Der Konsens ist vom Album in den Einzel-Song gewandert
Wir wissen nicht, ob der viel beschworene Tod des Albums jemals eintreten wird, aber abgesehen davon, dass totgesagte ohnehin länger leben und der Playlisten-Boom eventuell schneller abebben könnte, als das den Content-Providern namens Streaming-Diensten jemals lieb sein könnte, gibt es ein Phänomen der Popkultur, das durchaus dahin siecht: Das Konsensalbum. Die Platte also, die alle haben, meist auch unabhängig davon, wieviel sie dann jeweils gehört wurde oder bis heute wird: Dire Straits’ „Brothers in Arms“, Portisheads „Dummy“, „Peter Frampton comes alive“, der blaue und / oder der rote Beatles-Sampler, Norah Jones’ „Come away with me“ oder Alanis Morrissettes „Jagged Little Pill“ - um nur ein paar zu nennen. Das Album jedenfalls, auf das sich eine gewisse Zeit alle einigen können.
Aber es gibt natürlich eine Sehnsucht nach dem Konsens, in der Popmusik ist sie ja geradezu konstatierend, aber derzeit eben wird diese Sehnsucht vor allem durch einzelne Songs herauf beschwört und oder (zum zweiten Mal in diesem Text, wow) auch befriedigt. In diesen Songs fallen dann oft bestimmte Erscheinungsformen von Popmusik zusammen, wie ja ohnehin die Produkte des Pops Gefässe verschiedenster visueller, sozio-kultureller und natürlich hörbarer Phänomene sind, und bei den Konsens-Songs, die ich meine, kommt noch hinzu, dass es Lieder betrifft, die auf Vinyl ebenso wie auf CD und im Streaming sowie in sozialen Netzen ein Präsenz entwickeln. Auf Tik-Tok beispielsweise und kollateral wahrnehmbar auch auf Instagram spülen derzeit immer wieder Lieder aus der Schnittstelle von Rock und Pop aus der Zeit Ende der 70er, Anfang der 80er an die Oberfläche. Da gab es den Skater, der Cranberries-Saft trinkt, und dazu erklang „dreams“ von Fleetwood Mac, es wurde dem Song „Africa“ von Toto gehuldigt, und jeder Gitarrist, der etwas auf sich hält und das in den sozialen Netzwerken zeigen will, spielt die Solis aus „Sultans Of Swing“ und / oder (3x, Hammer) „Hotel California“ nach. Was diese Lieder gemeinsam haben, ist eine gewisse Unschuld, eine harmonische Weltsicht jenseits von Corona und Klimawandel - auch wenn man das über „Hotel California“ sicher nur über die Musik aber nicht über den Text sagen kann.
Mit gleicher Sehnsucht nach Konsens und nach Wohlfühl Pop ohne Schrägen und Kanten lässt sich vermutlich der wahnsinnige Erfolg der Single „Cold Heart“ von Elton John und Dua Lipa erklären. Der Song ist an sich ein Selbst-Cover Johns und heißt im Original „Sacrifice“. In seiner Urform ist das ein klassische Pianopop-Ballade wie sie Bernie Taupin zu dutzend für Elton John geschrieben hat, aber in der nun seit Monaten in den Top-Ten befindlichen Neuaufnahme wird eine Uptempo-Dance-Pop Nummer mit einer Prise britischen RnBs von Dua Lipa draus - anschlussfähig an Justin-Bieber-Hörer:innen ebenso wie für 49-Jährige Popfans. Ich habe den Song auch gekauft.
Der Konsensfaktor von „Cold Heart“ bietet dabei auch die Bestätigung meiner alten These, dass man in der Popmusik das Neue wieder-erkennt - wir kennen das und können uns doch zunicken: „Das ist fresh! Dua Lipa Ey!“ und gleichzeitig denken wir „Jaja damals, der Elton John.“ (Das geht sogar so weit, dass man bei beiden beiden Versionen meint, „Coco-Heart“ zu hören, obgleich die Lyrics nominell„cold cold heart“ lauten.) Wenn Nostalgie früherer, sorgenfreier Popmusik also in heutigen Netzwerken gepflegt wird, bringt das Post-Charts-Hits hervor. Die Frage, ob jemals jemand „Peter Frampton comes alive“ gehört hat, muss aber auch heute unbeantwortet bleiben.