Tja, halt grad wichtig. Oder zumindest aktuell.

Fun-T-Shirt-Autor:innen

Angebliche Konzerte von Dieter Bohlen, das Ende von DSDS, sexistische Ausfälle - der Popticker rüttelt da mal paar Dinge gerade

Die anstehende Tournee von Dieter Bohlen hat einen sehr bescheidenen Namen: „Das größte Comeback aller Zeiten.“ - die große Suggestionsmaschine Pop, die zweifelsohne oft vom Behaupten der eigenen Angesagtheit lebt, überdreht hier in einen Superlativ, der, wenn er eine ironische Komponente hätte, sympathisch wäre, aber da Dieter Bohlen zu keinem doppelten Boden fähig ist, muss man hier schon von einem Mißbrauch der Marketingmittel von Pop sprechen. Denn Bohlen geht hier ja auf Tournee, er spielt Konzerte, und er behauptet seine Rückkehr als Musiker, was er de facto schon lange nicht mehr ist - er ist Star des Reality-TV. Sein letzter Hit liegt Jahrzehnte zurück, und was eine große Karriere ja tatsächlich ausmacht, den eigenen Sound einerseits zu bewahren und andererseits der Zeit gemäss zu variieren, das kann Bohlen nicht vorweisen: Sein musikalisches Gespür reichte gerade einmal 33794-dieter-bohlen-tour-2023-dresden-800x800für ein Jahrzehnt, als er mit Modern Talking Schlager in einer dem Englisch entlehnten Kunstsprache kreierte. Diesen Schlager wiederum lancierte er zwar mit einem der größten Coups der Popmarketinggeschichte, indem er dasselbe Lied stetig unbenannte und so aus einer mittelmässigen Idee um die 10 Hits heraus quetschte, eine Beständigkeit hat er in seinem Output jedoch nicht. Und alles, was er nach Modern Talking musikalisch erreichte speiste sich der Emotionsaufladung des Casting-Show-Prinzips: „We have a dream“ von den DSDS -all-stars oder „Take me tonight“ von Alexander Klaws oder „Irgendwann“ von Beatrice Egli waren Veröffentlichungen, die das Glücksversprechen von „Deutschland sucht den Superstar“ in musikalischen Produkten rückkoppelten.

Wirklich gespannt darf man sein, ob die Idee, Bohlen als Musiker zu vermarkten, überhaupt noch funktioniert - ob also genug Menschen Tickets für seine Konzerte kaufen. RTL hat ihm immerhin seine angestammte Plattform, DSDS, reumütig zurück gegeben - für die letzte Staffel der Superstarsuche (das Format wird dann eingestellt) hat man ihn noch mal in die Jury berufen, nachdem man ihn letztes Jahr gefeuert hatte. Und ganz in seinem Element hat er dort neben einigen seiner einstudierten Oneliner, die ihm Fun-T-Shirt-Autor:innen als Beleidigungen schreiben, eine Influencerin in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass man ihn auch direkt wieder rauswerfen könnte. Samir El Ouassil hat in ihrer gewohnt klugen Gedankenschärfe in dem Podcast mit Holger Klein letzte Woche beschrieben, dass das das Reality-TV-Format in den letzten Zeit eine Wandlung vollzogen hat: Wer rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend auskeilt, muss damit rechnen, aus diesen Shows zu fliegen - nachzuhören < HIER > . Das zwischenzeitliche Kaltstellen von Bohlen im letzten Jahr war bereits dieser Wandlung zuzuschreiben, aber ihn nun aus der laufenden Staffel zu nehmen, ist vermutlich schlicht unmöglich - dazu ist er in der Show einfach zu präsent.

Die Marketingmaschine läuft also, aber ob Menschen, die seine auswendig gelernten Punchlines lustig finden, auch ein Ticket kaufen, um „You’re my heart, you’re my soul“ ohne  Thomas Anders zu sehen und dabei ja auch hören zu müssen, ist zumindest der Frage würdig. Nach dem größten Comeback aller Zeiten jedenfalls ist Schluss mit lustig: DSDS wird dann wie gesagt Geschichte sein, und aus genannten Gründen dürften wir dann in Zukunft auch von Bohlen-Musik verschont bleiben.


Alben & Songs des Jahres

Bildschirmfoto 2022-12-14 um 11.32.02... wie immer unfassbar subjektiv und ebenfalls wie immer habe ich bei den Songs nur solche reingenommen, die nicht auf einem der Alben des Jahres sind. Nicht wie jedes Jahr habe ich in diesem Jahr als jemand, der nicht streamt, deutlich weniger Neues gehört als sonst, wodurch mir bestimmt tolle Musik entgangen ist - wie gesagt: Unfassbar subjektiv halt.

ALBEN

01 Florian Paul & die Kapelle der letzten Hoffnung / auf Sand gebaut < Huldigung >

02 M / Révalité < Link-Tree >

03 Katie Melua & Simon Goff / Aerial Objects < Playlist Youtube >

04 Ariane Roy / Medium Plaisir < Website >

05 Sona Jobarteh / Badinyaa Kumoo < Website >

06 Laura Veirs / Found Light < Bandcamp >

07 Tocotronic / nie wieder Krieg < Narrativer >

08 Tears For Fears / The Tipping Point < Poptickers Lob >

09 Maggie Rogers / Surrender < Website >

10 Nits / Neon < nicht nur Dutch Mountains >

SONGS

01 Camille / Humaine(Herbert Grönemeyer-Cover) < official audio >

02 Ka2 & Gabrielle / i natt < official audio >

03 Lana Del Rey / Did you know that there is a tunnel under Ocean Boulevard < official audio >

04 Herbert Grönemeyer / Deine Hand < video >

05 Fishbach / Masque D’Or < video >

06 S10 / De Diepte < ESC >

07 Camilla Cabello / Bam Bam < echt jetzt? >

08 Les sœurs Boulay / Les lumières dans le ciel

09 Dominique Fils-Aimé / Go Get It < video >

10 Deichkind / in der Natur < video >


Keine Angst vorm Scheitern: Happy Birthday Miley Cyrus

Diese Frau, braucht eigentlich nichts so Profanes wie einen Geburtstag, um 30 zu werden -

- denn ihr Lebensalter wird von popkulturellen Ereignissen markiert. Lebensjahre? Überkommene Vereinbarung von Boomern: Miley Cyrus war Hanna Montana, als sie 14 war, ein Disney-Teenie-Star in der fiktionalen Doku-Soap mit dem gleichen Namen, in dem eben jene Hanna Montana ein Doppelleben führte: Einerseits als tollpatschiger Teenie in der Highschool, als Teenie-Popstar zum Anderen. MileyDie Serie wurde so zur selbsterfüllenden Prophezeiung; denn dann hat Miley Hanna und Disney über Bord geworfen und sich mit lancierten Skandalen, einigen Alben und einer Abrissbirne ins Sein eines wirklichen Popstars katapultiert. Ihre vermeintlich zarte Popstimme chiffriert sie in alle Stile: Country, Synthpop, Prog und Rock - im Grunde ist ihr Popentwurf eine Subsumierung von sämtlichen Subgenres des Pop überhaupt und der Gesamtheit von sich, Miley Cyrus selber. Die große Kraft, die von ihrer Musik ausgeht, ist somit die völlige Abwesenheit jeglicher Angst, sie könne Scheitern. Und da Pop in erster Instanz vom Gelingen oder zumindest dessen Behauptung lebt, ist die Angst zu Scheitern dort eigentlich weit verbreitet. Ohne sie hat Miley das Ausprobieren zur Kunstform erhoben - zuletzt veröffentlichte sie einen Haufen Cover - von Billy Idol über Metallica bis Blondie. Dann denkt die Popwelt: Wer zur Hölle braucht die 432ste Version von „Nothing Else Matters“, aber es ist ihr egal. Und nackt ist sie auch ständig, und das ist ihr auch egal. Da kann man als Popticker nur Eines: Gratulieren.


Dieter, so nicht

Endlich: Das Ende von DSDS

„Take me tonight“, singt am 08. März 2003 Alexander Klaws im Finale der Show „Deutschland sucht den Superstar“ - und diese Zeile ist natürlich, wie man es dreht und wendet, unfassbarer Blödsinn. Man konnte es also wissen; und vielleicht hätte Anfang 2003 irgendjemand Größe beweisen müssen und dem eigentlichen Superstar dieser Show ins Gesicht sagen sollen: „Dieter, so geht das nicht“. Hat aber niemand. Und so konnte Bohlen dann also die historischen Irrtümer, er sei ein Poptitan und könne Englisch, im Fernsehen verlängern. Was viele vielleicht gar nicht mehr erinnern: An besagtem Abend erklang das „Lied“ „Take Me Tonight“ sogar gleich zweimal: Auch die zweite Finalistin Juliette Schoppmann musste diesen Quatsch singen, Sätze wie - nach bestem Gewissen übersetzt: „Oh Baby, wenn ich in Deine Augen sehe, fühlt es sich mir gut an.“ oder „Sag mir, dass ich dein bin, mach mich nicht blau.“ - und natürlich die Titelzeile: „Nimm mich heut nach, alles ist möglich.“

Immerhin konnte man sich vor 20 Jahren noch einbilden, es ginge um Popmusik, die Verheißung, Deutschland suche tatsächlich nach einem Superstar, konnte man mit einer schönen Portion Naivität noch glauben, und Bohlens letzter Hit war, als „DSDS“ startete, auch nur 16 Jahre her. Tatsächlich aber fand sich im Casten unbekannter Menschen ein emblematisches Schema für Popmusik im Privatfernsehen, und die Show „DSDS“ im Speziellen machte eine Entwicklung durch wie jüngst Streaming-Anbieter „spotify“: Von einer Plattform für Popmusik zum Content-Provider. Und anders als beispielsweise bei „The Voice Of Germany“ fand sich bei DSDS eigentlich kein Gewinner, der irgendeinen nennenswerten musikalischen Impuls gesetzt hätte. Man könnte eventuell Beatrice Egli nennen, deren Sieg im Jahre 2013 die Show für den Schlager öffnete und letztlich dem Schlager-Erfolg-Gatekeeper Florian Silbereisen als Juror den Weg ebnete. Aber die wenigen Teilnehmer:innen, über die man heute noch spricht, waren nicht die die jeweiligen Sieger (sieht man einmal von besagtem Klaws ab, der heute eine überraschend gute Figur als Winnetou in Bad Segeberg abgibt), sondern es waren die, die sich als bunte Vögel vermarkten liessen - ob sie nun wollten oder nicht. Man denke nur an den inzwischen ja leider unter sehr traurigen Umständen verstorbenen Daniel Küblböck, dessen verquerer und queerer Humor und Popentwurf noch heute erfrischend und auf seltsame Weise befreiend wirkt.

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DSDS-Titan Dieter Bohlen

Der Schmierstoff von „DSDS“ waren schon immer Emotionen, oder das, was das Fernsehen dafür hält, und die bekam man reichlich, weil Bohlen in dem gepflegten Irrglauben, er verstehe etwas von Pop, eine Form verbaler Demütigung von Kandidat:innen salonfähig machte, die man stillschweigend hinnahm wie sein verworrenes Englisch. Seine Allegorien, Stimmen zu umschreiben, fanden in einer Zeit, in der der Slogan „Geiz ist geil“ zur emblematischen Werbung wurde, einen substratigen Nährboden. Hätte sich die Show DSDS nicht diesem Botox-betankten Altherrenwitz in Camp-David-Shirts unterworfen, wer weiß, vielleicht hätte sich dann eine schöne Popsendung ergeben können, aber erst für die diesjährige 19. Staffel hat man ihn vor die Tür gesetzt, um nun also anzukündigen, ihn für die vorerst letzte Runde 2023 zurück zu holen.

Die Halbwertzeit der Popmusik, die DSDS hervor gebracht hat, war schon vor 20 Jahren überschaubar, und hat sich bis heute so sehr verkürzt, dass nun noch von Tausendstelwertzeit gesprochen werden kann. Dei Show karikiert sich nur noch selber, und da ist es eben auch kein Wunder, dass man dafür wieder Bohlen selber braucht. Das Aus für „Deutschland suche den Superstar“ ist eine gute Nachricht.


Zuckerreduziert

Die Liebäugeln mit Schlager ist als Kriterium auf der Suche nach Pop-Newcomer:innen angekommen

„Konstanze“, sagt Gordon Kämmerer zu seiner Schwester: „Lass uns doch mal n’ Schlagerhit machen, der dann viral geht.“ - ob er viral gehen wird, wissen wir nicht, aber was wir wissen, ist dass Konstanze Kämmerer sich von „Verhaltenstherapie“, wie sich ihr Bruder nennt, wenn er Popmusik macht, zu dem Schlagerhit hat überreden lassen: VerhaDer Song „Rote Rosen“ erscheint heute am 10. Juni, und sein Popentwurf siedelt irgendwo zwischen Catan, Andreas Dorau und Christian Steiffen - das sehr hübsche Promostichwort hierzu lautet: „New Wave Schlager“.

Ein zuverlässiges Trendbarometer ist nicht nur, wenn ein Untergrund-Phänomen in den Maistream wächst, sondern vor allem auch, wenn im Nachwuchs die Schnittstelle zwischen Indie-Whatever in den Mainstream gezielt gesucht und promoted wird. Und da nimmt es nicht Wunder, wenn auf einmal verschiedentliche Newcomer an den Schlagerrändern fischen, und es dort nicht immer trüb zu geht. „Geschwister“ jedenfalls, wie sich die Geschwister mit ihrem Lied „Rote Rosen“ nennen, unterwandern Euphorie und überbordende Emotionen mit einer gehörigen Portion Understatement. Ihr Schlager-Entwurf, wenn man ihn denn überhaupt so nennen will, findet zu allegorischen Zeilen: „Ist wie ein Strauch roter Rosen, Du stichst mich nieder.“ - nicht nur wechselt das angesungene Individuum von einer Sache zu einem Du, überhaupt spielen sich die Lyrics dieses versucht viralen Schlagerhits im Vagen ab (überhaupt ein Konzept im Pop von „Verhaltenstherapie“). Wenn der Song vorbei ist, bleibt ebenso vage, wohin Konstanze und Gordon damit wollen, und wie man es finden soll, aber in der Summe überwiegen bei mir die Sympathien für diese Fusion aus Nerdismus und Schlager.

FalkMit gänzlich anderer Gewichtung aber auch mit der letztlich irrigen Annahme, Schlager nachzubauen, geht der Sänger FALK seine Suche nach einem Popentwurf an. Er kommt allerdings auch mit einem Bein aus der NDW, wenn er Herbert Grönemeyers ersten Hit „Männer“ zitiert und im Songtitel die Frage stellt: „Wann ist der Mann ein Mann?“ - die Frage ist natürlich gestattet. Seine Idee, Schlager mit Rock zu unterwandern, ist zwar keineswegs neu und mit einem Vertreter wie Ben Zucker auch äusserst erfolgreich, dennoch merkt man der Musik von FALK an, dass er nicht von aussen konzeptioniert wurde, um an Gatekeeper wie Silbereisen vorbei zu kommen, aber dennoch reicht die mit Rock einher gehende Ironisierung von Gefühligkeit nicht aus, um Zeilen wie „Du bist die schönste Frau hier im Pub, lange Bein, Rock viel zu knapp“ eine Pop-Absolution zu erteilen. Wenn man also seine von Herbert übernommene Frage, Dagowann ein Mann ein Mann ist, stellt, so lautet bei dieser Single zumindest meine Antwort: 2022 sollte man als Mann sensibler dichten.

Ein im unterwanderten Schlager alter Hase ist Dagobert - man schaue sich nur noch mal seinen Auftritt im ZDF-Fernsehgarten mit seiner ersten Single überhaupt „zu jung“ an. Das war damals ultra-weird und nimmt sich heute völlig alltäglich aus - man merkt schon, wie aus Poprichtung nach der Schlagerwelt geschielt wird, während Helene Fischer und ihr Fahrwasser den dortigen Mainstream in Richtung Pop entgrenzt haben. Nun hat der schweizer Anzugträger auch schon wieder eine neue Langspielplatte im Rucksack, „Bonn Park“ wird sie heißen, und unabhängig Moritzdavon, dass so auch ein Kollege von mir heißt, und Dagobert sein Album in diesem Sinne auch „David Gieselmann“ hätte nennen können, ist die erste Single „Ich will ne Frau, die mich will“ so etwas wie eine Rückkehr zum Sound von „zu jung“, nachdem die letzte Platte recht darker Synthwave war. Gut, aber im Falle von Dagobert bin ich nicht neutral da Fan.

Der junge Osnabrücker Moritz Ley verortet sich und seinen Popentwurf, dem man freilich schon kaum mehr Schlager unterstellen möchte, dennoch im selben Spannungsfeld des Dabobert, irgendwo zwischen gefühligem Deutsch- und wavigem Synthiepop. Der Song „Bei mir“, letzte Woche erschienen, zeigt dann doch, wie filigran die Trennungslinien zwischen Popmusik und der einst hermetischen Volksmusik, um einmal dieses nicht ganz stimmige Synonym zu bemühen, inzwischen sind: Da muss man ganz schön hinterher musizieren, um die Sache noch in deutschen Soul oder so zu biegen. Dennoch ein ganz interessanter Newcomer - erwähnte Single „Bei mir“ ist die Dritte des Osnabrückers, und der Popticker bleibt dran, wenn Weiteres erscheint ...

/// Links zu den Musikvideos /// Geschwister "Rote Rosen" /// FALK "wann ist ein Mann ein Mann?"  /// Dagobert "ich will ne Frau, die mich will" /// Moritz Ley "bei mir" ///


Style These

Endet mit dem neuen Harry-Styles-Album die Popgeschichte?

Gleich in der Lobby von Harry Styles neuem Album „Harry’s House“, können wir Sushi essen, denn der Opener heißt „Music For a Sushi Restaurant“. Er beginnt mit einer kreiselnden Synthie-Melodie mit schnipsend handclappendem Beat, worüber sich dann ein geschichteter „Ooooouh“-Chor crescendiert, der dann a-capella in ein „Bah Bah Bah“ mündet; dann setzt der Beat wieder ein, und wenn Styles schliesslich die erste Strophe singt und sich in der Folge das „Bah Bah Bah“ mit Bläsern aufgepumpt als Refrain entpuppt, ist das Album gerade mal 75 Sekunden lang gelaufen, und wir befinden uns mitten in einem Mix aus Justin Timberlake, Terence Trent D’Arby, Bruno Mars und Stevie Wonder und somit in den 70ern, 80ern, 90ern gleichzeitig. Und so geht das weiter: Bevor als vierter Song die schon bekannte „dancing with tears in my eyes“-Remiszenz „as it was“ erklingt, blubbert „Late Night Talking“ in den RnB der Nuller, während „Grapejuice“ mit seiner Indierock-Koketterie ein High-Five an Robbie Williams schickt.

Harrys-house

Sämtliche Popmusik ist heute ja heutzutage ohnehin nur einen Klick entfernt, und somit ist nur konsequent, dass in Harry’s Haus aller Pop drin ist. Und in dessen Zimmern verdichtet sich Alles zu 13 Liedern, die samt und sonders Hit-Potential haben. Viele Stile und alle wesentlichen Pop-Jahrzehnte fasst dieser Sänger also in einen eigenen Popsound, findet von Synthie zu Folk, von Soul zu Jazz und zurück zu Fun- und Funkpop. Niemals aber hört sich diese Musik bemüht oder ungewollt retro an, dazu sind die Melodien zu eigen, das Songwriting zu aktuell, die Produktion zu souverän. 

Die Art und Weise, wie hier alles mit allem in einen verqueren und queeren Popentwurf mündet, wie sich Widersprüchlichkeiten mit guter Laune und stetig catchy Hooks vertreiben lassen, lässt ebenso ratlos wie begeistert zurück. Begeistert, weil es für sich funktioniert, ratlos, weil mit diesem Album in gewissen Sinne auch die Popgeschichte zu einem Ende findet - „Harry’s House“ ist Synthese von sehr viel Pop. In jedem Falle hat man das Gefühl, jetzt muss wieder irgendwas wie Punk und Grunge um die Ecke kommen, irgendein Genre, das alle Erinnerung platt walzt und sich für nichts ausser sich selbst interessiert und nicht alles zu einem stylischen Brei verrührt. Styles singt ja selber: „You know it’s not the same as it was.“


Tränen in der Timeline

Die TV-Show „Sing meinen Song“

Da sitzen sie nun wieder in Südafrika, so Popstars, die man in Deutschland mehr oder minder kennt, und sie trinken alkoholische Getränke, hin und wieder steht jemand auf, und sie covern gegenseitig ihre Songs, danach fällt man sich traditioneller Weise in die Arme und beteuert, wie großartig diese Cover-Versionen waren. Die Rede ist von der VOX-Popsendung „Sing meinen Song - das Tauschkonzert“. Es ist dies zweifelsohne ein Popmusik-TV-Format, das funktioniert: Der Sampler, der pro Staffel entsteht, führt die Download-Charts an, und die aktuellen Alben oder Best-Ofs der Teilnehmer:innen verkaufen sich ebenso. 

Schlecht ist die Idee dieser Show ja auch nicht. Das Covern von Songs ohnehin zum emblematischen Prinzip in der Darstellung von Pop im Fernsehen geworden, weil im Coversong das Original und zwei Interpret:innen durch Reibungsverhältnisse sichtbar werden, und, wenn uns ein Element vertraut ist, auch schon ein Grundprinzip von Popmusik generiert wird, nach dem wir in ihr Neues wieder erkennen. Das Cover ist dadurch die Tür zum Pop - in Castingshows für unbekannte Sänger:innen, beim Tauschkonzert für Sänger:innen, die auch schon bekannt sein können oder es eben durch diese Sendung werden - siehe Gregor Meyle oder die zweite Karriere von Sarah Connor, die seit der Reise ins Cover-Ressort Südafrika Deutschpop singt. Zudem haben beim Tauschkonzert schon andere Interpret:innen mitgemacht als die üblichen TV-Pop-Nasen wie BossHoss, Mark Forster oder eben Sarah Connor - Wolfgang Niedecken war dabei oder Judith Holofernes, Mary Roos und Samy Deluxe.

An sich könnte das Ganze also eine unterhaltsame Sache sein. Leider potenziert die Show auch ein Phänomen, unter dem ihre beiden Leitmedien, Dokusoap und Deutschpop, auch schon im Einzelnen leiden - das Phänomen der Brechstangen-Emotionalität. Deutschpop funktioniert ja ohnehin schon für sich nach der Mark-Forster-Formel, Trost nicht für Trostbedürftige zu spenden, als vielmehr Menschen, die sich in gewisser Zufriedenheit eingelebt haben, das Gefühl und die Illusion zu geben, Trost gebraucht und dann eben auch schon bekommen zu haben. * Diese Musik füllt sozusagen ein Vakuum, das sie vorher erfolgreich behauptet hat, Sing-meinen-song-bossmit heisser Luft - was um Himmels Willen ja auch völlig okay ist. Aber wenn jetzt auch noch die realfiktionale TV-Dramaturgie hinzu kommt, die wiederum das Ziel hat, möglichst viele Teilnehmer:innen an was auch immer so oft wie irgend möglich zum Weinen zu bringen, dann wird es doch arg zweischneidig. Und am nächsten Tag steht dann in einer Online-Klatschblatt: „Tränen bei Clueso – Nach Lottes Auftritt herrscht andächtige Stille“, nun ja, das riecht schon nach inszenierter Authentizität par excellence.

Permanent heulen sich die Popstars in Südafrika also in die Arme, wenn sie ihre Lieder in anderem Gewand hören, und wenn sie dann erzählen, dass sie diesen oder jenen Song ja eben auch geschrieben hätten, als sie dieser oder jener Schicksalsschlag getroffen habe, auch wenn es sich dabei um ein Lied handelt, welches in Wirklichkeit ein Songwriting-Camp von sieben jungen Männern mit algorithmischen Prinzipien geschrieben hat, damit es auf Spotify funktioniert. Man sieht dann dabei zu und denkt sich: Wo kommen alle diese Gefühle her? Soll ich die jetzt auch haben? Oder man sieht nicht dabei zu und bekommt hin und wieder die Top-Meldungen, wer geweint hat, in die Timelines gespült.

* Selbstzitat: "Die Forster-Formel" < Hier >


Dynamit in meinen Händen

Ein paar Gedanken über den Rockschlager von Marina Marx, angesungene Dus und den Gatekeeper Silbereisen

„Sind das nicht die ungebremsten Höhenflüge? Die impulsiven Entscheidungen? Und legendären Fehler, auf die es im Leben ankommt?“ - das fragt sich - und uns - Marina Marx im Video zum Titelsong ihres Albums „der geilste Fehler“. Man sieht schon an dieser titelgebenden Fragestellung: Es ist dies der alte Affe Widerspruch der Schlagermusik: Enthemmung, Spontanität und Normabweichung wird glorifiziert mit gehemmten, unspontanen und genormten musikalischen Mitteln. Zu diesem dem Schlager innewohnenden Widerspruch kommt im Falle von Marina Marx noch ein weiterer hinzu: Tonangebendes Instrument im Sound ihrer Musik ist die Stromgitarre, und dennoch handelt es sich nicht Gitarrenmusik. Man könnte sogar eher konstatieren: Aufgrund dieses Dualismus im Klangbild wird Pop draus. Vielleicht ist ein wie auch immer gearteter Widerspruch gar konstatierend für Pop - „das Neue wieder-erkennen“ ist ja auch so einer. Diese Prämisse aber weiter gedacht hiesse dann sogar, dass Rockschlager „bessere“ Popmusik als Deutschpop ist - oder eben poppigere Musik als nicht widersprüchlicher Deutschpop á la Menschen, Leben, Tanzen, Welt - aber das nur nebenbei.

Bildschirmfoto 2021-08-10 um 09.05.38Erstaunlicher Weise ist der Schlager ja heutzutage auch offener und diverser als so manch anderer Popentwurf, und was die Songtexte betrifft, liegt dies vor allem an der vermehrten Verwendung des geschlechterneutral angesungenen „Du“. Marina Marx macht das auch so in besagt geilem Fehler. Es geht um einen anderen Menschen, und um das nicht ganz einfache Verhältnis zu diesem: „Du warst der geilste Fehler meines Lebens / Warst wie Himmel und Hölle / Wie Feuer im Regen / Du warst wie Dynamit in meinen Händen / Doch ich würd's wieder tun / Auch wenn ich weiß, du bist kein Engel.“ In dem Video ist das das Du zwar ein Mann, aber im Song selber wird das offen gelassen, und dieses offene „Du“ wird in 11 von 12 Liedern auf dem Album von Marina Marx um be- und angesungen, und immer auch ist dieses „Du“ als fatal, verstörend und zerstörerisch und gerade darin verführerisch beschrieben - fast könnte man sagen, „Der geilste Fehler“ ist ein Konzeptalbum über eine Liebe am Rande der toxischen Beziehung

Drittes Signature-Merkmal im Klang-Erscheinungsbild der Musik von Marina Marx ist der für den Schlager leicht raue Unterton in ihrer Stimme - auch hier kommt Rock durch. Überhaupt haben Röhre und E-Gitarre, beide Rock-Elemente also, ihr den Vergleich mit Ben Zucker beschert, der mit zwei Alben als das Flaggschiff des Rockschlagers gelten darf. Marx wie Zucker, tolle Nachnamenskombination übrigens, stehen in diesem Sinne auch für einen Schlager-Entwurf, der sich nach Deutschpop sehnt, und der es aus genannten Gründen mehr ist, als er glaubt zu sein. Deutschpop umgekehrt darf ja niemals zugeben, auch im Schlager Hörer:innen mitnehmen zu wollen - all die Giesingers, Bendzkos und Forsters suchen verzweifelte Sporen anderer Musikrichtungen. Das müssten sie im Übrigen gar nicht, denn der Schlager ist das letzte verbleibende Genre der Popmusik, das noch durch Gatekeeper beschützt wird: Die Fernsehshow. Wer bei Silbereisen auftritt, hat es geschafft.

Und wer es dorthin schafft, der macht - bei aller Offenheit, die der Schlager sich gibt - keine Musik, die wirklich abheben will. Die fatale Beziehung, Enthemmung, Spontanität und Normabweichung sind Fiktion, eine Illusion in einer Entertainmentmaschinerie. Da helfen auch Sporen von Rock nicht.


Pop kuratieren - oder auch nicht

Mega-Sampler oder EPs - und was Future Trance mit Lena zu tun hat

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Klammheimlich hat sich in einschlägigen Album-Charts ein neues Darreichungsmodell von Popmusik ökonomisch etabliert: Der Mega-Sampler mit der Überwältigung durch Masse. In den aktuellen Top 20 finden sich gleich sechs Song-Sammlungen mit über 40 Titeln: Der Sampler zum Eurovision Songcontest zum Beispiel umfasst alle teilnehmenden Songs (okay, das sind „nur“ 39), auf den „Bravo-Hits“ waren ehedem schon immer viele Lieder, aber auf der neuen Ausgabe Bildschirmfoto 2021-05-28 um 15.50.20„Volume 113“ finden sich gleich 49 brandaktuelle Hits. Auf dem Sampler zur Fernseh-Show „Sing meinen Song“ finden sich 50 Cover, und den Rekord bricht „Udopodium“, der Tribute-Sampler zu Lindenbergs 75. Geburtstag mit sinniger Weise 75 Liedern. Und dann gibt es noch zwei neue Trance-Techno-Sampler mit jeweils 50 bzw. 61 Tracks. 

Die ökonomische Idee, die dahinter steckt, liegt auf der Hand: In Zeiten, in denen potentiell die gesamte Musik-Geschichte  für einen Abopreis per Stream einen Weg in die Ohren finden kann, muss mit Hörer:innen gerechnet werden, die nicht einsehen, für 10 Euro gerade mal 10 Lieder zu bekommen. 75 Udo-Lindenberg-Lieder kauft vielleicht auch, wer an sich nicht mehr Musik mehr kauft. Aber auf Sampler und Best-Of-Boxen mehr und mehr Songs zu packen ist wohl auch eine Entwicklung, die mit 75 Liedern auch schon an  ihrem Endpunkt angelangt sein mag. Hundert wären eventuell noch drin. Aber da müssen es dann schon die Stones sein. Oder Bowie oder Dylan. Noch mehr als 100 wäre dann spätestens irgendjemandes Gesamtwerk.

Bildschirmfoto 2021-05-28 um 15.50.45Eine Liste mit 60 Trance-Tracks wiederum, oder eine Bravo-Compilation mit 50 Hits sind Sampler gewordene Algorithmen, Spotify-Playlists die man für 9,99 € kauft - in gewisser Weise manifestiert sich hier eine neue Form des Popmusik-Sammelns - wer „Future-Trance 95“ hat und die 96 kauft, braucht nicht alle anderen 94 Folgen, um das Gefühl zu bekommen, die Mehrheit aktueller Future-Trance-Musik zu besitzen, denn 120 Tracks hat er ja schon. 

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Die umgekehrte Hoffnung hegt indes wohl Lena Meyer-Landrut: Dass nämlich Hörer:innen, die ihre Musik schon besitzen, vielleicht auch einmal streamen. Lena hat jedenfalls ihren Back-Katalog unter drei thematischen Aspekten zu Playlisten kuratieren lassen - „confidence“, „kind“ und „optimism“. Das Ganze ist ein recht hübsches Unterfangen, war aber mit der Löschung ihres gesamten Instagram-Bestands und dem Veröffentlichen eines Trailers zu „optimism“ vielleicht ein wenig over-promoted: Die Sängerin schürte damit natürlich die Hoffnung auf neue Musik, die dann aber eben enttäuscht wurde. Grundsätzlich ist die Idee des Kuratierens von Playlisten aber eine schön Strategie, dem Überangebot und der schieren Masse an Popmusik überschaubar scheinen zu lassen und eben nicht 75 Lindenberg-Songs auf einmal auf den Markt zu werfen. (Ich mache das mit meiner eigenen Musik auch und erstelle mir selber Playlisten zu „Bäumen“, „das Meer“ und tatsächlich auch „Optimismus“.) 

Selbst in die Veröffentlichung neuer Musik findet dieses Kuratieren als Gestus Einzug: Ein Gewinner der Corona-Krise ist als Pop-Release indes nämlich die EP, also das kurze Album, bei dem Künstler:innen zum Beispiel im Lockdown entstandene Popentwürfe rasch in die Tat umsetzen - als würde man eben zu einer Idee, Songs auswählen, ohne ein ganzes Album denken, machen und promoten zu müssen. (Zum Boom der EP schreibe ich nächste Woche etwas) - der Kurator als Kraft, welche künstlerische Energie in Bahnen lenkt und in einen Zusammenhang rückt. Tendenziell - wie gesagt - finde ich das eine schönere Strategie als Marktverstopfung mit Mega-Samplern. Ich weiß auch gar nicht, was Future-Trance ist.


Die Erosion der Charts

Schafft Transparenz! Pop-Charts haben mal Spass gemacht

Wenn man die aktuellen iTunes-Charts (Mittwoch den 17. März habe ich diesen Text angefangen) mit den offiziellen deutschen Albumcharts vergleicht, stellt man fest, dass sie zur Gänze unterschiedlich sind. Nehmen wir nur mal die Top 3: Auf iTunes finden sich die Drei Fragezeichen, Puccini mit Boccellli und ein völlig unbekannter Off-albumCountry-Star, in den „offiziellen Albumcharts“, was immer hieran offiziell ist, finden wir zweimal deutschen Rap sowie einmal Meta-Seemannsmusik. (Alle drei Charts-Neueinsteiger übrigens, die mit sieben Alben ohnehin die Top-Ten dominieren). Diese extremen Unterschiede sind derzeit ständig zu beobachten, und sie bilden einen Musikmarkt ab, in dem Menschen, die Musik runterladen, zur Gänze andere Musik hören, als solche die streamen, Vinyl kaufen oder noch andere Kauf-Vorlieben haben. Der Versuch in einem übergreifendem Marktsinn abzubilden, was in der Popmusik derzeit angesagt ist, ist zum Scheitern verurteilt und eine überkommenes Ritual aus alten Popzeiten. Der Markt ist so ausindividualisiert, dass ein Vergleich durch Listen gar keinen Sinn mehr macht. 

Konsequenter Weise rücken bei Streaming-Diensten andere Prinzipien in den Vordergrund. Die dortigen Listungen Itunesbilden das eigene, individuelle Hörverhalten ab - Selbst-Charts sozusagen. Diese Selbst-Charts vergleichen nicht mehr das Hörverhalten vieler sondern beschreiben das des Einzelnen für ihn. Natürlich kann man sich auch auf Spotify Charts anschauen, aber diese kann man mit Schiebereglern näher zu sich führen, indem man Hört-Ort, Zeitraum, Genres, Stimmungen und so weiter anhand seinen Interessen anpasst. So verkleinert sich mit Pop-Up-Menüs die Hörer:innen-Bubble bis hin zu erwähnten Selbst-Charts also, welche nur noch mein eigenes Hörverhalten kartografieren.

Natürlich aber analysiert Spotify das Hörverhalten seiner Nutzer:innen dennoch übergreifend und sicherlich auch mit dem ein oder anderen Tool, das der Idee von Charts ähnelt. Vor allem aber sucht man hier nach Parallelen: Nutzer, die dies und das gehört haben, haben auch dies und jenes gehört. Im gewissen Sinne sind das die eigentlichen Streaming-Charts, die Charts 2.0, denn diese JpcParallelen bilden das Herzstück des Online-Marketings, und beim Streaming inzwischen auch das der erwähnten Selbst-Charts. Um die Sache persönlicher zu gestalten, ernennt man diese Parallelen einfach zu Subsubgenres und gibt ihnen einen Namen - zum Beispiel „Escape-Room“, „K-Witch-House“ oder „Signum-Echo“. Diese Genres sind im musikalischen wie popkulturellen Sinne teils völlig absurd - unter ihnen können sich Metal wie Techno oder der neueste Schrei „Hyper-Pop“ subsumieren. Würde Amazon dieselbe Idee realisieren, würde, weil mehrere Menschen Einlegesohlen, Erotik-Krimis und Fimo-Knete gekauft haben, daraus eine Produkt-Kategorie kreiert werden, und man würde sie zum Beispiel „Chip-Crow-Objects“ nennen. Zu Ende des Jahres würde jeder Amazon-Kunde seine Selbst-Charts erhalten, laut derer er in den vergangenen 12 Monaten am meisten „Chip-Crow-Objects“ und „Sarry-Dots“ gekauft habe.

Anders als bei dieser absichtlich abwegigen Idee, verfolgt Spotify mit seinen individuellen Jahres-Resümees („Du hast in diesem Jahr 17 neue Genres entdeckt - weiter so“) eine Strategie: Die Hörerinnen werden gelobt und bekommen daher das Gefühl, aktiv ihren Musikgeschmack zu erweitern. Sicherlich stimmt das auch, aber sich dabei auf extra erfundene Subsubgenres zu berufen, die de facto keinen Sinn machen, ist doch schon recht abenteuerlich. Hier offenbart sich, dass es Spotify nicht um Musik geht, man muss sich wohl im Gegenteil davon verabschieden, dass der Streaming-Dienst ein Musik-Anbieter ist: So sehr auch Playlisten kuratiert, Hörverhalten kartografiert und Genres benannt werden, so sehr ist Spotify vor allem daran interessiert, dass man möglichst viel Zeit in ihren Datenströmen verbringt. Spotify verführt wie Facebook oder Instagram zu endlosem Scrollen.

Doch zurück zu den Charts: Wie könnten Listen darüber, was gerade am meisten angesagt ist, heute aussehen? Zu allererst müssten sie transparent werden, um sie wieder in Beziehung setzen zu können. Wer weiß zum Beispiel gerade, wie die aktuellen „offiziellen Single- und Albumcharts“ entstehen? Wikipedia sagt dazu Folgendes: „Zurzeit umfasst das Portfolio rund 2.500 Anbieter, die eine für die Chartermittlung hinreichende Meldung abgeben können. Neben dem Einzelhandel oder Onlineanbietern, können auch spezielle Vertriebsformen (Download, Großhandel, Streaming oder Teleshopping) ihre Berücksichtigung finden, wenn sie den Direktverkauf am Endkunden statistisch erfassen und melden können. Über die Teilnahme am Panel entscheiden Prüfungsbeauftragte.“ - tja, was heißt das nun? Was machen diese Charts für einen Sinne, die keine Sau begreift? Oder: Was bilden die wichtigsten Downloads-Charts auf iTunes ab? Welchen Zeitraum? Warum ist ein Lied dort auf Platz eins? Weil es in der letzten Stunde oft gekauft wurde? Innerhalb der letzten 24 Stunden? Keiner weiß es, und wenn die Charts abbilden sollen, was angesagt ist, man aber gar nicht weiß, wodurch die Behauptung entsteht, es sein angesagt, was macht das dann noch für einen Sinn.

Die einzigen Charts, von denen ich weißt, wie sie entstehen, sind die Album-Charts des auf Vinyl spezialisierten Versandhändlers JPC - sie werden täglich gegen 10 Uhr aktualisiert, hat man mir auf Anfrage mitgeteilt. Derzeit auf Platz 1: „Pink Floyd live in Knebworth 1990“.

Hinweis: die Abbildungen sind Screenshots der "offiziellen Albumcharts", der "iTunes-Charts Albums" und den "JPC-Viny-Charts von 19. März 2021 um 10 Uhr