Tja, halt grad wichtig. Oder zumindest aktuell.

Wikipedia-Seemannsgarn

Der Popticker arbeitet sich einmal wieder an dem Phänomen "Santiano" ab

Der Shanty-Rock-Entwurf von Santiano ist ein in sich so klar definiertes Sub-Sub-Genre mit gleichzeitigem Mainstream- und Erfolgsanspruch, das in seiner Praxis kaum mehr Spielraum für Veränderungen bleibt - die Band liefert linear und in stetem Zeit-Rhythmus ihr Patentrezept als Album ab, Dagegen kann man nicht viel haben, denn das Rezept hat sich nun mal bewährt, aber für Bildschirmfoto 2023-11-06 um 14.05.38den Aussenstehenden ist in diesem strengen Output kaum ein Unterschied zwischen den Alben auszumachen. Das ist auch im Falle von „Doggerland“ so, ihrer neuesten Platte - wieder hören wir Männerchöre und Mittelalter, Hardrockanleihen und Folkarrangements. Erstaunlich an dem Santiano-Konzept ist dass dessen starrer Popentwurf seinen Authentizitätsanspruch aus der Vorstellung generiert, hier seien Musikanten am Werk, deren Anspruch und Könnerschaft es ist, dies diese Musik hervor bringen. Komponisten und Texter der Lieder der aBand sind aber vielbeschäftigte Songschreiber und Produzenten, die zumeist aus den Schlager und dem Mittelalterrock stammen und einer Band wie Santiano die Lieder auf den scheinbaren Seemansleib schreiben. An der Idee Santiano ist also an sich nichts authentisch und alles männlich.

Doggerland ist im Übrigen ein Gebiet im Nordsee-Becken, das heute überflutet ist - früher aber als Landzunge das Jütland mit Großbritannien verband. Sein mythisches Potential erkannten nicht erst die Song- und Schlager-Schreiber von Santiano sondern in der Vergangenheit auch immer wieder nationalsozialistische Ideologen, die in jenem Doggerland die Urheimat der Germanen phantasierten. Damit will ich nun nicht der Band Santiano nationales oder gar rechtes Gedankengut unterstellen, aber wenn ein paar googelende Texter für Santiano dies hier dichten: „Ich war in Doggerland / Und ich sah seinen Untergang / Jeden der dort verschwand / Hab’ ich gekannt / Ich war in Doggerland / Tief versunken im Nordseeschlamm / Dort liegt das Doggerland“ - dann hätte sich schon einer von diesen dichtenden Männern überlegen können, jegliche ideologische Vereinnahmung mit ein paar Zeilen zu unterbinden. Dass das besungene Doggerland nun anschlussfähig in alle Richtungen in den Tiefen der Nordsee versunken liegt, erscheint mir ein wenig naiv - das müsste nicht sein. Aber statt sich des riskanten Fahrwassers, in das man sich hier begeben hat, bewusst zu sein, geht man lieber kein ökonomisches Risiko ein, potentielle Hörer:innen zu verprellen, deren Weltbild man vielleicht nicht gerade teilt.


Das Ohr auf Deutschpop werfen - Folge 27

Bildschirmfoto 2023-10-05 um 12.17.55/// Anfang der Nuller sprach man auf einmal vom so genannten Freak-Folk, eine Popspielart, die den Folk mit Sound-Verheissungen von Indiepop und -rock ausmalt, die Stille suchte und Ablenkungen von Seichtheit fand. Irgendwie erinnert mich zunächst dass Debut-Album „Bitte Flieg“ des Songschreibers, Sängers und Multi-Instrumentalist „Lucito“ an diese Folkmusik: Zerbrechliche Songs über Einsamkeit, stille Töne über Verwirrungen, und plötzlich dann doch funky Einlagen, Rap-Parts, satte Bläser und Rock-Elemente, so dass die Musik fast in Jazz-Hiphop kippt. Ein reichhaltiges, unterhaltsames, virtuoses Album, dem vielleicht ein klein wenig der Signature-Hit fehlt, der eine Ohrwurm, der das Ganze einen Rahmen zur Erinnerung im Ohr verzahnt; aber also das ist wirklich Kritik auf sehr hohem Niveau. /// https://lucito-musik.de/ /// Bildschirmfoto 2023-10-05 um 11.33.24Joachim Witt hat zur NDW-Zeiten angefangen und diesem Subgenre der 80er einige höchst merkwürdige Hits abgerungen - „Der Weg in die Ferne“, „Kosmetik“ und vor allem natürlich „Goldener Reiter“ (welcher gerade erst wieder durch ein wunderbares Cover der Crucci Gang auf Trab gebracht wurde.) Man könnte sich gut vorstellen, dass Witt mit dieser Ironie-Attitüde auch 2023, da viel NDW-Elemente Bildschirmfoto 2023-10-05 um 12.07.51wiederkommen, einen Platz im Pop finden könnte, aber statt dessen versucht er sich seit einiger Zeit an einem poppigen Hardrock, der mit sturem Ernst einen darken Mittelalter-Ton sucht - komischer Versuch; und wahnsinnig enervierende Musik, die dabei rauskommt. So auch auf dem neuen Album „Der Fels in der Brandung“, auf dem Witt  als Wiedergänger von dem Grafen von „Unheilig“ daher kommt. Dumme Musik. /// http://joachimwitt.de/ Zwischen Pianopop und Bildschirmfoto 2023-10-05 um 12.14.25urbanen Schlager findet das erste Solo-Album von Rosenstolz-Sängerin AnNa R keinen rechten Halt und sitzt also zwischen Stühlen. Die Naivität, die hin und wieder aus der Verhinderung von Bombast spricht, hat teils Charme, aber das reicht nicht, um diese in der Summe eintönigen Lieder interessant zu machen; Hörer werden sie bestimmt trotzdem finden, und da muss man auch nix dagegen haben. /// https://www.anna-r.de/ /// Der breite Sound der Band karo nero ist fast Chamberpop, viele Musiker:innen hört man hier, viele Schichten von Pop und mehrere Stimmen. Auch hier fehlt vielleicht der überspannende Hit, aber in der Summe ist das Debut-Album „Zugvögel und Korallen“ in seinem immer nur fast kitschigen Popentwurf mit vielen Genre-Ausbrüchen und Zitaten das virtuose Zeugnis einer tollen Band. /// https://karo-nero.de/ /// 


Songs zum Sonntag /// 090723

Bildschirmfoto 2023-07-07 um 12.40.38/// „Eine ganze Jugend in vier Minuten - „Gekommen um zu Bleiben“ ist eine Hymne an gestern, heute und morgen. Kritisch, bewegend, euphorisch.“, so beschreibt die Band farbfilter ihren neuen Song, und selten können Bands ihre eigene Musik mit adäquaten Worten selber beschreiben, denn Bands haben ja ihre Musik, und um über ihre Musik zu sprechen, brauchen sie keine Worte mehr. „Gekommen um zu bleiben“, so hieß übrigens auch schon mal ein Song von „Wir sind Helden“, handelt von der „Generation Y, Kurt Cobain war längst begraben, und von überall bescheidene Musik“, skizzieren farbfilter, und die Musik von farbfilter ist in dem Fall marschierender Indierock, straight, tanzbar und mit einem Hauch Disko-Partizani. Nichts, was man hier zu hören bekommt, hat man noch nie gehört, aber so lange der Spirit stimmt, und das tut er, so lange kann auch lang Bewährtes toller Pop sein. Bildschirmfoto 2023-07-07 um 12.40.51/// „So Much“ ist der siebte Song, den Peter Gabriel von seinem neuen Album „i/o“ veröffentlicht hat - mindestens 4 sind also noch übrig, denn 11 neue Songs spielt er auf
seiner derzeitigen Tournee. Bislang also sieben, sieben Meisterwerke, anders kann man es als Fan nicht sehen. „So Much“ ist der bisher purste bislang, er bleibt ganz Klavierballade und lässt sich 3,5 Minuten, bis er sich ein wenig orchestral ausbreitet, mit Bläsern, die eine Bridge ergänzen, um sich dann wieder zurückzuziehen. Der Text ist eine poetische Assoziation über Alter und Sterblichkeit, „so much can be done“ singt Gabriel, aber wie er es singt, schwingt immer auch ein wenig das Gegenteil mit: Nicht alles, was getan werden könnte, muss auch getan werden; und es kann dennoch ein wenig in der Welt sein. Als wäre in dem, was man dennoch tut, vieles von dem, was man nicht tut, enthalten. Vielleicht ist das auch das Credo dieses wundervollen Musikers, der sich 20 Jahre Zeit für ein Album genommen hat, das nun so erhaben geworden ist, weil er viele Alben auch nicht gemacht hat. Und auch wenn das überinterpretiert sein mag: Bildschirmfoto 2023-07-07 um 13.06.22„So Much“ ist ein derart nahe rückender Song, dass man ihn nicht so oft hintereinander hören mag, aufwühlend, so schön kann Popmusik sein. /// Olivia Rodrigo ist 50 Jahre jünger als Peter Gabriel, aber sie ist auch in der Lage Songs zu schreiben, die als reine Pianoballaden eine innere Spannung entfalten, die man auch erst einmal hinkriegen muss. Schon ihre Signature-Single „Drivers License“ ist ein fast Strophe und Refrain überwindendes Dreifach-Crescendo, und auch bei ihrem neuen Song „vampire“ macht sie das so: Als stürze sie sich zurück gezogen am Piano in Innerlichkeiten, das Lied handelt von einer Trennung, und als entlade sich dann jede Innerlichkeit in einen Wutausbruch, wenn das, was von einem Refrain übrig ist, sich so anhört: „the way you sold me for parts / as you sunk your teeth into me, oh / bloodsucker, famefucker / bleeding me dry like a goddamn vampire.“ - diese junge Songwriterin ist der Wahnsinn und kann nahe des Wahnsinns singen, „vampire“ könnte ein Tom-Waits-Song sein, aber mit der glasklaren Stimme der 23-Jährigen bekommt der ganze Furor eine Meta-Schönheit, die himmelhohen Pop draus macht.

/// Links /// gekommen um zu bleiben < Video > /// so much < audio > /// Vampire < video > & Piano-Version ///


Fun-T-Shirt-Autor:innen

Angebliche Konzerte von Dieter Bohlen, das Ende von DSDS, sexistische Ausfälle - der Popticker rüttelt da mal paar Dinge gerade

Die anstehende Tournee von Dieter Bohlen hat einen sehr bescheidenen Namen: „Das größte Comeback aller Zeiten.“ - die große Suggestionsmaschine Pop, die zweifelsohne oft vom Behaupten der eigenen Angesagtheit lebt, überdreht hier in einen Superlativ, der, wenn er eine ironische Komponente hätte, sympathisch wäre, aber da Dieter Bohlen zu keinem doppelten Boden fähig ist, muss man hier schon von einem Mißbrauch der Marketingmittel von Pop sprechen. Denn Bohlen geht hier ja auf Tournee, er spielt Konzerte, und er behauptet seine Rückkehr als Musiker, was er de facto schon lange nicht mehr ist - er ist Star des Reality-TV. Sein letzter Hit liegt Jahrzehnte zurück, und was eine große Karriere ja tatsächlich ausmacht, den eigenen Sound einerseits zu bewahren und andererseits der Zeit gemäss zu variieren, das kann Bohlen nicht vorweisen: Sein musikalisches Gespür reichte gerade einmal 33794-dieter-bohlen-tour-2023-dresden-800x800für ein Jahrzehnt, als er mit Modern Talking Schlager in einer dem Englisch entlehnten Kunstsprache kreierte. Diesen Schlager wiederum lancierte er zwar mit einem der größten Coups der Popmarketinggeschichte, indem er dasselbe Lied stetig unbenannte und so aus einer mittelmässigen Idee um die 10 Hits heraus quetschte, eine Beständigkeit hat er in seinem Output jedoch nicht. Und alles, was er nach Modern Talking musikalisch erreichte speiste sich der Emotionsaufladung des Casting-Show-Prinzips: „We have a dream“ von den DSDS -all-stars oder „Take me tonight“ von Alexander Klaws oder „Irgendwann“ von Beatrice Egli waren Veröffentlichungen, die das Glücksversprechen von „Deutschland sucht den Superstar“ in musikalischen Produkten rückkoppelten.

Wirklich gespannt darf man sein, ob die Idee, Bohlen als Musiker zu vermarkten, überhaupt noch funktioniert - ob also genug Menschen Tickets für seine Konzerte kaufen. RTL hat ihm immerhin seine angestammte Plattform, DSDS, reumütig zurück gegeben - für die letzte Staffel der Superstarsuche (das Format wird dann eingestellt) hat man ihn noch mal in die Jury berufen, nachdem man ihn letztes Jahr gefeuert hatte. Und ganz in seinem Element hat er dort neben einigen seiner einstudierten Oneliner, die ihm Fun-T-Shirt-Autor:innen als Beleidigungen schreiben, eine Influencerin in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass man ihn auch direkt wieder rauswerfen könnte. Samir El Ouassil hat in ihrer gewohnt klugen Gedankenschärfe in dem Podcast mit Holger Klein letzte Woche beschrieben, dass das das Reality-TV-Format in den letzten Zeit eine Wandlung vollzogen hat: Wer rassistisch, sexistisch oder anderweitig diskriminierend auskeilt, muss damit rechnen, aus diesen Shows zu fliegen - nachzuhören < HIER > . Das zwischenzeitliche Kaltstellen von Bohlen im letzten Jahr war bereits dieser Wandlung zuzuschreiben, aber ihn nun aus der laufenden Staffel zu nehmen, ist vermutlich schlicht unmöglich - dazu ist er in der Show einfach zu präsent.

Die Marketingmaschine läuft also, aber ob Menschen, die seine auswendig gelernten Punchlines lustig finden, auch ein Ticket kaufen, um „You’re my heart, you’re my soul“ ohne  Thomas Anders zu sehen und dabei ja auch hören zu müssen, ist zumindest der Frage würdig. Nach dem größten Comeback aller Zeiten jedenfalls ist Schluss mit lustig: DSDS wird dann wie gesagt Geschichte sein, und aus genannten Gründen dürften wir dann in Zukunft auch von Bohlen-Musik verschont bleiben.


Alben & Songs des Jahres

Bildschirmfoto 2022-12-14 um 11.32.02... wie immer unfassbar subjektiv und ebenfalls wie immer habe ich bei den Songs nur solche reingenommen, die nicht auf einem der Alben des Jahres sind. Nicht wie jedes Jahr habe ich in diesem Jahr als jemand, der nicht streamt, deutlich weniger Neues gehört als sonst, wodurch mir bestimmt tolle Musik entgangen ist - wie gesagt: Unfassbar subjektiv halt.

ALBEN

01 Florian Paul & die Kapelle der letzten Hoffnung / auf Sand gebaut < Huldigung >

02 M / Révalité < Link-Tree >

03 Katie Melua & Simon Goff / Aerial Objects < Playlist Youtube >

04 Ariane Roy / Medium Plaisir < Website >

05 Sona Jobarteh / Badinyaa Kumoo < Website >

06 Laura Veirs / Found Light < Bandcamp >

07 Tocotronic / nie wieder Krieg < Narrativer >

08 Tears For Fears / The Tipping Point < Poptickers Lob >

09 Maggie Rogers / Surrender < Website >

10 Nits / Neon < nicht nur Dutch Mountains >

SONGS

01 Camille / Humaine(Herbert Grönemeyer-Cover) < official audio >

02 Ka2 & Gabrielle / i natt < official audio >

03 Lana Del Rey / Did you know that there is a tunnel under Ocean Boulevard < official audio >

04 Herbert Grönemeyer / Deine Hand < video >

05 Fishbach / Masque D’Or < video >

06 S10 / De Diepte < ESC >

07 Camilla Cabello / Bam Bam < echt jetzt? >

08 Les sœurs Boulay / Les lumières dans le ciel

09 Dominique Fils-Aimé / Go Get It < video >

10 Deichkind / in der Natur < video >


Keine Angst vorm Scheitern: Happy Birthday Miley Cyrus

Diese Frau, braucht eigentlich nichts so Profanes wie einen Geburtstag, um 30 zu werden -

- denn ihr Lebensalter wird von popkulturellen Ereignissen markiert. Lebensjahre? Überkommene Vereinbarung von Boomern: Miley Cyrus war Hanna Montana, als sie 14 war, ein Disney-Teenie-Star in der fiktionalen Doku-Soap mit dem gleichen Namen, in dem eben jene Hanna Montana ein Doppelleben führte: Einerseits als tollpatschiger Teenie in der Highschool, als Teenie-Popstar zum Anderen. MileyDie Serie wurde so zur selbsterfüllenden Prophezeiung; denn dann hat Miley Hanna und Disney über Bord geworfen und sich mit lancierten Skandalen, einigen Alben und einer Abrissbirne ins Sein eines wirklichen Popstars katapultiert. Ihre vermeintlich zarte Popstimme chiffriert sie in alle Stile: Country, Synthpop, Prog und Rock - im Grunde ist ihr Popentwurf eine Subsumierung von sämtlichen Subgenres des Pop überhaupt und der Gesamtheit von sich, Miley Cyrus selber. Die große Kraft, die von ihrer Musik ausgeht, ist somit die völlige Abwesenheit jeglicher Angst, sie könne Scheitern. Und da Pop in erster Instanz vom Gelingen oder zumindest dessen Behauptung lebt, ist die Angst zu Scheitern dort eigentlich weit verbreitet. Ohne sie hat Miley das Ausprobieren zur Kunstform erhoben - zuletzt veröffentlichte sie einen Haufen Cover - von Billy Idol über Metallica bis Blondie. Dann denkt die Popwelt: Wer zur Hölle braucht die 432ste Version von „Nothing Else Matters“, aber es ist ihr egal. Und nackt ist sie auch ständig, und das ist ihr auch egal. Da kann man als Popticker nur Eines: Gratulieren.


Dieter, so nicht

Endlich: Das Ende von DSDS

„Take me tonight“, singt am 08. März 2003 Alexander Klaws im Finale der Show „Deutschland sucht den Superstar“ - und diese Zeile ist natürlich, wie man es dreht und wendet, unfassbarer Blödsinn. Man konnte es also wissen; und vielleicht hätte Anfang 2003 irgendjemand Größe beweisen müssen und dem eigentlichen Superstar dieser Show ins Gesicht sagen sollen: „Dieter, so geht das nicht“. Hat aber niemand. Und so konnte Bohlen dann also die historischen Irrtümer, er sei ein Poptitan und könne Englisch, im Fernsehen verlängern. Was viele vielleicht gar nicht mehr erinnern: An besagtem Abend erklang das „Lied“ „Take Me Tonight“ sogar gleich zweimal: Auch die zweite Finalistin Juliette Schoppmann musste diesen Quatsch singen, Sätze wie - nach bestem Gewissen übersetzt: „Oh Baby, wenn ich in Deine Augen sehe, fühlt es sich mir gut an.“ oder „Sag mir, dass ich dein bin, mach mich nicht blau.“ - und natürlich die Titelzeile: „Nimm mich heut nach, alles ist möglich.“

Immerhin konnte man sich vor 20 Jahren noch einbilden, es ginge um Popmusik, die Verheißung, Deutschland suche tatsächlich nach einem Superstar, konnte man mit einer schönen Portion Naivität noch glauben, und Bohlens letzter Hit war, als „DSDS“ startete, auch nur 16 Jahre her. Tatsächlich aber fand sich im Casten unbekannter Menschen ein emblematisches Schema für Popmusik im Privatfernsehen, und die Show „DSDS“ im Speziellen machte eine Entwicklung durch wie jüngst Streaming-Anbieter „spotify“: Von einer Plattform für Popmusik zum Content-Provider. Und anders als beispielsweise bei „The Voice Of Germany“ fand sich bei DSDS eigentlich kein Gewinner, der irgendeinen nennenswerten musikalischen Impuls gesetzt hätte. Man könnte eventuell Beatrice Egli nennen, deren Sieg im Jahre 2013 die Show für den Schlager öffnete und letztlich dem Schlager-Erfolg-Gatekeeper Florian Silbereisen als Juror den Weg ebnete. Aber die wenigen Teilnehmer:innen, über die man heute noch spricht, waren nicht die die jeweiligen Sieger (sieht man einmal von besagtem Klaws ab, der heute eine überraschend gute Figur als Winnetou in Bad Segeberg abgibt), sondern es waren die, die sich als bunte Vögel vermarkten liessen - ob sie nun wollten oder nicht. Man denke nur an den inzwischen ja leider unter sehr traurigen Umständen verstorbenen Daniel Küblböck, dessen verquerer und queerer Humor und Popentwurf noch heute erfrischend und auf seltsame Weise befreiend wirkt.

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DSDS-Titan Dieter Bohlen

Der Schmierstoff von „DSDS“ waren schon immer Emotionen, oder das, was das Fernsehen dafür hält, und die bekam man reichlich, weil Bohlen in dem gepflegten Irrglauben, er verstehe etwas von Pop, eine Form verbaler Demütigung von Kandidat:innen salonfähig machte, die man stillschweigend hinnahm wie sein verworrenes Englisch. Seine Allegorien, Stimmen zu umschreiben, fanden in einer Zeit, in der der Slogan „Geiz ist geil“ zur emblematischen Werbung wurde, einen substratigen Nährboden. Hätte sich die Show DSDS nicht diesem Botox-betankten Altherrenwitz in Camp-David-Shirts unterworfen, wer weiß, vielleicht hätte sich dann eine schöne Popsendung ergeben können, aber erst für die diesjährige 19. Staffel hat man ihn vor die Tür gesetzt, um nun also anzukündigen, ihn für die vorerst letzte Runde 2023 zurück zu holen.

Die Halbwertzeit der Popmusik, die DSDS hervor gebracht hat, war schon vor 20 Jahren überschaubar, und hat sich bis heute so sehr verkürzt, dass nun noch von Tausendstelwertzeit gesprochen werden kann. Dei Show karikiert sich nur noch selber, und da ist es eben auch kein Wunder, dass man dafür wieder Bohlen selber braucht. Das Aus für „Deutschland suche den Superstar“ ist eine gute Nachricht.


Zuckerreduziert

Die Liebäugeln mit Schlager ist als Kriterium auf der Suche nach Pop-Newcomer:innen angekommen

„Konstanze“, sagt Gordon Kämmerer zu seiner Schwester: „Lass uns doch mal n’ Schlagerhit machen, der dann viral geht.“ - ob er viral gehen wird, wissen wir nicht, aber was wir wissen, ist dass Konstanze Kämmerer sich von „Verhaltenstherapie“, wie sich ihr Bruder nennt, wenn er Popmusik macht, zu dem Schlagerhit hat überreden lassen: VerhaDer Song „Rote Rosen“ erscheint heute am 10. Juni, und sein Popentwurf siedelt irgendwo zwischen Catan, Andreas Dorau und Christian Steiffen - das sehr hübsche Promostichwort hierzu lautet: „New Wave Schlager“.

Ein zuverlässiges Trendbarometer ist nicht nur, wenn ein Untergrund-Phänomen in den Maistream wächst, sondern vor allem auch, wenn im Nachwuchs die Schnittstelle zwischen Indie-Whatever in den Mainstream gezielt gesucht und promoted wird. Und da nimmt es nicht Wunder, wenn auf einmal verschiedentliche Newcomer an den Schlagerrändern fischen, und es dort nicht immer trüb zu geht. „Geschwister“ jedenfalls, wie sich die Geschwister mit ihrem Lied „Rote Rosen“ nennen, unterwandern Euphorie und überbordende Emotionen mit einer gehörigen Portion Understatement. Ihr Schlager-Entwurf, wenn man ihn denn überhaupt so nennen will, findet zu allegorischen Zeilen: „Ist wie ein Strauch roter Rosen, Du stichst mich nieder.“ - nicht nur wechselt das angesungene Individuum von einer Sache zu einem Du, überhaupt spielen sich die Lyrics dieses versucht viralen Schlagerhits im Vagen ab (überhaupt ein Konzept im Pop von „Verhaltenstherapie“). Wenn der Song vorbei ist, bleibt ebenso vage, wohin Konstanze und Gordon damit wollen, und wie man es finden soll, aber in der Summe überwiegen bei mir die Sympathien für diese Fusion aus Nerdismus und Schlager.

FalkMit gänzlich anderer Gewichtung aber auch mit der letztlich irrigen Annahme, Schlager nachzubauen, geht der Sänger FALK seine Suche nach einem Popentwurf an. Er kommt allerdings auch mit einem Bein aus der NDW, wenn er Herbert Grönemeyers ersten Hit „Männer“ zitiert und im Songtitel die Frage stellt: „Wann ist der Mann ein Mann?“ - die Frage ist natürlich gestattet. Seine Idee, Schlager mit Rock zu unterwandern, ist zwar keineswegs neu und mit einem Vertreter wie Ben Zucker auch äusserst erfolgreich, dennoch merkt man der Musik von FALK an, dass er nicht von aussen konzeptioniert wurde, um an Gatekeeper wie Silbereisen vorbei zu kommen, aber dennoch reicht die mit Rock einher gehende Ironisierung von Gefühligkeit nicht aus, um Zeilen wie „Du bist die schönste Frau hier im Pub, lange Bein, Rock viel zu knapp“ eine Pop-Absolution zu erteilen. Wenn man also seine von Herbert übernommene Frage, Dagowann ein Mann ein Mann ist, stellt, so lautet bei dieser Single zumindest meine Antwort: 2022 sollte man als Mann sensibler dichten.

Ein im unterwanderten Schlager alter Hase ist Dagobert - man schaue sich nur noch mal seinen Auftritt im ZDF-Fernsehgarten mit seiner ersten Single überhaupt „zu jung“ an. Das war damals ultra-weird und nimmt sich heute völlig alltäglich aus - man merkt schon, wie aus Poprichtung nach der Schlagerwelt geschielt wird, während Helene Fischer und ihr Fahrwasser den dortigen Mainstream in Richtung Pop entgrenzt haben. Nun hat der schweizer Anzugträger auch schon wieder eine neue Langspielplatte im Rucksack, „Bonn Park“ wird sie heißen, und unabhängig Moritzdavon, dass so auch ein Kollege von mir heißt, und Dagobert sein Album in diesem Sinne auch „David Gieselmann“ hätte nennen können, ist die erste Single „Ich will ne Frau, die mich will“ so etwas wie eine Rückkehr zum Sound von „zu jung“, nachdem die letzte Platte recht darker Synthwave war. Gut, aber im Falle von Dagobert bin ich nicht neutral da Fan.

Der junge Osnabrücker Moritz Ley verortet sich und seinen Popentwurf, dem man freilich schon kaum mehr Schlager unterstellen möchte, dennoch im selben Spannungsfeld des Dabobert, irgendwo zwischen gefühligem Deutsch- und wavigem Synthiepop. Der Song „Bei mir“, letzte Woche erschienen, zeigt dann doch, wie filigran die Trennungslinien zwischen Popmusik und der einst hermetischen Volksmusik, um einmal dieses nicht ganz stimmige Synonym zu bemühen, inzwischen sind: Da muss man ganz schön hinterher musizieren, um die Sache noch in deutschen Soul oder so zu biegen. Dennoch ein ganz interessanter Newcomer - erwähnte Single „Bei mir“ ist die Dritte des Osnabrückers, und der Popticker bleibt dran, wenn Weiteres erscheint ...

/// Links zu den Musikvideos /// Geschwister "Rote Rosen" /// FALK "wann ist ein Mann ein Mann?"  /// Dagobert "ich will ne Frau, die mich will" /// Moritz Ley "bei mir" ///


Style These

Endet mit dem neuen Harry-Styles-Album die Popgeschichte?

Gleich in der Lobby von Harry Styles neuem Album „Harry’s House“, können wir Sushi essen, denn der Opener heißt „Music For a Sushi Restaurant“. Er beginnt mit einer kreiselnden Synthie-Melodie mit schnipsend handclappendem Beat, worüber sich dann ein geschichteter „Ooooouh“-Chor crescendiert, der dann a-capella in ein „Bah Bah Bah“ mündet; dann setzt der Beat wieder ein, und wenn Styles schliesslich die erste Strophe singt und sich in der Folge das „Bah Bah Bah“ mit Bläsern aufgepumpt als Refrain entpuppt, ist das Album gerade mal 75 Sekunden lang gelaufen, und wir befinden uns mitten in einem Mix aus Justin Timberlake, Terence Trent D’Arby, Bruno Mars und Stevie Wonder und somit in den 70ern, 80ern, 90ern gleichzeitig. Und so geht das weiter: Bevor als vierter Song die schon bekannte „dancing with tears in my eyes“-Remiszenz „as it was“ erklingt, blubbert „Late Night Talking“ in den RnB der Nuller, während „Grapejuice“ mit seiner Indierock-Koketterie ein High-Five an Robbie Williams schickt.

Harrys-house

Sämtliche Popmusik ist heute ja heutzutage ohnehin nur einen Klick entfernt, und somit ist nur konsequent, dass in Harry’s Haus aller Pop drin ist. Und in dessen Zimmern verdichtet sich Alles zu 13 Liedern, die samt und sonders Hit-Potential haben. Viele Stile und alle wesentlichen Pop-Jahrzehnte fasst dieser Sänger also in einen eigenen Popsound, findet von Synthie zu Folk, von Soul zu Jazz und zurück zu Fun- und Funkpop. Niemals aber hört sich diese Musik bemüht oder ungewollt retro an, dazu sind die Melodien zu eigen, das Songwriting zu aktuell, die Produktion zu souverän. 

Die Art und Weise, wie hier alles mit allem in einen verqueren und queeren Popentwurf mündet, wie sich Widersprüchlichkeiten mit guter Laune und stetig catchy Hooks vertreiben lassen, lässt ebenso ratlos wie begeistert zurück. Begeistert, weil es für sich funktioniert, ratlos, weil mit diesem Album in gewissen Sinne auch die Popgeschichte zu einem Ende findet - „Harry’s House“ ist Synthese von sehr viel Pop. In jedem Falle hat man das Gefühl, jetzt muss wieder irgendwas wie Punk und Grunge um die Ecke kommen, irgendein Genre, das alle Erinnerung platt walzt und sich für nichts ausser sich selbst interessiert und nicht alles zu einem stylischen Brei verrührt. Styles singt ja selber: „You know it’s not the same as it was.“


Tränen in der Timeline

Die TV-Show „Sing meinen Song“

Da sitzen sie nun wieder in Südafrika, so Popstars, die man in Deutschland mehr oder minder kennt, und sie trinken alkoholische Getränke, hin und wieder steht jemand auf, und sie covern gegenseitig ihre Songs, danach fällt man sich traditioneller Weise in die Arme und beteuert, wie großartig diese Cover-Versionen waren. Die Rede ist von der VOX-Popsendung „Sing meinen Song - das Tauschkonzert“. Es ist dies zweifelsohne ein Popmusik-TV-Format, das funktioniert: Der Sampler, der pro Staffel entsteht, führt die Download-Charts an, und die aktuellen Alben oder Best-Ofs der Teilnehmer:innen verkaufen sich ebenso. 

Schlecht ist die Idee dieser Show ja auch nicht. Das Covern von Songs ohnehin zum emblematischen Prinzip in der Darstellung von Pop im Fernsehen geworden, weil im Coversong das Original und zwei Interpret:innen durch Reibungsverhältnisse sichtbar werden, und, wenn uns ein Element vertraut ist, auch schon ein Grundprinzip von Popmusik generiert wird, nach dem wir in ihr Neues wieder erkennen. Das Cover ist dadurch die Tür zum Pop - in Castingshows für unbekannte Sänger:innen, beim Tauschkonzert für Sänger:innen, die auch schon bekannt sein können oder es eben durch diese Sendung werden - siehe Gregor Meyle oder die zweite Karriere von Sarah Connor, die seit der Reise ins Cover-Ressort Südafrika Deutschpop singt. Zudem haben beim Tauschkonzert schon andere Interpret:innen mitgemacht als die üblichen TV-Pop-Nasen wie BossHoss, Mark Forster oder eben Sarah Connor - Wolfgang Niedecken war dabei oder Judith Holofernes, Mary Roos und Samy Deluxe.

An sich könnte das Ganze also eine unterhaltsame Sache sein. Leider potenziert die Show auch ein Phänomen, unter dem ihre beiden Leitmedien, Dokusoap und Deutschpop, auch schon im Einzelnen leiden - das Phänomen der Brechstangen-Emotionalität. Deutschpop funktioniert ja ohnehin schon für sich nach der Mark-Forster-Formel, Trost nicht für Trostbedürftige zu spenden, als vielmehr Menschen, die sich in gewisser Zufriedenheit eingelebt haben, das Gefühl und die Illusion zu geben, Trost gebraucht und dann eben auch schon bekommen zu haben. * Diese Musik füllt sozusagen ein Vakuum, das sie vorher erfolgreich behauptet hat, Sing-meinen-song-bossmit heisser Luft - was um Himmels Willen ja auch völlig okay ist. Aber wenn jetzt auch noch die realfiktionale TV-Dramaturgie hinzu kommt, die wiederum das Ziel hat, möglichst viele Teilnehmer:innen an was auch immer so oft wie irgend möglich zum Weinen zu bringen, dann wird es doch arg zweischneidig. Und am nächsten Tag steht dann in einer Online-Klatschblatt: „Tränen bei Clueso – Nach Lottes Auftritt herrscht andächtige Stille“, nun ja, das riecht schon nach inszenierter Authentizität par excellence.

Permanent heulen sich die Popstars in Südafrika also in die Arme, wenn sie ihre Lieder in anderem Gewand hören, und wenn sie dann erzählen, dass sie diesen oder jenen Song ja eben auch geschrieben hätten, als sie dieser oder jener Schicksalsschlag getroffen habe, auch wenn es sich dabei um ein Lied handelt, welches in Wirklichkeit ein Songwriting-Camp von sieben jungen Männern mit algorithmischen Prinzipien geschrieben hat, damit es auf Spotify funktioniert. Man sieht dann dabei zu und denkt sich: Wo kommen alle diese Gefühle her? Soll ich die jetzt auch haben? Oder man sieht nicht dabei zu und bekommt hin und wieder die Top-Meldungen, wer geweint hat, in die Timelines gespült.

* Selbstzitat: "Die Forster-Formel" < Hier >