Schlager und Schlager-Ränder

10 Jahre "Atemlos": Folge 02

10 Jahre "Atemlos" - das muss gefeiert werden! Der Popticker stellt sich die Frage: Was wäre, wenn Helenes Fischers Signature-Song das Aushängeschild ganz anderer deutschsprachiger Popacts wäre? Folge 01: Wie klängen die Lyrics, wenn "Atemlos" ein Song von PeterLicht wäre?

Atemlos

von PeterLicht

 

Was wir früher Disko nannten, nennt man heute Club

Und da ziehen sie dann hin, die Rentner-Renitenten

mit ihren Doppehaushälftennachbarn im Trupp

und schämen sich für ihre Arschgeweihe der 90er

 

Die wissen nicht, was zwischen ihnen ist,

die, zwischen die ein ganzer Stapel Druckerpapier passt

Und deren Blicke sagen: Eure Zeit ist vorbei

 

Nasenspray-Junkies der Nacht

Sie schlafen bis ein neuer Tag erwacht

Atemlos einfach raus

Das ist nicht unsere Zeit

 

Nasenspray-Junkies der Nacht

Sie schlafen bis ein neuer Tag erwacht

Atemlos einfach raus

Das ist nicht unsere Zeit

 

Die, die in Fonds investieren, halten sich für ewig, Tausende Konten Glücksgefühle

nicht einmal spüren, was sie sind, sie teilen nicht

Das billige Bild des Hamsterrades und die Phillip-Starck-Pfeffermühle

Komm nehmt Eure Hände in die Hand und schleicht Euch

 

Vom höchsten Dach auf der Welt, sieht man Wolken trotzdem noch von unten

und all die Farben ergeben trotzdem keine richtig bunten

Rahmen im Rahmen ihrer Ramen-Restaurants

Wo sie auch keine Fallschirme haben, auch wenn das oft behauptet wird

 

Alles, was ich will, ist da

Große Freiheit verwässert den Genuss

Nein, wir wollen hier nicht weg.

Denn nicht ist hier perfekt

 

Nasenspray-Junkies der Nacht

Sie schlafen bis ein neuer Tag erwacht

Atemlos einfach raus

Das ist nicht unsere Zeit

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Postironie

Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.16.52 ::: neue Singles von Newcomern ::: Der britisch unterkühlte Soul oder RnB oder beides unterspült nach und nach den globalen Pop mit seiner postironischen Dancebarkeit und seiner 90er-Attitüde. Nicht nur im Hyper-Minstream kommen die Popentwürfe von Rita Ohra (aus dem Kosovo, heute in London ansässig) oder Dua Lipa (aus Albanien, heute in London ansässig) an, jetzt geht das los, dass diese von noch jüngeren Künstlerinnen nachgebaut und eigen-variiert werden. Womit wir bei Leonora wären, eine junge Wuppertalerin, die mit dem heutigen Erscheinen ihres Songs „Mamas Favourite“ eine 5-Track EP komplettiert - und dieser neue Song ist mitreissend funky und zeitgemäss produziert - gute-Laune-Uptempobeat-Soul wie eine Schwebebahn - prima. ::: YouTube Audio Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.17.33::: Eine merkwürdige Härte sucht Fahrlænd, das Projekt des Sängers und Musikers Daniel Fahrländer. Er sucht diese Härte aber nicht mit den Soundmitteln des Rock, sondern mit denen des Elektropops. Verzerrte Synthieflächen, stolpernde Beats und etwas nöliger Gesang prägt seine neue Single „kaputt“; die mit dem O-Ton des Meme gewordenen Tischzertrümmerers Nikel Palat beginnt: „… und deshalb mache ich jetzt diesen Tisch hier kaputt“ - ein wenig hinkt der Song selber dann der Wut des ehemaligen Ton-Steine-Scherben-Managers Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.18.04 hinter her - und dennoch denkt man: Alles, was diese Musik erreichen möchte, ist, so weit man das beurteilen kann, gut in die Tat umgesetzt, aber ich kann mit dieser Tat nicht so viel anfangen; ausser vielleicht zu rufen: Ironie kann manchmal auch Spass machen. ::: YouTube Video ::: Würden Scooter einen Song namens „Kaffkiez“ machen, würde HP Baxxxter wahrscheinlich „How much is the Kiez in diesem Kaff?“ rufen. Fraglich, ob das funktionieren würde, aber es ist eben auch umgekehrt: Die Band Kaffkiez hat einen Song namens „Scooter“ gemacht, in dem die Zeile „Kommst eh nicht lebend raus sagte Scooter irgendwann“ vorkommt, und mit diesem Scooter könnten tatsächlich die Techno-Ruf-Formation „Scooter“ gemeint sein. Davon unabhängig ist der Song aufbauend - ohne viel Ansprüche, was irgendwie eine sympathische Attitüde ist: „Es ist ok wie es ist .Ich hab vor morgen manchmal Schiss. Das ist ok. Keine Sorge ich komm klar. Bin ab Bildschirmfoto 2023-10-07 um 23.18.52morgen wieder da. Doch bin ok“; der komprimierte Poprocksound, der hier den Ton angibt könnte für meinen Geschmack etwas ruppiger sein, aber das ist eine sympathische Band. ::: YouTube Video ::: Und dann noch mal recht klassischer Deutschpop. Mh, nee. Deutschrock. Was aber ist Deutschrock? „Ich hänge mich auf an Deiner Welt“, singen farbfilter. zu klassischem Rockriff - auch hier kann man nicht anders, als die Band, die diesen Song „Schwarzer Sommer“ spielt, mögen - wenn es solche nicht mehr gibt, kann man alles Andere auch bleiben lassen, auch wenn ehrlich sagen muss: Dieser schwarze Sommer setzt sich mir nicht im Ohr fest. Aber da höre ich weiter hin, wenn was mit diesem Farbfilter daher kommt. ::: YouTube Video :::


Reissverschluss klemmt - was heute erscheint

L7_Bqq3ADie Freitagskolumne /// Die Wohnung als solche oder die nach einer Bleibe ist natürlich ein fester Topos im Setzkasten der Poplyrik; weil das Dach über dem Kopf, ohne dass man etwas dafür tun muss, mithin allegorisch ist: Wo soll ich hin? Wo bin ich zuhause? Solche Fragen sind gestellt, wenn ich die Wohnung auch nur erwähne. Insofern nimmt es nicht wunder, wenn Julia Kautz, ihres Zeichen langjährige und erfolgreiche Deutschpop-Songwriterin, auf eben diesen Kniff zurück greift und den Text ihrer zweiten Solosingle „kaputt“ so beginnt: „Eine Zweiraumwohnung mit einer Einbauküche ist das Verliess der düsteren Gedanken“; dazu hören wir glasklare Synthieflächen und simplen Gesang - weit und breit kein Verließ und keine düsteren Gedanken. Das macht aber ja auch nix: Eine Musik-Text-Schere kann ja sehr produktiv sein, aber hier kommt nicht so recht Wind in das Lied, das auch immerhin kaputt heißt, ohne irgendwo kaputt zu sein. Da Julia Kautz aber aber eben gewieft genug ist, Sprachbilder für Popsongs zu kreieren, die zwar naheliegend sind, aber dennoch Räume eröffnen, merkt man nicht, dass dieser Song wohl ein wenig langweilig ist - und genau in diesen Widersprüchlichkeiten ist das Ganze dann doch wieder spannend oder macht jedenfalls Lust darauf, weiter zu verfolgen, was diese Sängerin noch so veröffentlichen wird. GhnnY7Ly/// Was Julia Kautz an Professionalität und Erfahrung mitbringt, kann Rahel, aus Wien, so nicht vorweisen, aber das ist vielleicht auch ganz gut so: Ihr in den 80ern, Austropop und Indierock gebadeter Soundentwurf lebt zumindest auf ihrer heute erscheinenden Single „Schaffner“ von einer gewissen Wuschigkeit, die sich ihrerseits aus einer gehörigen Portion Naivität speist. Mir gefällt das sehr gut; der Song klingt anfangs zumindest sehr nach Mia Diekow und ihrem fantastischen Album „Ärger im Paradies“ (kleine Randnotiz *), dann aber hört man auch sehr Wien und Pop aus Bilderbuch aufscheinen: „Siehst du jetzt wie gut es ist / Dass du doch noch geblieben bist / Das Tischtuch im Speisewagen / Passt zu rosa Schnurrbarthaaren / Alle ham vergessen / Ob sie männlich oder weiblich waren / Den Strohhalm durchs Fenster / Einfach in das Meer hinein / Es ist gar nicht salzig / Es ist echter Veltliner Wein.“ - wunderbar getextet! /// In den 80ern gab es ja das Internet noch nicht, aber es gab Posterversandhändler, die den Preis für jedes Einzelposter verringerten, je mehr man bestellte, und daher gab man dann die Kataloge in der Schule rum. Ein Subgenre der damaligen Postermotive waren die schicken Männer, die Autoreifen durch die Gegend trugen, wer immer so Bildschirmfoto 2023-09-08 um 11.30.51etwas bestellte, aber Ben Zucker, jene Kreuzung aus Helene-Fischer und Hans-die-weißen-Tauben-sind-müde-Hartz, hat sich nun an diese Autoreifen tragenden Männer erinnert und ist auf seinem neuen Album als Autoreifen tragender Mann zu sehen. Das Album heißt „heute nicht“, und es erscheint auch heute nicht, und auch nicht nächste Woche, sondern im Dezember, Weihnachtsgeschäft, ich hör Dir trapsen, aber der Titelsong „heute nicht“ erscheint tatsächlich heute nicht nicht, sondern erscheint heute. Und lässt Schlimmes erahnen: Zucker hat die restlichen Mikrokramm Rock aus seinem Schlagerentwurf gestrichen und klingt jetzt nur noch nach Bumm-Bounce; und mit diesen saudämlichen Texten („Seh ich auch dunkle Wolken am Horizont: Ist mir egal, heute nicht / Und wenn das Chaos auch immer näher kommt: Ist mir egal, heute nicht“), da hat man das Gefühl man hört einem Motivationstrainer bei der gesungenen Zusammenfassung seiner Show: „An einem Wochenende das Mindset für Dein Glück“ zu. Diese Musik ist wirklich entsetzlich. /// Herrlich bekloppt ist auch wieder der neue Song von Alexander Marcus: "Und keinen interessiert es, obwohl es wirklich brennt / Immer mehr Menschen erleben, dass ihr Reissverschluss klemmt" /// * Mia Diekow hat gerade eine Crowdfunding-Kampagne für ihr nächstes Album gestartet, dazu mehr in der nächsten Woche. /// Links: Website Julia Kautz /// Linktree Rahel /// Ben Zucker "heute nicht" /// Alexander Marcus "Reissverschluss klemmt" ///


Songs zum Sonntag /// 230423

Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.37/// „Lawine“ heißt der Song von Olliso, den der Berliner Musiker nun zusammen mit der Sängerin Chiara Innamorato veröffentlicht hat. Die Lawine des Liedes ist eine Gefühlslawine, die eben durch sprechen ausgelöst wird, sondern eben durch ein, durch dieses Lied: „Und deshalb sitze ich hier, zuhause an meinem Klavier, die Töne sprechen mit mir, Gedanken bei Dir.“ Das Lied handelt damit sozusagen auf zweiter Ebene von Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.48ebenso der Chance als auch vom Dilemma vieler Lieder des Deutschpop: Die Emotionalität wird sozusagen von erster Sekunde derart massiv behauptet, dass das Lied fast daran zerbricht, und wenn man dann nicht mehr hinterher kommt, enteilt der Song in den unendlichen Weiten des Kitsch. Wenn man aber hinterher kommt und mitgeht muss man gleichzeitig auch schmachten und könnte in Tränen ausbrechen. So ist „Lawine“ je nach Disposition des Hörers mal großartig, mal peinlich entrückt. /// Irgendwann habe ich auf diesem Blog mal den Begriff der Coverstabilität erfunden. Er meint, dass ein Song eine Form von Affinität mit sich bringen kann, von Anderen nachgespielt zu werden und Bildschirmfoto 2023-04-23 um 13.00.11eben auch in anderen Genres als dem des Originals zu funktionieren. Die Band „Jante“ hat sich nun des Hits „Lila Wolken“, im Original von Materia, Yasna uns Miss Platnum , angenommen und ihn als Folk- bis Country-Nummer eingespielt - samt Flanell-Hemd und Banjo. Bildschirmfoto 2023-04-23 um 12.59.30Die lila Wollen erweisen sich hier als eben coverstabil, das funktioniert wunderbar und wirkt souverän und melancholisch. Tolle Version eines tollen Songs einer tollen Band. /// Einen auf seine Weise recht merkwürdigen Popsong hat die Sängerin Anika Auweiler aufgenommen - merkwürdig weil der spacige Synthpop nicht zu der Interpretin passt: „Ich will mit Dir tanzen, Baby  heißt der Song und ist ein Selbst-Cover, das in vielerlei Hinsicht aus der Zeit zu gefallen zu sein scheint und genau deswegen in die Zeit passt, wenn man auch tanzen will. /// Kann man gleich hinterher  it will be alright“ von Carla Lina hören, das wirkt, als hätte jemand einen Jazz-Standard in einen britisch Tee-affinen Soul gehüllt. Carla Lina hat ein trotziges Timbre in der Stimme, mit dem man vielleicht gerne auch mal ein etwas tiefer gehenderen Song hören würde, aber „it will be alright“ ist schon alright. /// Video-Links /// < Lawine > /// < lila Wolken > /// < ich will mit tanzen, Baby > /// < i will be alright > ///


Ohren auf beim Deutschopopkauf

Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.28.57/// „Hier auf meiner langen Reise bist Du der einzige Passagier“, singt Poul Jacobsen in seinem Song, der auch „Passagier“ heißt. Klassischer Deutschpop könnte man im ersten Moment attestieren, aber hier hört man vor allem aber Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.18Rock durch, einen sehr basslastigen Sound-Teppich zudem, wie Indiepop, manchmal klingt PeterLicht so, auch wenn die doppelten Böden hier durch den Rocksieb gefallen sind. Jacobsen schickt dieses Lied einer EP voraus, die den sehr schönen Namen „ein Weg, der so nicht in den Büchern steht“ tragen wird, und auch wenn hier melodisch und lyrisch das Rad nicht neu erfunden wird, ist das Poprock mit einer sehr gesunden Mischung aus Melancholie, Wut und Understatement, das sehr in unsere Zeit passt. /// SOPHIA passt auch in unsere Zeit, in der sich der Schlager beim Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.30.01Deutschpop bedient und der Schlager sich den Deutschpop aneignet - irgendwo auf der Mittelspur der beiden Fahrwasser hat sich ein Subgenre herausgebildet; was erst einmal ein normaler Effekt der Popkultur ist: Scheinbar gegenläufige Phänomene graben sich gegenseitig das Wasser ab, nähern sich einander an, um dann schliesslich im eigenen Substil aufzublühen. So gesehen ist SOPHIA eine Art Kapitänin des neuen deutschen Schlagerpops: Ihre Einsamkeitsgassenhauer blähen Schlagertopoi wie Himmel, Ewigkeit, Kairos, behaupteter Kontrollverlust und so weiter mit den Verheissungen des Bubblegumpops auf: „Ich würde für dich tausend Sterne bewegen, ja, jeden Planeten / Die Erde soll beben / Ich will nur, dass du weißt / Du bist niemals allein!“ - so heißt es in dem Titelsong "Niemals Allein" ihres soeben erschienenen Debütalbums. Unter diesem lyrischen Empowerment liegt ein Soundteppich irgendwo zwischen Mark Forster und Helene Fischer, jedes Lied ist Uptempo gehalten und je nach Euphoriezustand als Ballade oder Eurodance zu antizipieren. Saugut gemacht und überragend öde. /// Da nimmt sich RAUHM einen ganz anderen Raum, obgleich man auch zu der Musik sagen könnte, dass sie sich aus zwei Quellen speist, die sich gegenseitig befruchten: Mit Mitteln des Cloud-Rap zieht RAUHM einen Deutschpopsong über Bildschirmfoto 2023-04-14 um 12.29.36das Wachsein in die epische Breite, die teils eine Breite erreicht, dass der Sing durchfällt. Dennoch: Zeilen, wie die, mit denen der Song „zwei Züge“ beginnt, muss man auch erst einmal schreiben können: „Wir reden übers wach sein /Pupillen werden weit. Zwei Züge später die Gedanken breit dann / Reden wir übers wach sein. Ich meine echte Worte. Sich nicht zu verlieren und jeden Satz auch so meinen.“ - das ist schon mehr als die low fruits allgemeiner Textbaukästen. /// Die neue Platte von „AnnenMayKantereit“ heißt „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ - und so klingt sie auch: Drei junge Männer sitzen bei sich. Ich kann damit nicht so viel anfangen, aber es ist natürlich völlig okay und gut und wichtig, dass es diese Band gibt: „Erdbeerkuchen, den musst Du mal versuchen.“ - wer kann da schon widersprechen? ///

Links /// < website > von SOPHIA /// und von AnnenMayKantereit /// Video von Poul Jacobsen /// Video von RAUHM ///


Myzel Schlager

Romano Volcano

Der Schlager breitet sich im Pop aus wie Myzel, wie eine Pilzkultur auf dem Käse. Vielleicht sind es die ökonomischen Zwänge, die, wenn man noch irgendwie durch Verkäufe von Tonträgern oder Ton ohne Träger Einnahmen generieren möchte, Musiker:innen dazu bringen, die potentiellen Schlagerhörenden mit ins Boot holen zu wollen. Aber gleichzeitig gibt es eine Sehnsucht, die Emotionslosigkeit hipper Genres zu überwinden und die Emotionskonzentrate des Deutschpop hinter sich zu lassen; dieses Deutschpops jedenfalls, der randseitige und konzipierte Einsamkeiten erfindet, um Emotionslücken zu generieren, die er dann selber schliessen kann. Und hinter all dem Hiphop, Deutschpop, Aprés-Ski- und Post-Biathlon-Pop, jenseits von hüftgoldenen Bildschirmfoto 2023-03-31 um 12.35.31Hurenhuldigungen, weit von Berlin und Hamburger Schulen gedeiht auf allen Seiten des Rheins der Schlager. Zu ihm kehrt nun auch Romano mit seinem neuen Album „Romano Volcano“ zurück und singt: „Wenn der Adler kreischt und die Wölfe heulen / Sich der Luchs und der Fuchs auf den Frühling freuen / Das ist der Schrei der Wildnis…“

Nun ist das Spiel mit Genres auch nicht gerade neu bei Romano - sein erster Hit im Hiphop-Stil handelte von Metal-Musik, der Titelsong seines vorletzten Albums,„Copyshop“, philosophierte vom originären Wert der Kopie und der Aneignung, und bevor er als Rapper bekannt wurde, gab es schon einmal eine Schlager-EP von ihm. Erwähnte neue Platte nimmt zwar Abschied vom Rap als Prämisse und dichtet sich in den ironisierten, urbanen Schlager, unterfüttert ihn aber von allen anderen Seiten mit Elektrobeats, Funk-Anleihen und merkwürdigem Blödsinn. Ein solch heterogenes Spiel mit Stilen und Zitaten funktioniert aber eben auch nur mit einer stabilen Erscheinungsfigur von Popstar, und Romano, der Köpenicker  mit Metal-Kutte und langen blonden Zöpfen, ist eigen genug, um all den komischen Ideen Herr zu werden und sie zu einem Album zu bündeln. Das führt aber auch dazu, dass man, wenn man nicht Fan von Romano ist, sicherlich nicht ausgerechnet mit diesem Album Zugang zum Werk dieses skurrilen Musikers findet. Im Rahmen dessen, was eine Romano-Platte sein kann, ist „Romano Volcano“ aber sicherlich ein Meisterwerk.


Brav kann schöner Widerspruch sein

Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.02.18/// „Hide & Seek“ ist die zweite Single der Münchner Sängerin Dimila - aber die erste unter diesem Künstlernamen, der zuvor Meela lautete. Das getragene Folk-Lied wird hier angegangen wie ein Jazz-Song und bekommt davon eine soulige Tiefe, derer die Stimme von Dimila auch gewachsen ist, zumal sie auch die Beiläufigkeit von Pop streifen kann, ohne ihren eigenen Song zu verraten. Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.05.26 Mögen Zeilen wie „Wrong direction, heading home / Physically in company / Being here alone / Even though it’s quite early / I drive into the unknown.“ auch nicht der lyrischen Weisheit letzter Schluss sein, so ist der Song dennoch eine Pop-Perle, und man darf bei der frisch getauften Dimila gespannt sein, was da noch so alles kommt. /// Andere Wiese, anderes Genres „Kicker Dibs“ machen astreinen Postpunk, der ja derzeit wieder angesagt ist, und sie veröffentlichen Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.02.41heute ihre neue Single "die Pointe". Hier geht’s nach vorne, auch wenn man Zeilen wie „Für ein kleines bisschen Liebe / Wär der Moment jetzt gerade nicht schlecht.“ in einem anderen musikalischen Genre verankern könnte, von Deutschpop bis Schlager wäre hier alles denkbar. Dadurch schimmert immer auch ein wenig Bildschirmfoto 2023-03-24 um 10.06.02Bravheit durch, aber vielleicht ist gerade dieser Gegensatz der Reiz. /// Naja, bisschen brav wirken auch „Schnaps im Silbersee“, aber eventuell liegt das am Namen, und der damti verknüpften Erwartung, dass man Schnaps-getränkten Partypop bekommt. Bekommt man irgendwie auch mit ihrer neuen Single „nichts mehr“ - aber er kommt lässig und im Reggae-Offbeat daher, und wer „Kunst ist voll mein Thema, ich geh ab zu Moritz Krämer:“ reimt, den finde ich sowieso erstmal gut. /// Leichter Tom-Beat, jazzige Gitarren-Licks, wenig Synthies - mehr braucht Peter Fox nicht für seine neue Single „weisse Fahnen“ - so reduziert hat er noch nie geklungen, sehr chillig, sehr trocken, sehr gut gemacht. /// Video-Links /// Dimila < hide & seek > ///Kicker Dibs < die Pointe > /// < Schnaps im Silbersee > /// Peter Fox < weisse Fahnen > ///


Fun-T-Shirt-Autor:innen

Angebliche Konzerte von Dieter Bohlen, das Ende von DSDS, sexistische Ausfälle - der Popticker rüttelt da mal paar Dinge gerade

Die anstehende Tournee von Dieter Bohlen hat einen sehr bescheidenen Namen: „Das größte Comeback aller Zeiten.“ - die große Suggestionsmaschine Pop, die zweifelsohne oft vom Behaupten der eigenen Angesagtheit lebt, überdreht hier in einen Superlativ, der, wenn er eine ironische Komponente hätte, sympathisch wäre, aber da Dieter Bohlen zu keinem doppelten Boden fähig ist, muss man hier schon von einem Mißbrauch der Marketingmittel von Pop sprechen. Denn Bohlen geht hier ja auf Tournee, er spielt Konzerte, und er behauptet seine Rückkehr als Musiker, was er de facto schon lange nicht mehr ist - er ist Star des Reality-TV. Sein letzter Hit liegt Jahrzehnte zurück, und was eine große Karriere ja tatsächlich ausmacht, den eigenen Sound einerseits zu bewahren und andererseits der Zeit gemäss zu variieren, das kann Bohlen nicht vorweisen: Sein musikalisches Gespür reichte gerade einmal 33794-dieter-bohlen-tour-2023-dresden-800x800für ein Jahrzehnt, als er mit Modern Talking Schlager in einer dem Englisch entlehnten Kunstsprache kreierte. Diesen Schlager wiederum lancierte er zwar mit einem der größten Coups der Popmarketinggeschichte, indem er dasselbe Lied stetig unbenannte und so aus einer mittelmässigen Idee um die 10 Hits heraus quetschte, eine Beständigkeit hat er in seinem Output jedoch nicht. Und alles, was er nach Modern Talking musikalisch erreichte speiste sich der Emotionsaufladung des Casting-Show-Prinzips: „We have a dream“ von den DSDS -all-stars oder „Take me tonight“ von Alexander Klaws oder „Irgendwann“ von Beatrice Egli waren Veröffentlichungen, die das Glücksversprechen von „Deutschland sucht den Superstar“ in musikalischen Produkten rückkoppelten.

Wirklich gespannt darf man sein, ob die Idee, Bohlen als Musiker zu vermarkten, überhaupt noch funktioniert - ob also genug Menschen Tickets für seine Konzerte kaufen. RTL hat ihm immerhin seine angestammte Plattform, DSDS, reumütig zurück gegeben - für die letzte Staffel der Superstarsuche (das Format wird dann eingestellt) hat man ihn noch mal in die Jury berufen, nachdem man ihn letztes Jahr gefeuert hatte. Und ganz in seinem Element hat er dort neben einigen seiner einstudierten Oneliner, die ihm Fun-T-Shirt-Autor:innen als Beleidigungen schreiben, eine Influencerin in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass man ihn auch direkt wieder rauswerfen könnte. Samir El Ouassil hat in ihrer gewohnt klugen Gedankenschärfe in dem Podcast mit Holger Klein letzte Woche beschrieben, dass das das Reality-TV-Format in den letzten Zeit eine Wandlung vollzogen hat: Wer rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend auskeilt, muss damit rechnen, aus diesen Shows zu fliegen - nachzuhören < HIER > . Das zwischenzeitliche Kaltstellen von Bohlen im letzten Jahr war bereits dieser Wandlung zuzuschreiben, aber ihn nun aus der laufenden Staffel zu nehmen, ist vermutlich schlicht unmöglich - dazu ist er in der Show einfach zu präsent.

Die Marketingmaschine läuft also, aber ob Menschen, die seine auswendig gelernten Punchlines lustig finden, auch ein Ticket kaufen, um „You’re my heart, you’re my soul“ ohne  Thomas Anders zu sehen und dabei ja auch hören zu müssen, ist zumindest der Frage würdig. Nach dem größten Comeback aller Zeiten jedenfalls ist Schluss mit lustig: DSDS wird dann wie gesagt Geschichte sein, und aus genannten Gründen dürften wir dann in Zukunft auch von Bohlen-Musik verschont bleiben.


Post-Atemlos

Wo steht Deutschpop? Eine Fragestellung anhand 5 heute erschienener Singles

Wenn man sich erinnert, wie sich die Neue Deutsche Welle in den 80ern selber zu Grabe trug, indem der Markt vollkommen Kometübersättigt wurde und man sich zudem dem Schlager anbiederte, kann man sich heute fragen, ob Deutschpop gerade an selbiger Schwelle steht - kurz davor im eigenen Hype zu ersticken; oder aber: Sich am erweiterten Schlagerentwurf im Post-Helene-Fischer-Atemlos-Zustand gesund zu stossen. Schaut man zum Beispiel auf die heutigen Charts, sieht man auf Platz 02 einen Song von Udo Lindenberg und Apache 207. Der Rocknroller und der Trap-Beat-Rapper finden für „Der Komet“ in der Schlager-Referenz einen gemeinsamen Nenner - auch wenn mich wahrscheinlich beide für diese Analyse erschiessen würden. Aber man kann das Ganze ja auch positiv sehen: Seit Helene Fischer Schlager zu Pop gemacht und Deutschpop sich in Silbereisen-Sphären entgrenzt hat, seit sogar Gangster-Rapper über psychische Gesundheiten sprechsingen, scheinen alle Genregrenzen Makulatur. LeyaUnd der leicht verschleppte Trap-Beat, der sogar Udo und Apache zusammen bringt, ist ein Kleister, der verschiedenste Einflüsse zusammen halten kann.

So auch die neue Single „neu verliebt“ der Newcomerin Leya Valentina (Videopremiere 20.01.23 um 19 Uhr < Hier >) - hier dient der dem Hip-Hop entlehnte Trap als flächiges Fundament für eine Ballade, auf der Valentina einerseits mit tremolofreier, breiter Stimme singt, als ginge es um Soul, während sie anderseits kurze Sprecheinwürfe dazwischen zieht („ist ja völlig klar“) - Aylivaheraus kommt ein Genrehybrid, der sowohl TikTok-affin als auch schlagerparadentauglich ist; und ich meine das durchaus positiv. Auf ähnliche Weise sucht Sängerin oder Rapperin AYLIVA die Schnittstelle zwischen Deutschpop in Schlagernähe und Trap-Rap von ums Eck - ihr Song „Sie weiß“ handelt von einer möglichen Trennung und streckt textlich auch die Hände in Richtung deutschsprachigem Soul. In Letzterem ist die Band „Ketzberg“ zuhause, deren Sänger Paul Köninger beim leider verstorbenen Roger Cicero in die Schule gegangen sein könnte - seine Intonation zumal auf der neuen Single Ketz„wenn ich sie seh“ - findet fast schon Jazz-Anleihen. Auch wenn das Songwriting vielleicht nicht ganz hinterher kommt, ist das ein Popentwurf, den ich sehr spannend finde. Deutlich rockiger geht es bei der Band „KICKER DIBS“ zu, deren Sound nun Dibstatsächlich nicht dem Schlager zuzuordnen ist - da bekomme ich nun selbst mit ganz viele Heribert-Faßbender-Vibes keine Überleitung hin; aber egal: Bei der Single "Son Gefühl" ist Sebastian Madsen zu Gast, und zusammen kommt dabei ein Song irgendwo zwischen Kraftclub und Mark Forster. Er handelt von einer gewissen Reizüberflutung in Zeitalter der sozialen Medien: „Ich hab da keine Meinung, ich bitte um Entschuldigung.“ - Videopremiere 20.01.23 um 18 Uhr < Hier >.

Was ich mit diesem Schnelldurchlauf durch diese samt und sonders heute erschienenen Lieder erzählen will, ist, dass der Deutschpop tatsächlich einerseits einheitlicher, gleicher wird und sich andererseits schon sehr breit aufstellt - an den Rändern passt so einiges noch rein. Und man weiß tatsächlich nicht, ob diese Verbreiterung der Ausweg aus einer Deutschpopkrise ist - oder wir erst an der Schwelle zu dieser stehen, weil der Markt implodieren könnte. Letzteres glaube ich eigentlich nicht, da, um einen Markt zum Implodieren zu bringen, erst einmal ein Markt da sein müsste, aber das ist ja fast nicht der Fall: Nie war es schwerer, als Musiker:in Geld zu verdienen, als heute - zumal wenn man neu hinzukommt. Das ist anders als bei der NDW, da konnte man mit paar Singles reich und berühmt werden.

 


Pop-Dienst nach Vorschrift

Der Mainstream-Deutschpop ist einfach wirklich gähnend langweilig

Bertolt Brecht war es, der in seinem „Lied von der Unzulänglichkeit“ zwar dazu aufrief, zwei Pläne zu machen, gehen täten sie jedoch beide nicht. Nun wollen wir sicherlich nicht Brecht mit Johannes Oerding vergleichen, da zöge jenseits von Äpfel und Birnen der heutige Popsänger sicherlich den Kürzeren, aber dennoch musste ich an die beiden Pläne aus der „Dreigroschenoper“ denken, als ich mir nun den Titelsong von Johannes Oerdings neuem Album „Plan A“ anhörte, denn was Pläne anbelangt zeigt sich Oerding deutlich weniger skeptisch: „Vielleicht ′n andrer Plan, ey / Was, wenn wir keinen hab’n? / Denn die Idee von Plan B Ist, dass Plan A funktioniert.“ - so erklärt sich also quasi, warum die Platte nicht „Plan B“ heißt, und ergänzt wird noch: „Wenn man nur einen Versuch hat, ist Plan B halt gar nichts wert.“ Okay, so weit so gut, aber diese Theorie des Plan A wird in eben diesem Lied so breit durch dekliniert, dass die ganze Geschichte sich irgendwann in die Tautologie mäandert. Nach 3 Minuten und 23 Sekunden will man laut rufen: Ja Johannes, ich hab’s kapiert.

Bildschirmfoto 2022-11-14 um 20.26.07Aber Deutschpop-Songs sind oft tautologische Mantras. Schon der Opener „Kaleidoskop“ nutzt DEN lyrischen Topos des Deutschpop schlechthin: Irgendwann. (Max Giesinger macht das noch penetranter, gefühlt jedes zweite Lied handelt von einem Irgendwo oder eben einem Irgendwann.) Und bei Oerding klingt das dann so: „Doch irgendwann, irgendwann / Fängt es an, sich zu verändern / Sommer im Dezember / Ja, dann, irgendwann.“  (Das dann auch noch gesungen auf die Melodie von „You’re my heart, you’re my soul“) Mit dem Irgendwann lässt sich eben sehr gut operieren, weil es noch nahe des Jetzt, nahe der Realität ist, aber Veränderung verheisst, Ausbruch aus dem Jetzt, aus der Realität, zu einem Zeitpunkt, den man nicht benennen muss - eben irgendwann. „Ha“, denkt man, „Und Kaleidoskop steht dann bestimmt allegorisch für DIE Veränderung, es ist die visuelle Übersetzung des Irgendwanns“, und wir ahnen dies, sehen es kommen, bevor Oerding es uns dann trotzdem noch mal erklärt: „Aus kalt und weiß wird heiß und rot / Und nichts bleibt gleich, Kaleidoskop“. Das ist alles so unfassbar eindeutig, dass man sich fragt, warum Oerding für solche Binsenweisheiten nicht mal seinen Steputat aufschlägt und stattdessen „Plan“ auf „hab’n“ oder eben „rot“ auf „Kaleidoskop“ reimt. Möglicherweise sind diese Stilblüten ja sogar Absicht - wenn es auch noch eindeutig gereimt wäre, würde uns die gähnende Abwesenheit jeglicher Doppeldeutigkeit noch beflissentlicher einlullen. Diese Lieder geben sich noch nicht einmal Mühe, so zu tun, als hätten sie interessante sprachlichen Bilder, alles verliert sich in der ersten Bedeutung, im Plan A einer Formulierung, im Plan A einer Melodie, im Plan A eines Arrangements.

Lediglich das dreisprachige Duett mit Zeynep Avci, „the Voice“-Teinehmerin aus Oerdings Team im Jahr 2021, zeigt, dass es auch anders ginge: „Stärker“ ist eine kitschig-triefende Synthieballade über den Schmerz einer zerbrochenen Beziehung; mit einem Text, der Pathos und Zweideutigkeiten zulässt und sich eben nicht in diesen lakonischen Null-Probleme-Texten suhlt, wo man immer denkt: Irgendwann ist dieses Album vorbei, und ich werde mich an nichts erinnern.