tränen ausbrechen - also: Ein Song, der seine Berechtigung hat, aber hallo, auch wenn er mich persönlich jetzt nicht anspringt. /// House, Soul, Pop, Funk, Jazz - alles diese Stile könnte man nennen, wenn man den Song „Falling For The Music“ von Olga Dudkova auch nur 30 Sekunden hört - und das bleibt auch so. Ein Song, der sozusagen die eigene Multistilistik dadurch feiert, von der Musik als solchen zu handeln. Und dann auch noch eine fantastische Soul-Stimme einer Globetrotterin - wer hier nicht das Gefühl bekommt, einen kommenden Superstar zu hören, von dessen Bahnhof fahren auch nicht mehr all zu viel andere Züge. ///
Eines Tages wird wahrscheinlich irgendeine Stimmtrainer:in oder eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin zu Miley sagen: „So geht es nicht weiter, Frau Cyrus. Wenn sie jeden noch so blubbernden Bubblepop so rau übersingen, werden irgendwann Ihre Stimmbänder abschmieren.“ Wer weiß, ob sie sich das jemals wird sagen können, aber in jedem Fall können wir uns beim aktuellen Miley Cyrus-Album „endless summer vacation“ darüber freuen, dass Miley die Lieder, die sie mit nerdigen Songwritingcampteilnehmer:innen geschrieben und mit top Produzent:innen eingespielt hat, in einer einer Hingabe singt, als wären ihr die Stimmbänder wirklich schnurzpiep. Nach Ausflügen in verschiedenste Sub- und Subsubgenres des Pop und nicht zuletzt anschliessend an verschiedene Rockpopcover im Rahmen ihres vorletzten Albums, haben die Lieder der endlosen Sommerferien in einer Art Contry-Blues-Rock ein Zuhause gefunden, indem die immer auf Anschlag singende Miley Cyrus ein ideales Bett für ihren Popentwurf gefunden hat. Ihre stets doppeldeutigen, nämlich auf sie und oder auf allegorische Schnittpunkte beziehenden Geschichten, Andeutungen und Metaphern ihrer Lyrics tun ihr Übriges, um sich in jedwede Art von Popmusik zu verbreiten. Das hat diese Platte zu demersten großen Popkonsens dieses Jahres gemacht - das Album also, auf das sich von Teenager:innen bis hin zu über 60 jährigen Ex-Spex-Leser:innen alle einigen können.
Es gibt einen großartigen Live-Moment von Miley Cyrus, der verdeutlicht, warum sich vermutlich so viele auf sie einigen können, der zeigt, auf was sie sich alles einlässt und wohin sie überall Augen hat. Da kommt sie 2019 in Glastonbury auf die Bühne, sie setzt erst mit der ersten Zeile ihres Gesangs zu spät ein, kürzt ein zwei Silben, kommt auf die Spur, sagt dann noch kurz Mark Ronson an, um im nächsten Moment mitten in der ersten Strophe die „nice titties“ irgendeiner Zuschauerin zu loben - vor einem Publikum von geschätzten 50 000 Menschen: Hier ist ein Vollprofi am Werk, der nach Disney-Star-Dasein und innerer wie äusserer Befreiung durch Skandälchen nun die große Brückenbauerin im amerikanischen Popbusiness geworden ist. Mal ganz abgesehen davon, dass es kaum einen Menschen auf der Welt gibt, dem es in aller Öffentlichkeit gelingt, Brüste zu loben, ohne dass das irgend jemand peinlich finden wird, erntet Miley auf ihrem aktuellen Album flankiert von der Über-Single „Flowers“ nun eben von den Brücken, die sie gebaut und bepflanzt hat. Der Folkpop bis Poprock dieser Platte ist der Soundtrack ihrer Versöhnlichkeit, und seine Urheberin ist die einer der erstaunlichsten Entertainer:innen unserer Zeit.
Das Eigencover als Album-Konzept - diese Idee hatten „die fantastischen Vier“ und „U2“
Zwei Bands, die es schon recht lange gibt, haben Alben herausgebracht, auf denen sie sich selber covern - „die Fantastischen Vier“ und „U2“. Da kann man ja schon mal die Frage aufwerfen, warum Bands zu diesem Mittel des Eigencovers greifen. Promotion-Sprech dürfte sein, dass die Bands wichtige Songs ihrer Karriere einer Frischzellenkur unterziehen, um ihre Tauglichkeit in aktuelleren Popgewändern anzutesten. Zudem bietet das Eigencover ebenso wie das Covern überhaupt auf recht direkte Weise das Potential von Pop im Allgemeinen: Das Neue wieder-erkennen.
Schauen wir also erst einmal auf die beiden Werke im Spezifischen: U2 haben für „Songs Or Surrender“ sage und schreibe 40 Werke ihres Oeuvres neu eingespielt. Darunter sind einige ihrer Hits wie „Where the streets have no name“, „One“ oder „I still haven’t found, what I’m looking for“ (Letzteres haben sie auf „rattle & hum“ sogar schon mal selbst gecovert) - es finden sich aber auch randseitige Lieder wie „11 O’Clock Tick Tock“ oder „Peace on earth“ in dieser Sammlung. Jedes Mitglied hat augenscheinlich 10 Lieder ausgewählt, denn 4 Teil-Alben tragen jeweils die Vornamen der U2s: Larry, Edge, Bono, Adam. Die Band hat die Songs größtenteils entschlackt, ihre Breitwandigkeit eliminiert und mit schlichtem Band-Sound - Bass, Gitarre, Gesang - aufgenommen - merkwürdiger Weise ohne Schlagzeug. Da Drummer Larry Mullen in letzter Zeit ohnehin leicht isoliert in der Band zu sein scheint und bei der Las-Vegas-Residency in diesem Jahr gar nicht spielen wird, nähren sich Spekulationen über dessen Ausstieg, wozu der Popticker jetzt nichts sagen kann. Aber wie dem auch sei: 40 Songs lang U2 ohne gigantische Edge-Gitarren-Flächen, ohne viel Produktionsaufwand, fast durchweg im gleichen Uptempo und ohne Schlagzeug - sorry aber: Schnarch!
Fanta 4 haben für ihre „Liechtenstein Tapes“ hingegen 15 ihrer Lieder neu aufgenommen und sich hierfür einen Bandsound ersonnen, der mutmasslich auch von ihrer Live-Band stammt - kaum noch Samples, funky-Bässe und Gitarrenlicks, hin und wieder mischt sich Hall unter Chöre und Bläsersätze oben drüber. Das ist zweifelsohne versiert in die Tat umgesetzt, aber wenn man ehrlich ist: So viel anders als die Originale sind diese Versionen dann auch nicht. Man kapiert einfach nicht den Mehrwert der Eigencover gegenüber ihren ursprünglichen Versionen.
Vielleicht liegt die lähmende Langweile der beiden Alben einfach an dem mangelndem Interesse an der Bands an ihren eigenen den Songs. Mit einer gewissen Berechtigung sind sowohl die Fantas als auch U2 offenbar davon ausgegangen, das Covern eigener Songs brächte als Konzept aufgrund der puren Nähe zum eigenen Werk bereits eine Idee für jeden Einlzelsong mit sich. Aber Covern existierender Lieder setzt auch immer voraus, dass man wirklich eine neue Idee an sie heran und in sie hinein trägt - ganz gleich, wer die Lieder schon einmal veröffentlicht hat. Aber hier herrscht wirklich zweimal gähnende Ideenleere. Nur das Cover von den Fantas ist wunderschön.
Der Sänger- und Songwriter Sören Vogelsang ist seit 14 Jahren hauptberuflich Musiker, seine Musik ist Folk mit deutschsprachigen Texten. Am heutigen Freitag den 10. März 2023 erscheint seine neue Single "Nerd", und ebenfalls mit dem heutigen Tag beginnt Vogelsangs Crowdfunding-Kampagne für sein neues Album. Grund genug mal ein paar Fragen zu stellen - das erste waschechte Interview des Poptickers, das wir diese Woche per Mail geführt haben
Lieber Sören Vogelsang, ihr neues Lied heißt „Nerd“, ihr letztes war „Asoziale Medien“. Gleichzeitig liebäugeln Sie und ihre Musik immer ein wenig mit dem Mittelalter, dem man den Nerd und Instagram eher nicht zuordnen würde. Welcher Zeit fühlen Sie sich näher - dem Heute oder dem Mittelalter?
Definitiv dem Heute. Ich habe 2008 mit Songs auf YouTube angefangen, mache seit mittlerweile 4 Jahren regelmäßig Musik auf Twitch und das neue Album heisst „Optimismus Prime“, was sehr offensichtlich nichts mit Mittelalter zu tun hat. Ich würde tatsächlich auch nicht sagen, dass ich mit meiner Musik mit dem Mittelalter liebäugele. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Auf meinem ersten Album „Augenblick“ war die Mittelalter-Folk Musik noch sehr stark vertreten, aber auch hier gab es mit Irgendwann, oder Langeweile schon Lieder, die man auf einem Mittelaltermarkt eher weniger hören würde. Mit dem zweiten Album „Fernweh“ habe ich mich dann komplett dem Singer-Songwriter/Pop zugewandt, da gab es keine mittelalterlich anmutenden Songs mehr, weder musikalisch noch textlich.
Ich habe allerdings in diesem Bereich 2010 angefangen Musik zu machen und habe aus der Zeit auch noch viele Fans. Wir haben mit der Band das CD Projekt „LARP“, auf dem wir bekannte Songs der Liverollenspielszene live im Studio (ohne Dubs) spielen. Auch treten wir weiterhin mit unserem Mittelalter-Programm noch immer auf solchen Veranstaltungen auf.
Dank der in den letzten 10 Jahren stark gewachsenen Szene ist es heutzutage auch keine „Frevelei“ mehr, wenn die Songs auf der Bühne durchaus einen modernen Touch haben und der Sänger dort eben nicht mit Knickhalslaute, sondern mit Gitarre steht. Es ist schön, dass wir mittlerweile auch auf diesen Konzerten zwischendurch eigene, moderne Songs singen können, ohne anzuecken.
Ich liebe die Szene und ich mag auch mittelalterlich anmutende Folk Songs, aber meine und unsere Richtung ist mit dem letzten Album gelegt worden und wird mit dem kommenden Album konsequent weitergeführt. Aber wie gesagt: Es sind zwei Seiten einer Medaille und es wird auch eine LARP Vol. III erscheinen.
Die Musik, die es von Ihnen gibt, hat, egal ob sie vom Mittelalter oder von heute erzählt, einen sehr unverstellten Klangcharakter, sehr akustisch und wenig „produziert“ im Sinne von Sound-Effekten (sieht man mal von einem kurzen Autotune-Einsatz in „asoziale Medien“ ab), auch die Texte kommen auf sehr direkte Weise auf den Punkt, den sie machen wollen. Das Ganze wirkt dadurch sehr unverstellt. Macht man sich mit einem solchem Popentwurf nicht auch furchtbar angreifbar?
Ich bin tatsächlich kein großer Fan vom Drumherum-reden. Weder im Alltag, noch in der Musik. Hamburger Schule, in denen alles zerfasert und ver-metaphert wird, finde ich eher anstrengend. Ich kann nicht nachvollziehen, dass man Menschen ohne ein bestimmtes Bildungsniveau aktiv von seinen Songs ausschließen möchte. Klar mache ich mich damit auf der einen Seite absolut angreifbar, aber auch ohne das „an“, ich mache mich und meine Musik greifbar. Meine Texte sind leicht zugänglich, aber, (so hoffe ich zumindest) trotzdem nicht platt. Sehr viel im Radio ist komplett platt-produziert. Da fehlt für mich die Seele, das Atmen.
An die letzte Frage anknüpfend: Sie sind auch Schauspieler und haben sich in der LARP-Szene („Live Action Role Playing“) einen Namen gemacht. Wie viel Kunstfigur steckt in Sören Vogelsang, wenn sie nun unter diesem Namen Lieder singen?
Kurz: Nichts.
Ich bin so wie ich bin. Ich habe keine Lust mich zu verstellen. Klar, wenn ich schlecht drauf bin, versuche ich es mir natürlich nicht anmerken zu lassen und den Leuten natürlich trotzdem eine schöne Zeit zu machen, aber auch das kennt sicherlich jeder.
Anders ist das bei meinem Comedy-Musik Duo „Das Niveau“. Hier spiele ich immer wieder auch eine Rolle auf der Bühne.
In vielerlei Hinsicht wirkt ihre sehr authentische Musik aus der Zeit gefallen, ich habe den Eindruck, sie schert sich auch in keiner Weise darum, auf Streaming-Plattformen zu funktionieren. Finden Sie es blöd, wenn ich daraus schliesse, dass sich Ihre Musik eher nicht an junge Leute richtet?
Nein, Sie haben durchaus Recht. Klar, auch ich habe jetzt so einen TikTok Account, aber eher, weil mich Technik und Neues interessiert, nicht, weil ich auf „Teufelkommraus“ versuchen will dort jetzt „meine Brand zu platzieren“. Ich finde die Musikwelt sehr anstrengend. Ich habe viele gute Freunde, die in den letzten Jahren mit ihrer Musik sehr bekannt geworden sind und mit großen Labeln im Rücken im Mainstream stattfinden. Versengold, Saltatio Mortis, Faun, Mr. Hurley und die Pulveraffen. Das ist immer ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite spielt man in ausverkauften Hallen, findet im TV statt, ist „relevant“, auf der anderen Seite muss man immer auch Dinge tun und Lieder spielen, auf die man selbst absolut gar keine Lust hat. Es ist eben ein Business. Auch ich bin natürlich in diesem Business tätig, aber ich versuche das so gut es eben geht, nach meinen Regeln zu tun, ohne das ich mir von außenstehenden sagen lassen muss, was ich als nächstes zu tun habe. Reich werde ich damit sicherlich nicht, aber das ist auch nie mein Ziel gewesen. Ich mache Musik und kann davon Dank meiner Patreons und den Unterstützern auf YouTube und Twitch okay leben. Das reicht mir. Ich mache das, was mir Spaß macht.
Anders gefragt: Sie nutzen zur Promotion Crowdfunding-Plattformen wie eine Patreon-Seite und ab dem 10. März sammeln Sie nun Mittel zur Finanzierung ihres nächsten Albums - macht sie das unabhängig von Druck von Plattenfirmen, Promotor:innen und so weiter, oder raubt das auch Zeit, die Sie als Künstler dann weniger haben?
Man ist immer abhängig. Das ist in jeder Kunstrichtung so. Ob nun von großen Plattenfirmen, oder von den Fans. Aber ich muss sagen, ich bin lieber von den Menschen abhängig, die meine Musik schätzen, als von Leuten, die meinen zu wissen, was gut für meine Musik ist.
Noch mal zurück zur ihrer neuen Single „Nerd“, denn aus Anlass ihres Erscheinens findet dieses schriftliche Interview ja statt: Früher war der Nerd eher eine Figur Abseits der Gesellschaft, heute ist sie eher positiv konnotiert, und irgendeinen Spleen pflegt jeder, der was auf sich hält. Haben Sie auch einen?
Einen? Hahahahaha!
Im Lied „Ich bin ich“ aus dem letzten Album „Fernweh“ besinge ich sogar einige davon.
Ich denke man muss sich nur das Video zum Song angucken um genug zu sehen. Es ist in meinem Wohnzimmer gedreht worden.
- VIDEO-PREMIERE "Nerd" am 10.03.23 um 19 Uhr -
Und auch noch mal zurück zur ihrer letzten Single „asoziale Medien“ - dafür, dass Sie soziale Medien für asozial halten, sind Sie im Netz unfassbar präsent - facebook, twitter, twitch, instagram, discord, blog, reiseblog und irgendein gaming-Kanal, den ich nicht mal verstanden habe. Wie ist ihre Abneigung aus dem Lied mit dieser doch recht hohen Präsenz im Netz in Einklang zu bringen?
Hm, ich denke jeder hat schon mal länger als eigentlich beabsichtigt durch irgendwelche Social Media Timelines gescrollt und sich danach eher schlechter al besser gefühlt. Nun, genau davon handelt der Text. Jeder kennt es, niemand hat so wirklich ultimativ Lust darauf und doch kommt auch niemand so ganz davon los.
Auf der anderen Seite: Ich liebe die Möglichkeiten und ich war schon immer extrem Technik- und Internet-affin. Ich liebe Twitch, die Möglichkeit zu haben dort interaktiv für meine Community Musik zu machen und gleichzeitig, ähnlich einem Konzert, mit den Menschen die zuhören zu interagieren. Wie großartig ist das denn? Auf der anderen Seite sehe ich mit meinen 70 Zuschauern Kanäle auf denen eine leichtbekleidete Dame ihre nur sehr marginal verschnürten Brüste präsentiert und mit keinerlei erkennbaren Talenten von ihren 1500 Zuschauern mit Geld beworfen wird.
Bei sowas wird einem die Ambivalenz der Welt in der man sich dort bewegt erst so richtig bewusst.
Und dann habe ich noch ein über 2-stündiges Gespräch mit Ihnen und Jens Böckenfeld von Große „Freiheit TV“, ein„libertärer Klima-Wandel-Skeptiker“ - Ihre Geduld dort ist bewundernswert, aber ich habe mich gefragt: Warum tut man sich das an?
Hahaha, gute Frage. Ich hatte erst letzte Woche ein Gespräch mit einem Schauspiel-Kollegen aus dem eher linken politischen Spektrum, der derzeit Memes von rechten Trollseiten auf seinem Facebookprofil postet und sich offen auf seinem Profil mit Russland solidarisiert. Klar, eine Möglichkeit wäre nun den Kollegen schlicht zu blockieren. Aber davon zieht sich seine Bubble ja nur noch enger zu. Also suche ich das Gespräch und versuche zu verstehen, wie man solche für mich völlig abstrusen Gedankengänge vor sich selbst rechtfertigen kann. Ich glaube das geht ein bisschen in die Richtung Chez Krömer. Ich will es einfach nicht unversucht lassen.
Gestern Abend hat mich meine Frau gefragt, an wen sich die Fragen, die da formuliere eigentlich richten, was für ein Mensch das sei, und meine erste Antwort war: Dieser Sören Vogelsang scheint ein ziemlicher Freigeist zu sein. Sind Sie das?
Ich fürchte alle meine Freunde würden hier sehr klar mit einem vehementen „Ja“ antworten.
Ich selbst bin mir tatsächlich gar nicht so sicher. Vielleicht bin ich einfach nur ein Dickkopf. Klar, ich habe Schauspiel studiert, mache seit 12 Jahren hauptberuflich Musik, habe nerdige Hobbies, schlage mich irgendwie durch… das könnte man schon als Freigeist bezeichnen. Auf der anderen Seite führe ich ein eigenes Musiklabel mit mittlerweile knapp 30 Künstlern, mache meine Buchhaltung selbst und bin in ziemlich vielem, ziemlich normal. Das klingt schon fast konservativ. Ich nehme an die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Lieber Sören Vogelsang, ich wünsche Ihnen viel Glück für Ihre vielfältigen Aktivitäten - vor allem natürlich für Ihre Musik & Ihr kommendes Album - bis demnächst.
Vielen herzlichen Dank, bleiben sie gesund und bis hoffentlich bald.
Erkenntnis-Hacks in Popmemes: Dauerzustand Deichkind
„Neues vom Dauerzustand“, so HEISST nicht nur Deichkinds neues Album, so ist auch die Dramaturgie eines neuen Deichkindalbums an sich - ihre Musik ist, seit sie die volle Wandlung von Deutschrap zum Diskurs-Elektropop vollzogen hat, ein Dauerzustand, und vom eben diesem berichtet ein jedes, neues Album. Verblüffender Weise ist ihr Popentwurf trotz seiner Fortdauer aber noch immer formbar und somit in der Lage, tatsächlich neu zu sein - womit wieder poptickers alter Aphorismus bewiesen wäre, nachdem wir im Pop das Neue wieder-erkennen. Im aktuellen Fall war schon die Vorab-Single von „in der Natur“ derart strange und deichkindisch, dass man selbst das bizar darin verbaute Jodeln als Teil ihres Soundentwurfes hinnahm: „In der Natur / Wirst du ganz langsam verrückt / Und plötzlich wünscht du dich so sehr zum Hermannplatz zurück.“ - so geht die Indernaturlyrik noch recht traditionell gebaut. Mit dem zuletzt ausgekoppelten „Kids in meinemAlter“ dann sind Deichkind aber im Minimalpop ihrer Selbst angekommen: Das ist kein Lied mehr im eigentlichen Sinne, eher ein ironisch unterkühlter Rant, ein Pop gewordenes Meme, eine gesprochene, gebrabbelte Zustandsbeschreibung der Generation irgendeines Buchstabens, unter dem eine fast atonale Synthielinie und ein trappender Beat sitzen: „Er hat Fashion-Advisor, holt sich Klamotten-Packs / Wollte sich gesund stoßen mit Coronahilfen / Sehnsucht nach einer Zeit / Herr des Hauses / Hochgezüchtete Männerversteher*innen sind verunsichert“ - ein Pop-Proton weniger, und wir hätten es mit einem experimentellen Hörbuch zu tun, und das Hören dieser Musik ist weniger ein Hörerlebnis als vielmehr ein Endlos-Scrollen durch Zeitgeist spiegelnde Floskeln und Floskeln des verworrenen Zeitgeistes - gut, könnte man nun sagen: Das sind Sätze zur Rettung des Popfeuilletons, Du Spex-Blogger Du; aber man kann es auch einfacher sagen: Deichkind spielen spätestens mit „Neues vom Dauerzustand“ in der eigenen Liga.
Das Erstaunliche an der Stabilität des Signature-Sounds von Deichkind ist, dass die Geschichte dieser Formation derart von Personalwechseln geprägt ist, dass man in der Hinsicht schon von den Fleetwood Max des Deutschrap sprechen könnte - von den anfänglichen drei Rappern ist nur noch Philipp Grütering (alias Kryptik Joe) übrig - Malte Pittner und Buddy Buxbaum verliessen die Formation 2006 bzw. 2008, weil ihnen der neue Elektro-Sound missfiel, und der, der diesen Sound erfunden hatte, Sebastian Hackert, starb 2009. Live-Aushilfe Ferris Hilton wiederum wurde 2008 vollständiges Mitglied und schied 2018 dann wieder aus. Die nominellen drei festen Mitglieder sind heute neben Kryptik Joe, der wohl das kreative Zentrum ist, Sebastian „Porky“ Dürre und Henning Besser aka Dj Phono.
Ein anderes Lied auf dem neuen Album ist eine Aufzählung moderner Absurditäten, die stets mit dem aus Socialmedia-Forums stammenden irony-speech „merkste selber“ kommentiert werden: „Boomer haten, aber Bierschinken auf das Brot / Selbsthilfegruppen / Merkste selber, ne? / Datenschutz Setting bei WhatsApp einstellen / Cringe / Merkste selber!“ - da wird man gewahr, dass man es eben manchmal selber nicht merkt, sondern dass Deichkind es für einen merken müssen. Dann hören wir es und denken, wir hätten es selber gemerkt - die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Pop-Hören also.
Angebliche Konzerte von Dieter Bohlen, das Ende von DSDS, sexistische Ausfälle - der Popticker rüttelt da mal paar Dinge gerade
Die anstehende Tournee von Dieter Bohlen hat einen sehr bescheidenen Namen: „Das größte Comeback aller Zeiten.“ - die große Suggestionsmaschine Pop, die zweifelsohne oft vom Behaupten der eigenen Angesagtheit lebt, überdreht hier in einen Superlativ, der, wenn er eine ironische Komponente hätte, sympathisch wäre, aber da Dieter Bohlen zu keinem doppelten Boden fähig ist, muss man hier schon von einem Mißbrauch der Marketingmittel von Pop sprechen. Denn Bohlen geht hier ja auf Tournee, er spielt Konzerte, und er behauptet seine Rückkehr als Musiker, was er de facto schon lange nicht mehr ist - er ist Star des Reality-TV. Sein letzter Hit liegt Jahrzehnte zurück, und was eine große Karriere ja tatsächlich ausmacht, den eigenen Sound einerseits zu bewahren und andererseits der Zeit gemäss zu variieren, das kann Bohlen nicht vorweisen: Sein musikalisches Gespür reichte gerade einmal für ein Jahrzehnt, als er mit Modern Talking Schlager in einer dem Englisch entlehnten Kunstsprache kreierte. Diesen Schlager wiederum lancierte er zwar mit einem der größten Coups der Popmarketinggeschichte, indem er dasselbe Lied stetig unbenannte und so aus einer mittelmässigen Idee um die 10 Hits heraus quetschte, eine Beständigkeit hat er in seinem Output jedoch nicht. Und alles, was er nach Modern Talking musikalisch erreichte speiste sich der Emotionsaufladung des Casting-Show-Prinzips: „We have a dream“ von den DSDS -all-stars oder „Take me tonight“ von Alexander Klaws oder „Irgendwann“ von Beatrice Egli waren Veröffentlichungen, die das Glücksversprechen von „Deutschland sucht den Superstar“ in musikalischen Produkten rückkoppelten.
Wirklich gespannt darf man sein, ob die Idee, Bohlen als Musiker zu vermarkten, überhaupt noch funktioniert - ob also genug Menschen Tickets für seine Konzerte kaufen. RTL hat ihm immerhin seine angestammte Plattform, DSDS, reumütig zurück gegeben - für die letzte Staffel der Superstarsuche (das Format wird dann eingestellt) hat man ihn noch mal in die Jury berufen, nachdem man ihn letztes Jahr gefeuert hatte. Und ganz in seinem Element hat er dort neben einigen seiner einstudierten Oneliner, die ihm Fun-T-Shirt-Autor:innen als Beleidigungen schreiben, eine Influencerin in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass man ihn auch direkt wieder rauswerfen könnte. Samir El Ouassil hat in ihrer gewohnt klugen Gedankenschärfe in dem Podcast mit Holger Klein letzte Woche beschrieben, dass das das Reality-TV-Format in den letzten Zeit eine Wandlung vollzogen hat: Wer rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend auskeilt, muss damit rechnen, aus diesen Shows zu fliegen - nachzuhören < HIER > . Das zwischenzeitliche Kaltstellen von Bohlen im letzten Jahr war bereits dieser Wandlung zuzuschreiben, aber ihn nun aus der laufenden Staffel zu nehmen, ist vermutlich schlicht unmöglich - dazu ist er in der Show einfach zu präsent.
Die Marketingmaschine läuft also, aber ob Menschen, die seine auswendig gelernten Punchlines lustig finden, auch ein Ticket kaufen, um „You’re my heart, you’re my soul“ ohneThomas Anders zu sehen und dabei ja auch hören zu müssen, ist zumindest der Frage würdig. Nach dem größten Comeback aller Zeiten jedenfalls ist Schluss mit lustig: DSDS wird dann wie gesagt Geschichte sein, und aus genannten Gründen dürften wir dann in Zukunft auch von Bohlen-Musik verschont bleiben.
Vor 40 Jahren erschienen „99 Luftballons“ am Pophimmel, die man, wie die meisten noch auswendig wissen werden, für Ufos aus dem All hielt, weshalb man ihnen eine Fliegerstaffel hinterher schickte. Der Rest ist Geschichte - einerseits die im Lied, nach der sich Männer, die sich für Captain Kirk hielten, einen Krieg abhielten, andererseits eine Geschichte des Liedes: Der Antikriegssong schoss an die Spitze der Charts in Deutschland, Schweiz, Japan, Mexiko, Kanada und Australien. (Zu den Kuriositäten des Liedes gehört es, dass die englischsprachige Version, „99 Red Balloons“, in England auf Platz 01 kam, während in den USA die deutsche Version reüssierte und schliesslich und bis auf Platz 2 kletterte.) Unabhängig davon bescherten die fast 100 Ballons Nena eine gigantische Karriere im deutschsprachigem Raum, die bis heute anhält.
Single-Cover
Das Lied hat sich im kollektiven Kulturgedächtnis der Bundesrepublik verankert. Seine simple Friedensbotschaft ist gleichsam zeitlos und und zeugt doch von seiner Zeit, vom kalten Krieg, vom Nato-Doppelbeschluss und ganz allgemein von der Angst vor einem Atomkrieg. Aufgrund dieses naiven Pop-Pazifismus ist es eigentlich fragwürdig, „99 Luftballons“ als Prototyp der Neuen Deutschen Welle anzusehen, war diese doch vom Ursprung her der Postpunk der Bundesrepublik. Und auch wenn der später dem Funpop geopfterte Nihilismus dieser Bewegung explizit politisch war, steckt hinter der Geschichte der bombardierten Luftballons eher ein naives Erstaunen über den Zustand der Welt als ein Aufbegehren dagegen oder eine konkrete Protesthaltung. Die Songs der NDW hatten jedoch vor allem zu Anfang Wut und Zynismus, naiv waren sie nie - oder zumindest nicht politisch UND naiv. Im Zuge dessen steht „Ein bisschen Frieden“ den „99 Luftballons“ eigentlich näher als „Da Da Da“ oder „Hurra, die Schule brennt“.
Screenshot aus dem Video
Musikalisch ist das Ganze natürlich, wir kennen den Song, ein tanzbarer Mix aus Rock und Synthiepop, der in den 80ern populär war, und der sich auch hin und wieder im NDW-Sound wiederfindet. Die Songstruktur ist allerdings ungewöhnlich für Pop: Die „99 Luftballons“ könnte man zwar als Hook durchgehen lassen, aber einen Refrain gibt es nicht - der Song besteht nur aus 5 Strophen mit dazwischen geschalteten Instrumentalstellen, von dem man eine wiederum als Keyboardsolo bezeichnen könnte. Erste und letzte Strophe sind getragen und langsamer als die drei in der Mitte, und diese Kreisbewegung ist ein schöner dramaturgischer Bau. Und vielleicht ist für den immensen Erfolg der „99 Luftballons“ auch die allererste Zeile mit verantwortlich: „Hast Du etwas Zeit für mich? Dann singe ich ein Lied für Dich.“ - eine schöne Idee, mit dieser Frage ein Lied zu beginnen.
Die postapokalyptische Zeile der letzten Strophe wiederum singt Nena schon seit Jahren nicht mehr so, wie sie ursprünglich gedichtet wurde: „Heute zieh’ ich meine Runden, seh’ die Welt noch nicht in Trümmern liegen.“ Die Sehnsucht nach einem Hoffnungsschimmer in dem Lied ist natürlich, insbesondere wenn man es seit 40 Jahren singt, nachvollziehbar und völlig legitim, aber Nena begründete das eingeschleuste „noch nicht“ in einem Interview tiefgreifender: „Es liegt in unserer Hand. Ich glaube an uns Menschen und vertraue darauf, dass wir alle tief in unseren Herzen wissen: Wir gehören zusammen.“ (*) Das steht dann schon in einem gewissen Widerspruch zum Pessimismus des Liedes und zeugt zudem auch von einer gewissen Hybris, zumal es nicht das erste Mal ist, dass Nena ihr Handeln mit dem Glauben an die Menschheit begründet. In einem Instagram-Post zu ihrer Solidarisierung mit einer Demonstration gegen die Coronamaßnahmen stiess sie zum Beispiel in ein ähnliches Horn: „Wir haben nie gelernt, uns an der Andersartigkeit eines Jeden zu erfreuen. Das können wir in diesem Moment ändern und uns genau jetzt für die LIEBE entscheiden. Mögen wir zueinander finden und unser Miteinander als Menschenfamilie neu gestalten.“ (**) Auch der Titel ihres letzten Albums „Licht“ fusst laut Nena auf ihrem Willen, Licht und Liebe unter die Menschen zu bringen, wobei sie hier Licht und Liebe nahezu synonym verwendet - da schwingt dann also gar das Topos einer Erleuchtung mit. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie die Verantwortung für Ihr Handeln an eine diffus erleuchtete Sphäre der Menschenfamilie übereignet, was im Falle einer Umdichtung eines 40 Jahre alten Liedes noch kein Problem darstellen mag, in der Ablehnung von Hygienemaßnahmen aber einer andere Dimension hat. Viel fehlt dann nicht mehr zur These, von Nenascher Liebe und Licht Umwehte seien vor Ansteckungen geschützt.
Carlo Karges (1951-2002)
Aber zurück zu „99 Luftballons“; so sehr der Song natürlich mit Nena verwoben ist: Komponiert hat ihn wiederum der damalige Keyboarder der Band Nena, Uwe Fahrenkrog-Petersen, und die Lyrics wurdenvon Carlo Karges geschrieben, der leider bereits 2002 verstorben ist. Karges war ein guter Songtexter und hat zudem eine längere Musikergeschichte in verschiedensten Bands - unter Anderem war er auch mal Gitarrist bei "Extrabreit" sowie bei der notorisch unerfolgreichen aber als einflussreich geltenden "Bleibtreu Revue" - er konnte aber nach Auflösung der Band „Nena“ nie wieder kommerziell an Erfolge wie den von „99 Luftballons“ oder „irgendwie irgendwo irgendwann“, das auch aus seiner Feder stammt, anknüpfen. Der Legende nach schrieb Carlo Karges den Text von "99 Luftballons" nach einem Rolling-Stones-Konzert, bei dem Mick Jagger in der Nähe der Berliner Mauer Ballons fliegen liess, und Karges machte sich darüber Gedanken, was passieren könnte, wenn die fliegenden Luftballons in Ost-Berlin falsch interpretiert würden. Zwar können wir heute nicht mehr verifizieren, ob diese Geschichte stimmt, aber warum sollte sie es nicht. Sicher ist indes: Ganz gleich wie und aus welchen Gründen Nena den Text an dem Lied ändert, Carlo Karges hat sich mit dem Songtext in die Pop- und Kulturgeschichte eingeschrieben.
(*) - dieses Zitat findet sich in sehr vielen Artikeln zu Nena, die erste Quelle, wo sie dies gesagt hat, ist nicht auszumachen
(**) - dieser Satz stammt aus einem Instagram-Post von Nena