Wie zum Kuckuck ist das gemeint?

In die Ferne zurück schweifen

Ein paar Gedanken zum Mittelalter-Rock anlässlich einer neuen Platte von „dArtagnan“

DartagnanWo wir es ja gerade einen Post weiter oben von Subsubgenres auf Spotify hatten, die mehr auf algorithmischen Prinzipien fussen, bekommen wir es heute bei mit einem durchaus musikalischen Subsubgenre zu tun (oder Subsubsub?). Hinter dem zudem, laut Eigenaussage der betreffenden Band, eine philosophisch-ideologische Grundhaltung steckt - die  Rede ist hier vom Musketier-Rock. Erfunden hat diesen die Band „dArtagnan“, und die erwähnt philosophisch-ideologische Grundhaltung ist, ihr ahnt es, der Schlachtruf der Musketiere: Alle für einen, einer für Alle. Was immer das nun musikalisch bedeuten mag. Grundsätzlich ist der Musketier-Rock natürlich eine Spielart des Mittelalter-Rock, um nicht zu sagen: Gleicher Met in alten Schläuchen - die meisten Mitglieder der Band spielen denn auch in anderen Mittelalter-Kombos, zum Beispiel bei „Feuerschwanz“, mit denen ich mich hier im Blog auch schon beschäftigt habe - < hier >. Im Klangbild von „dArtagnan“ hört man zwar nicht so viele mittelalterliche Instrumente wie bei anderen Vertreter:innen dieses überaus erfolgreichen Subsubsubgenres, aber die mummenschanzische Verankerung in der Ritterzeit funktioniert im Sound des reinen Rock klassisch über die Scharniere mittelalterlicher Melodien und einen entsprechenden Wortschatz, aus dem sich die typischen Songtexte eines Mittelalter-Songs bauen lassen: Wetter, Feuer, Gelage, Zusammenhalt, Blut und Durchhalteparolen. Daraus ergeben sich dann hübsch doppeldeutige Singalongs: „Heho, denn wir sind Glücksritter!“ oder „Wer nicht kämpft hat schon verloren, wer nicht fällt, steht nicht mehr auf.“ 

Erstaunlich an dieser Musik ist, dass sie ihr eigenes Regelbuch mitliefert - die Formel aus den genannten Zutaten eine Musik zu brauen, ist weitest gehend immer dieselbe, und diese Musik ist in diesem Sinne wie meistens im Pop im Grunde bewahrend, konservativ. Verblüffend ist, mit welchem Feuereifer diese Formel in Musik umgesetzt wird, und wie musikalisch versiert man in diesem Subsubsubgenre also zu Werke geht - auch bei „dArtagnan“. Im Mittelalter-Rock ergibt sich daraus im Allgemeinen ein augenzwinkernder Bierernst, der sich, wie schon öfter über andere Mittelalterbands in diesem Blog beschrieben, trefflich ironisch Bildschirmfoto 2021-03-29 um 18.19.27deklinieren lässt. Im Fall von „dArtagnan“ und ihrer neuen Platte „Feuer & Flamme“ ist verblüffend, mit welchem Ernst sie ihren Musketier-Rock zelebrieren. (Ich habe schon überlegt, auch eine Musketier-Rock-Band zu gründen. Arbeitstitel: porThos. Das wäre der zweite Vertreter in diesem Segment, auf dem also noch Platz ist.) Jedenfalls verschwimmt durch die ironische Distanz zum überzeugtem Ernst der Eskapismus, der dieser Musik natürlich trotzdem innewohnt. Man wird gleichzeitig woanders hin mitgenommen und zurück geschickt. Oder anders gesagt: Die Refrains mit Mitgröhl-Charakter holen die entrückten Hörer:innen dann auf den Boden der heutigen Tatsachen zurück. Mithin ist diese Musik also keinesfalls so unterkomplex, wie man im ersten Moment denken mag.

Trotzdem ist es schwierig, ein Anliegen der Band zu erspüren, das über die ja letzten Endes abstruse Idee, Musketiere Rock spielen zu lassen, hinaus geht. Vermutlich ist aber genau das Zurückholen in die Jetztzeit mit erwähnten Singalongs, die mithin oft Durchhalteparolen sind, Grund genug, sich für diese dadurch weniger abstruse Musik zu ereifern - musizierender wie hörender Weise. Und das ist ja auch durchaus ein erstaunlicher Popeffekt, vielleicht sogar ein konstatierender im Allgemeinen, wenn das Ferne, in die Popmusik entführen kann, nicht das Mittelalter sein muss. Vielleicht also ist Musketier-Rock letzten Endes genauso wenig abwegig wie Gangster-Rap.


Myzel Schlager

Romano Volcano

Der Schlager breitet sich im Pop aus wie Myzel, wie eine Pilzkultur auf dem Käse. Vielleicht sind es die ökonomischen Zwänge, die, wenn man noch irgendwie durch Verkäufe von Tonträgern oder Ton ohne Träger Einnahmen generieren möchte, Musiker:innen dazu bringen, die potentiellen Schlagerhörenden mit ins Boot holen zu wollen. Aber gleichzeitig gibt es eine Sehnsucht, die Emotionslosigkeit hipper Genres zu überwinden und die Emotionskonzentrate des Deutschpop hinter sich zu lassen; dieses Deutschpops jedenfalls, der randseitige und konzipierte Einsamkeiten erfindet, um Emotionslücken zu generieren, die er dann selber schliessen kann. Und hinter all dem Hiphop, Deutschpop, Aprés-Ski- und Post-Biathlon-Pop, jenseits von hüftgoldenen Bildschirmfoto 2023-03-31 um 12.35.31Hurenhuldigungen, weit von Berlin und Hamburger Schulen gedeiht auf allen Seiten des Rheins der Schlager. Zu ihm kehrt nun auch Romano mit seinem neuen Album „Romano Volcano“ zurück und singt: „Wenn der Adler kreischt und die Wölfe heulen / Sich der Luchs und der Fuchs auf den Frühling freuen / Das ist der Schrei der Wildnis…“

Nun ist das Spiel mit Genres auch nicht gerade neu bei Romano - sein erster Hit im Hiphop-Stil handelte von Metal-Musik, der Titelsong seines vorletzten Albums,„Copyshop“, philosophierte vom originären Wert der Kopie und der Aneignung, und bevor er als Rapper bekannt wurde, gab es schon einmal eine Schlager-EP von ihm. Erwähnte neue Platte nimmt zwar Abschied vom Rap als Prämisse und dichtet sich in den ironisierten, urbanen Schlager, unterfüttert ihn aber von allen anderen Seiten mit Elektrobeats, Funk-Anleihen und merkwürdigem Blödsinn. Ein solch heterogenes Spiel mit Stilen und Zitaten funktioniert aber eben auch nur mit einer stabilen Erscheinungsfigur von Popstar, und Romano, der Köpenicker  mit Metal-Kutte und langen blonden Zöpfen, ist eigen genug, um all den komischen Ideen Herr zu werden und sie zu einem Album zu bündeln. Das führt aber auch dazu, dass man, wenn man nicht Fan von Romano ist, sicherlich nicht ausgerechnet mit diesem Album Zugang zum Werk dieses skurrilen Musikers findet. Im Rahmen dessen, was eine Romano-Platte sein kann, ist „Romano Volcano“ aber sicherlich ein Meisterwerk.


Eigenblutdoping

Das Eigencover als Album-Konzept - diese Idee hatten „die fantastischen Vier“ und „U2“

Bildschirmfoto 2023-03-20 um 13.04.01Zwei Bands, die es schon recht lange gibt, haben Alben herausgebracht, auf denen sie sich selber covern - „die Fantastischen Vier“ und „U2“. Da kann man ja schon mal die Frage aufwerfen, warum Bands zu diesem Mittel des Eigencovers greifen. Promotion-Sprech dürfte sein, dass die Bands wichtige Songs ihrer Karriere einer Frischzellenkur unterziehen, um ihre Tauglichkeit in aktuelleren Popgewändern anzutesten. Zudem bietet das Eigencover ebenso wie das Covern überhaupt auf recht direkte Weise das Potential von Pop im Allgemeinen: Das Neue wieder-erkennen.

Schauen wir also erst einmal auf die beiden Werke im Spezifischen: U2 haben für „Songs Or Surrender“ sage und schreibe 40 Werke ihres Oeuvres neu eingespielt. Darunter sind einige ihrer Hits wie „Where the streets have no name“, „One“ oder „I still haven’t found, what I’m looking for“ (Letzteres haben sie auf „rattle & hum“ sogar schon mal selbst gecovert) - es finden sich aber auch randseitige Lieder wie „11 O’Clock Tick Tock“ oder „Peace on earth“ in dieser Sammlung. Jedes Mitglied hat augenscheinlich 10 Lieder ausgewählt, denn 4 Teil-Alben tragen jeweils die Vornamen der U2s: Larry, Edge, Bono, Adam. Die Band hat die Songs größtenteils entschlackt, ihre Breitwandigkeit eliminiert und mit schlichtem Band-Sound - Bass, Gitarre, Gesang - aufgenommen - merkwürdiger Weise ohne Schlagzeug. Da Drummer Larry Mullen in letzter Zeit ohnehin leicht isoliert in der Band zu sein scheint und bei der Las-Vegas-Residency in diesem Jahr gar nicht spielen wird, nähren sich Spekulationen über dessen Ausstieg, wozu der Popticker jetzt nichts sagen kann. Aber wie dem auch sei: 40 Songs lang U2 ohne gigantische Edge-Gitarren-Flächen, ohne viel Produktionsaufwand, fast durchweg im gleichen Uptempo und ohne Schlagzeug - sorry aber: Schnarch!

Bildschirmfoto 2023-03-20 um 13.03.27Fanta 4 haben für ihre „Liechtenstein Tapes“ hingegen 15 ihrer Lieder neu aufgenommen und sich hierfür einen Bandsound ersonnen, der mutmasslich auch von ihrer Live-Band stammt - kaum noch Samples, funky-Bässe und Gitarrenlicks, hin und wieder mischt sich Hall unter Chöre und Bläsersätze oben drüber. Das ist zweifelsohne versiert in die Tat umgesetzt, aber wenn man ehrlich ist: So viel anders als die Originale sind diese Versionen dann auch nicht. Man kapiert einfach nicht den Mehrwert der Eigencover gegenüber ihren ursprünglichen Versionen.

Vielleicht liegt die lähmende Langweile der beiden Alben einfach an dem mangelndem Interesse an der Bands an ihren eigenen den Songs. Mit einer gewissen Berechtigung sind sowohl die Fantas als auch U2 offenbar davon ausgegangen, das Covern eigener Songs brächte als Konzept aufgrund der puren Nähe zum eigenen Werk bereits eine Idee für jeden Einlzelsong mit sich. Aber Covern existierender Lieder setzt auch immer voraus, dass man wirklich eine neue Idee an sie heran und in sie hinein trägt - ganz gleich, wer die Lieder schon einmal veröffentlicht hat. Aber hier herrscht wirklich zweimal gähnende Ideenleere. Nur das Cover von den Fantas ist wunderschön.


Alben & Songs des Jahres

Bildschirmfoto 2022-12-14 um 11.32.02... wie immer unfassbar subjektiv und ebenfalls wie immer habe ich bei den Songs nur solche reingenommen, die nicht auf einem der Alben des Jahres sind. Nicht wie jedes Jahr habe ich in diesem Jahr als jemand, der nicht streamt, deutlich weniger Neues gehört als sonst, wodurch mir bestimmt tolle Musik entgangen ist - wie gesagt: Unfassbar subjektiv halt.

ALBEN

01 Florian Paul & die Kapelle der letzten Hoffnung / auf Sand gebaut < Huldigung >

02 M / Révalité < Link-Tree >

03 Katie Melua & Simon Goff / Aerial Objects < Playlist Youtube >

04 Ariane Roy / Medium Plaisir < Website >

05 Sona Jobarteh / Badinyaa Kumoo < Website >

06 Laura Veirs / Found Light < Bandcamp >

07 Tocotronic / nie wieder Krieg < Narrativer >

08 Tears For Fears / The Tipping Point < Poptickers Lob >

09 Maggie Rogers / Surrender < Website >

10 Nits / Neon < nicht nur Dutch Mountains >

SONGS

01 Camille / Humaine(Herbert Grönemeyer-Cover) < official audio >

02 Ka2 & Gabrielle / i natt < official audio >

03 Lana Del Rey / Did you know that there is a tunnel under Ocean Boulevard < official audio >

04 Herbert Grönemeyer / Deine Hand < video >

05 Fishbach / Masque D’Or < video >

06 S10 / De Diepte < ESC >

07 Camilla Cabello / Bam Bam < echt jetzt? >

08 Les sœurs Boulay / Les lumières dans le ciel

09 Dominique Fils-Aimé / Go Get It < video >

10 Deichkind / in der Natur < video >


/// Songs zum Sonntag /// 111222 ///

Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.37.54/// „Asoziale Medien“ ist, wie man sich denken kann, ein kritischer Track über soziale Medien. „Chill Boomer“ , könnte man sagen, zumal, was der Sänger dieses Liedes, Sören Vogelsang, dann so sagt, ein wenig altbacken daher kommt, als würde die Sendung mit der Maus die Verführungen des Internets erklären - und zwar 2011: „Ich vergeude meine Zeit auf Facebook allein, ich hab’ 4000 Freunde, um einsam zu sein. Scroll durch Storys auf Insta, Doomscrolleffekt, die Leben der Anderen sind alle perfekt.“ - klingt ein wenig, als ob Rolf Zukowski mal nicht über die Weihnachtsbäckerei Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.14singen und hip sein möchte. Die Binsenweisheiten über soziale Medien eines Menschen, der eben diese nicht zu nutzen scheint, zeugen von einer derartig unerschütterlich Naivität, das der Song in seinem Acoustic-Folk-Rap irgendwann eine gewisse Eingängigkeit entwickelt. Ich fürchte nur: Von der Gefahr der sozialen Medien wird sich von diesem Lied niemand was erzählen lassen. /// Erstaunlich aber Bildschirmfoto 2022-12-10 um 21.39.35schon, wohin deutscher Rap heute alles klingen kann. Steffen Freund zieht seinen Song „Heimweh“ mit Trap-Beats und Autotune derart in die Breite, dass er mit dem Song problemlos auch im „ZDF“-Fernsehgarten auftreten könnte - wie soll man dieses Genre nun nennen? Schlager-Trap? Komische Zeiten im Deutschpop. /// Andere Wiese: Lana Del Rey hat tatsächlich schon wieder ein Album inpetto. Es wird ihr achtes sein und „Did you know, that there is a tunnel under the Ocean Boulevard?“ heißen. Und ebenso heißt auch ihr neuer Song, und ich muss ja sagen, ich höre mir das auch beim zehnten Album wieder an, obgleich an der Machart fast nichts ändert: Tiefe Klavier-Akkorde tupfen eine Melodie in den Himmel über LA, welche sepiatonal von Del Rey umschlungen wird, und aus der Ferne beschleichen Streicher ein Motel - wundervoll, wie hier immer noch ein Hollywood-Kitsch herauf beschworen wird, dessen Melancholie längst mit erzählt, dass er eine Chimäre ist. /// YoutubeLinks /// < asoziale Medien > /// < Heimweh > /// < did you know that there is a tunnel under the ocean boulevard > ///


Wer entern will, muss auch B sagen

Ohren auf beim Deutschpopkauf - Folge 23 (ca)

Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.55Nicht sehr beackert wird das Feld des Blödel-Metals. Komisch eigentlich: Baby-Metal, Mittelalter-Metal, Death-Metal - viele Metalle gibt es Poperiodensystem, aber metallen geblödelt wird relativ wenig. Deutschlands meiste Band Knorkator sind also allein auf weitem Subgenre-Flur. Die satirischen Hardrocker haben die NDW in den Rock geschweisst, und ihr neues Album „Sieg der Vernunft“ ist wider jeder Vernunft vorne in den deutschen Charts: Brettharte Riffs, herrlich bekloppte Texte und Deutschpop-Zitate für die Referenz-Jäger - ein gutes Rezept, und Spass macht es auch irgendwie - im Opener singen sie von einem Asteroiden, der auf die Erde zujagt, fast schon „Look Up“ als Metal-Song: „Schicken wir Atomraketen, um das Ding zu sprengen / Oder müssen wir uns alle in Bunkern zusammendrängen? / Was auch passiert, eine Sache ist klar: /Die Welt wird nie wieder so, wie sie vorher war.“

Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.12.20Konzepte aber sind für die Demarkationslinien der Alleinstellungsmerkmale im Deutschpop schon elementar; jedenfalls beweisen dies ein ums andere Mal die Shantydeutschrocker von Santiano, die nun erstmals Bilanz ziehen mit ihrer Compilation „Die Sehnsucht ist der Steuermann - das Beste aus 10 Jahren“, und besser hätten sie eine solche Zusammenstellung ja nicht betiteln können, denn in dem Singen von Semannsweisheiten als Allegorien auf das urbane Leben besteht das Konzept Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.36dieser Band, deren Steuermann also in diesem Sinne tatsächlich die Sehnsucht ist. Denn einem echten Seemannsmann muss immer der Wind um die Nase wehen, und wenn er hinfällt setzt er allemal ein anderes Segel, da er weiß: Wellen sind nur die Spitze des Eisbergs, wenn die Ruhe vor dem Sturm ebendiesem gewichen ist, und die Kälte kann nun mal auch mit der Ebbe kommen - stille Wasser tief, und wer entern will, muss auch B sagen.

Wer dabei schlechte Laune bekommt, der muss sich von Max Raabe fragen lassen, warum, denn dessen neues Album heißt „Wer hat hier schlechte Laune?“: „Brauchst du 'ne Umarmung, ein Kuss oder 'n Kicks?/ Oder dicke Socken für unterwegs? / Willst du Schokolade oder Teddybär? / Hast du 'ne Blockade? / Komm, setz dich mal her:“ Raabe, der irgendwann seine Komfort-Zone der 20er des letzten Jahrhunderts verlassen hat und dann mit Anette Humpe anfing, Popsongs zu schreiben, in deren DNA eben diese seine Komfort-Zone nur mehr ein fernes Zitat war, dieser Raabe also hat sich nun das Feld des Pop mit Allzweckwaffe Peter Plate wieder komfortabel einrichten lassen: Im breiten Orchesterklang der Echokammer des Deutschpop wirkt die Bildschirmfoto 2022-10-21 um 10.11.21Beiläufigkeit des Raabeschen Gesangs fast schon ein wenig verloren - man vermisst die Stacheln von kleinen grünen Kakteen. Peter Plate, den ich hier Allzweckwaffe nannte, ist Teil von Rosenstolz, Komponist und Texter für Michelle, Sarah Connor, Bibi und Tina und viele Andere, und ein Meister der Leichtigkeit, der aber immer auch ein wenig die Frechheit fehlt. Was für Sarah Connor funktioniert hat, der sie für ein queeres Publikum anschlussfähig machte, scheint Max Raabe eher auszubremsen.

Jadu befindet sich im Modus Operandi - so jedenfalls heißt ihr neues Album. Die Multi-Intrumentalistin hat sich einen vielschichtigen Pop entworfen, ein breit orchestralen Klangteppich aus Hiphop-, Singer-Songwriting- und Jazz-Elementen, auf dem sie Gesang, Chöre, Spoken-Words und Raps schichtet. Erstaunlicher Weise wirkt das Ganze aber zu keiner Zeit überladen, sondern in sich stimmig und homogen. Ihre merkwürdig düsteren Lyrics, die anmuten als seien sie ein Tagebuch in Songtexten, ziehen sogar noch eine weitere Ebene in dieses filigrane Pop-Konstrukt. („Ich bin im Modus Operandi / I know that It 's toxic / Doch Fuck, ich bin Junkie/ Luzifer erwischt mich Inflagranti/ Ab in den Fahrstuhl / Avanti Avanti. „ Ich muss zugeben, dass dies alles in allem überhaupt nicht meine Wiese ist, aber „Modus Operandi“ ist zweifelsohne in dem, was es sein möchte, ein Meisterwerk.


Zuckerreduziert

Die Liebäugeln mit Schlager ist als Kriterium auf der Suche nach Pop-Newcomer:innen angekommen

„Konstanze“, sagt Gordon Kämmerer zu seiner Schwester: „Lass uns doch mal n’ Schlagerhit machen, der dann viral geht.“ - ob er viral gehen wird, wissen wir nicht, aber was wir wissen, ist dass Konstanze Kämmerer sich von „Verhaltenstherapie“, wie sich ihr Bruder nennt, wenn er Popmusik macht, zu dem Schlagerhit hat überreden lassen: VerhaDer Song „Rote Rosen“ erscheint heute am 10. Juni, und sein Popentwurf siedelt irgendwo zwischen Catan, Andreas Dorau und Christian Steiffen - das sehr hübsche Promostichwort hierzu lautet: „New Wave Schlager“.

Ein zuverlässiges Trendbarometer ist nicht nur, wenn ein Untergrund-Phänomen in den Maistream wächst, sondern vor allem auch, wenn im Nachwuchs die Schnittstelle zwischen Indie-Whatever in den Mainstream gezielt gesucht und promoted wird. Und da nimmt es nicht Wunder, wenn auf einmal verschiedentliche Newcomer an den Schlagerrändern fischen, und es dort nicht immer trüb zu geht. „Geschwister“ jedenfalls, wie sich die Geschwister mit ihrem Lied „Rote Rosen“ nennen, unterwandern Euphorie und überbordende Emotionen mit einer gehörigen Portion Understatement. Ihr Schlager-Entwurf, wenn man ihn denn überhaupt so nennen will, findet zu allegorischen Zeilen: „Ist wie ein Strauch roter Rosen, Du stichst mich nieder.“ - nicht nur wechselt das angesungene Individuum von einer Sache zu einem Du, überhaupt spielen sich die Lyrics dieses versucht viralen Schlagerhits im Vagen ab (überhaupt ein Konzept im Pop von „Verhaltenstherapie“). Wenn der Song vorbei ist, bleibt ebenso vage, wohin Konstanze und Gordon damit wollen, und wie man es finden soll, aber in der Summe überwiegen bei mir die Sympathien für diese Fusion aus Nerdismus und Schlager.

FalkMit gänzlich anderer Gewichtung aber auch mit der letztlich irrigen Annahme, Schlager nachzubauen, geht der Sänger FALK seine Suche nach einem Popentwurf an. Er kommt allerdings auch mit einem Bein aus der NDW, wenn er Herbert Grönemeyers ersten Hit „Männer“ zitiert und im Songtitel die Frage stellt: „Wann ist der Mann ein Mann?“ - die Frage ist natürlich gestattet. Seine Idee, Schlager mit Rock zu unterwandern, ist zwar keineswegs neu und mit einem Vertreter wie Ben Zucker auch äusserst erfolgreich, dennoch merkt man der Musik von FALK an, dass er nicht von aussen konzeptioniert wurde, um an Gatekeeper wie Silbereisen vorbei zu kommen, aber dennoch reicht die mit Rock einher gehende Ironisierung von Gefühligkeit nicht aus, um Zeilen wie „Du bist die schönste Frau hier im Pub, lange Bein, Rock viel zu knapp“ eine Pop-Absolution zu erteilen. Wenn man also seine von Herbert übernommene Frage, Dagowann ein Mann ein Mann ist, stellt, so lautet bei dieser Single zumindest meine Antwort: 2022 sollte man als Mann sensibler dichten.

Ein im unterwanderten Schlager alter Hase ist Dagobert - man schaue sich nur noch mal seinen Auftritt im ZDF-Fernsehgarten mit seiner ersten Single überhaupt „zu jung“ an. Das war damals ultra-weird und nimmt sich heute völlig alltäglich aus - man merkt schon, wie aus Poprichtung nach der Schlagerwelt geschielt wird, während Helene Fischer und ihr Fahrwasser den dortigen Mainstream in Richtung Pop entgrenzt haben. Nun hat der schweizer Anzugträger auch schon wieder eine neue Langspielplatte im Rucksack, „Bonn Park“ wird sie heißen, und unabhängig Moritzdavon, dass so auch ein Kollege von mir heißt, und Dagobert sein Album in diesem Sinne auch „David Gieselmann“ hätte nennen können, ist die erste Single „Ich will ne Frau, die mich will“ so etwas wie eine Rückkehr zum Sound von „zu jung“, nachdem die letzte Platte recht darker Synthwave war. Gut, aber im Falle von Dagobert bin ich nicht neutral da Fan.

Der junge Osnabrücker Moritz Ley verortet sich und seinen Popentwurf, dem man freilich schon kaum mehr Schlager unterstellen möchte, dennoch im selben Spannungsfeld des Dabobert, irgendwo zwischen gefühligem Deutsch- und wavigem Synthiepop. Der Song „Bei mir“, letzte Woche erschienen, zeigt dann doch, wie filigran die Trennungslinien zwischen Popmusik und der einst hermetischen Volksmusik, um einmal dieses nicht ganz stimmige Synonym zu bemühen, inzwischen sind: Da muss man ganz schön hinterher musizieren, um die Sache noch in deutschen Soul oder so zu biegen. Dennoch ein ganz interessanter Newcomer - erwähnte Single „Bei mir“ ist die Dritte des Osnabrückers, und der Popticker bleibt dran, wenn Weiteres erscheint ...

/// Links zu den Musikvideos /// Geschwister "Rote Rosen" /// FALK "wann ist ein Mann ein Mann?"  /// Dagobert "ich will ne Frau, die mich will" /// Moritz Ley "bei mir" ///


Zeitgeistige Verhaltenstherapie in Eierkarton-gedämmten Probenkellern

Drei Bands mit deutschen Texten in den Pop-Startblöcken

Bildschirmfoto 2022-03-04 um 11.47.38Bei der Band „Verhaltenstherapie“ weiß man erst mal nicht so recht, wozu man geladen ist. Bei dem Namen erwartet man eine Indie-Band mit Postpunk, wenn nicht gar ohne die Vorsilbe Post, aber das stimmt dann so gar nicht. „Verhaltenstherapie“ machen elektrischen Indiepop, und dahinter steckt ganz offensichtlich auch keine Band - sondern eine Einzelperson, der Schauspieler, Regisseur und eben Musiker Gordon Kämmerer. Sein Popentwurf schwirrt irgendwo in der Nähe von NDW mit absichtlich billigen Hip-Hop-Beats, spleenigen Texten und in seinen Videos auch einigen visuellen 80er-Remiszenzen - wenngleich mir Kämmerer, kaum 30 Jahre alt, jetzt natürlich hinterher rufen könnte: „He? Achtziger? Ok Boomer.“ Sein neuer, erst zweiter Song jedenfalls heißt „alte Liebe“ und wirft mal wieder die gute alte Frage auf, die Pop an sich immer gut tut: Wie zur Hölle ist das gemeint? „Wo mein Herz mal war, ist nun ein schwarzes Loch. Alles zieht hinein, Leere herrscht im Kopf. Still liegt die Luft und eisern dröhnt die Zeit. Kein Licht mehr da. Für gar nichts mehr bereit.“  - diesen Refrain könnte man fast in Duktus eines Schlagers singen, aber das Soundbett und die Art und Weise, wie das bei „Verhaltenstherapie“ gesungen wird, hat so gar nichts Inbrünstiges - eher schon eine provokative Beiläufigkeit, mit der die milleniale psychische Rückbesinnung konterkariert wird. Man weiß also nicht, wohin man geladen ist, aber freut sich durchaus, zur „Verhaltenstherapie“ eingeladen zu sein. 

Bildschirmfoto 2022-03-04 um 12.04.02„Florian Paul & Die Kapelle der letzten Hoffnung“ ist Deutschpop mit  bratzigen Bläsern - diese Band ist wunderbar und klingt nach „Element Of Crime“, aber jünger, nach Max Raabe vielleicht, nur rockiger, nach „Faber“ nur ohne Wien - die kürzlich erschienene Single „Zeitgeist“ mit der Bildschirmfoto 2022-03-04 um 12.20.43Eröffnungszeile „Warum bauen die ihr scheiss Parkhaus direkt vor meinem Fenster“, dem Refrain „Mach’s gut lieber Zeitgeist, du hast mich enttäuscht“ und einem mitreissendem Trompeten-Solo ist herrlich - die würde man gerne mal live sehen. Aber auch zum Kochen taugt das gut. Und meine Tochter kann es auch schon mitsingen - was will man mehr?

Die Formation „4 Stock“ ist ein wenig klassischer in ihrem Popentwurf - aber nicht minder sympathisch. In den drei Liedern ihrer aktuellen EP „höhere Gewalt“ verquirlen sich Gitarrenpop, Reggae-Rhytmen, fluffiger Rock, Ska-Bläser aus der Ferne, WahWah-Riffs, Funk-Prisen und zeitlos sozialkritische Texte alter Schule zu einem OK-boomigen, sorry Wortspiel, Rocktail - oh Gott, noch eines. Wobei hier eine Band am Werk zu sein scheint, die diesen Namen noch verdient: "4. Stock" klingen, als hätten sie den klassischen Band-Keller mit Bierkästen und Eierkartons in den Knochen, als hätten sie sich in unzähligen Kneipen, Sälen und Festivals die Finger wund gespielt, wie immer man das nach zwei Jahren Pandemie hinbekommt - um so schöner also, dass es noch solche Bands gibt: „Die Propheten haben gelogen, und jetzt irren wir durch Zeit und Raum. Die Propheten haben gelogen, der Trip ist aus, aus ist der Traum.“ 

Links:

< bandcamp Verhaltenstherapie > / < Website Florian Paul > / < Website 4. Stock >


Wenn die Kälte kommt

Über die Tautologie als lyrische Stilfigur im Pop

In dem Video zum Titelsong ihres neuen Albums „wenn die Kälte kommt“ befindet sich die Band Santiano in einer Eiswüste mit Eiszapfen an ihren Bärten, Schnee auf ihren Instrumenten und Dampf aus ihren Mündern. Der ohnehin identitätsstiftende Eskapismus der Formation, der sich aus der Huldigung der mittelalterlichen Seefahrt speist, erfährt in Zeiten, in denen der Klimawandel omnipräsent ist, eine antizyklische Steigerung durch das Heraufbeschwören einer Eiszeit. Unklar bleibt unterdessen, warum diese Eiszeit eintritt, oder für was sie steht, denn Antworten auf die Frage, was denn geschieht, wenn die Kälte kommt, bekommen wir nur sehr spärlich: „Wenn die Kälte kommt / Mit eisiger Hand / Wenn die Kälte kommt / Und dein Herz übermannt / Wenn die Seele friert / Der Atem dir brennt / Dann bin ich bei dir“. Man könnte das Ganze auch so zusammen fassen: Wenn die Kälte kommt, wird es kalt. Diese bestürzend banale Tautologie ist aber im Grunde die wesentliche allegorische 22530179-01Stilfigur, mit denen Santiano ihre Songtexte gestalten und ihre mittelalterliche Seefahrer-Romantik konstruieren: Wenn es auf den Recken regnet, wird er nass, wenn der Met fliesst, trinkt man Alkohol, wenn es stürmt, türmen sich Wellen. Ein anderes Lied auf dem neuen Album heißt „wer kann segeln ohne Wind?“ - Antwort, Spoiler Alert: Niemand. Und in dem Song „solang die Fiddle spielt“, gibt es konsequenter Weise gar keinen Gesang: So lange nämlich die Fiddle spielt, spielt die Fiddle - klar.

Das also etwas unterkomplexe Konstrukt zum Beschreiben einer an sich entrückten, anderen Wirklichkeit mit den Mitteln von Popmusik scheint massgeblich und gewollt - immerhin hat man als Co-Writer für einige der neuen Santiano-Songs Frank Ramond engagiert, der an sich als gewitzt doppelbödiger Songtexter für zum Beispiel Annett Louisan, Yvonne Catterfeld oder den ja leider verstorbenen Roger Cicero bekannt ist. Mit dessen Hilfe hätte man sicherlich auch scharfsinnigere Narrative von Rittern, Seefahrt und Wildschweinen erfinden können, als die Erkenntnis, dass man draussen auf dem Meer in der Ferne vor allem Horizonte sieht - ein weiteres Lied auf der Platte. So weit hergeholt die Welten sein sollen, die hier besungen werden, so überschaubar müssen sie offenbar bleiben, um als Singalongs im Jahre 2021 zugänglich zu bleiben. Letztlich ist das tautologische Rezept für einen Liedtext vielleicht sogar präsenter in der Poplandschaft, als man denken mag. Die neue Platte von Coldplay handelt zum Beispiel von der Raumfahrt, und wenn man sich deren Texte durchliest, erlangt man diese Erkenntnis: Wenn man ins Weltall fliegt, ist man in anderen Sphären. Und Helene Fischer singt zum Beispiel auf ihrem derzeitigen Album das Lied „wenn alles durchdreht“ - einen Nebensatz, den sie für den Refrain gar nicht mehr grammatisch und somit inhaltlich ergänzt: Wenn alles durchdreht … ja was denn jetzt? Naja, dreht eben alles durch.

Man könnte mir nun vorwerfen, dass ich mich durch die Albumcharts klicke und wie jemand, der Schuhe kauft, nur auf Schuhe achtet, jede Liedzeile als tautologische Allegorie im Sinne von Santiano interpretiere, aber für Santiano gilt meiner Meinung nach wie gesagt durchaus, dass die bestürzenden Banalitäten, die hier gesungen werden, so auch gewollt sind - musikalisch ist das nämlich auch souverän so ausgestaltet, wie man klingen möchte: Maskulin-mittelalterlicher Shanty-Poprock. Der eben, das sei noch mal erwähnt, irre erfolgreich ist - vor ihnen in den Charts sind derzeit nur Helene Fischer und Coldplay.


Blödsinnige Platten

Fake News in den Charts: Der iTunes-Store von Apple wurde offenbar Opfer eines Hacks

Am Donnerstag den 19.08.21 wurde der Musik-Download-Shop der Firma Apple, besser bekannt unter dem Namen iTunes-Store, Opfer eines Hacker-Angriffs: Über den Tag verteilt tauchten in den Album-Charts unsinnige Veröffentlichungen auf und verstopften die Top-Ten. Es handelte sich um angebliche Alben von über Suchmaschinen unauffindbaren Interpret:innen mit Namen wie Else Engel, Claudine Blanc oder Christian Darcangelo. Zwei dieser Fake-Alben wurden unter dem Titel „fatal mistakes“ geführt, Andere hiessen „living on mercy“ oder „now only“. Sämtliche dieser Platten enthielten durchaus Musik - oder um genauer zu sein: abspielbare Audiospuren, denn Musik kann man dazu fast nicht sagen. Die Tracks mit Allerweltstiteln bestanden ausnahmslos aus zwei bis drei Spuren: Billiger Beat und Zwei- bis Dreitonfolgen vom Synthesizer. Bei den Covern handelte es sich wohl um Stockfotos: Tatsächliche und computergenerierte Naturaufnahmen oder ein Foto, welches Venedig zeigte. Am Vormittag habe ich drei dieser Alben auf den Plätzen 1,2 und 9 entdeckt, am Abend wurden dann gar die ersten sechs Chart-Plätze mit diesen blödsinnigen Platten belegt. Am nächsten Morgen, heute am 20.08., sind all diese Alben verschwunden, aber es finden sich andere ähnliche Veröffentlichungen nach den gleichen Prinzipien, die aber nicht mehr in den Top 100 sind.

Unklar bleibt, was hinter der Sache steckt, und ich habe schon überlegt, ob ich ein Bekennerschreiben zu der Aktion veröffentlichen soll, weil sie aufzeigt, was ich als These schon lange in den Popraum zu stellen versuche: Die Charts sind zur Bildschirmfoto 2021-08-19 um 11.27.42Makulatur verkommen. An zwei Punkten kann man das anhand des gestrigen Hacking-Angriffs ablesen. Zum einen sollen die Charts ja an für sich abbilden, was angesagt ist, und wenn etwas in den Charts ist und Mark Forster und Billie Eilish auf die Plätze verweist, Musik, die offenkundig nicht angesagt sein kann, die keiner kennt, und die sich auch in Suchmaschinen nicht finden lässt, dann ist die Chart-Idee eben obsolet. Zum Anderen kann man an der Bewegung innerhalb des gestrigen Tages, an dem sich verschiedene Fake-Alben auf Platz eins ablösten und sich im Laufe des Tages fröhlich durch die Top-Ten bewegten, ablesen, dass Charts ohne Zeiteinheit schon überhaupt Schwachsinn sind - welche Zeiträume bildet ein Platz in den Charts ab, wenn es sich dabei um eine Livetabelle handelt?

Chartmanipulationen hat es schon immer gegeben. In den USA gibt es sogar einen Begriff für Bestechungsgelder, welche Plattenfirmen DJs oder Radiostationen zahlen, damit diese bestimmte Songs öfter spielen: Payola. Höheres Airplay, also eben öfter im Radio gespielt zu werden, führt zu höheren Chartpositionen, und da im Radio öfter gespielt wird, was in den Charts ist, wirkte das Bestechungsgeld Payola oftmals exponentiell. (Das Wort Payola setzt sich aus „pay“ und dem Herstellernamen der in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Radiostationen verwendeten Grammophone „Victrola“ zusammen. Erstmals dokumentiert wurde der Begriff laut Wikipedia 1959, aber man muss davon ausgehen, dass die beschriebene Bestechungs-Strategie bis weit in die 80er praktiziert wurde.) Einen anderen Fall von Manipulation der deutschen Charts deckte im Jahre 2005 die Sendung „Akte“ des Senders Sat 1 auf. Der Musikproduzent David Brandes hatte CDs seiner Künstlerinnen (darunter Vanilla Ninja und Gracia) gekauft und kaufen lassen, um diese Künstlerinnen in die Charts bringen und danach von der Rückkopplung des durch die Chartposition generierten Interesses zu profitieren. Beide beschriebenen Manipulationen machen sich natürlich ein konstituierendes Element von Pop an sich zu Nutze - die Behauptung nämlich, angesagt zu sein als potentiell selbst erfüllende Prophezeiung.

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Screenshot der Top 14 in den iTunes-Charts am 19.08. um ca. 18 Uhr

Was wir aber gestern in den iTunes-Charts beobachten konnten, hat nichts mit diesem Mechanismus zu tun, denn die Musik, die hier mit welchen technischen Mitteln auch immer, in die Charts gehievt wurde, ist gar keine Popmusik - sie behauptet nicht unmittelbar und durch sich hip zu sein. Die Behauptung, diese Alben hätten sich in den Charts befunden, war als sich selbst erfüllende Prophezeiung ungeeignet, da es keinen Grund gab, diese Alben zu kaufen. Es bleibt also die Frage, warum irgendwer diese Fake-Veröffentlichungen in die Charts bekommen hat, wie das gemacht wurde, und welches Statement dadurch gemacht werden sollte. Von Apple selber gibt es keinerlei Statement dazu, auch meine Anfrage, nun bin ich natürlich auch eine Privatperson, bleibt unbeantwortet, aber irgendwas, so glaube ich jedenfalls, muss dahinter stecken, und ich möchte zu gern wissen, was es ist - wenn das hier also irgendwer liest, der mehr Followerpower hat, der einen Weg sieht, herauszufinden, was es mit den unsinnigen Alben auf sich hat, der sage mir gerne bescheid.


Coming-Of-Age-Trap-Pop

Das Ohr auf Pop mit deutschen Texten werfen - Folge 15 mit "Bruni die Band", "Lostboi Loni" und "Charlotte Brandi"

Brudi/// Wenn Bands einen Popentwurf suchen, ist diese Suche ja meistens schön. Das Feld von Pop ist eben inzwischen so weitläufig bestellt, dass man viel suchen kann, ohne dass es frustrierend wird, wenn man nichts findet, und der Weg das Ungezielte bleiben darf. Die Band „Brudi die Band“ sucht zudem in pandemischen Zeiten (was bleibt auch Anderes übrig?) und verarbeitet im gewissen Sinne ihre Befürchtung, sie könnten mit dem inzwischen durchaus eigenem Genre des Corona-Songs gleichgesetzt werden; als ob den drei jungen Saarbrückern schwant, dass Corona ihren Popentwurf zu sehr prägen könnte: „Ich will leben und draussen Zeit mit Freunden verbringen, nicht meine besten Jahre Lieder über Einsamkeit singen.“, so heißt es in der kurz nach Weihnachten erschienenen, zweiten Single „1,5 Meter“ - hier das < Video >. Die Musik der Brudi-Band ist eine Art Coming-Of-Age-Trap-Pop mit fluffigen Wohnzimmerbeats und melodisch-flüssigem Autotune, Musik, über die man mit Fug und Recht und im Guten wie im Schlechten sagen kann, dass sie jeder hinbekommen könnte, mit dem feinen Unterschied, dass diese Drei sie nicht nur hinbekommen können sondern eben hinbekommen haben. Zudem schreiben sie grundehrliche Texte jenseits von deutschpoppigen Lyrikbaukästen - summa summarum übrigens Songs, die sich tendenziell eher an meine Kinder wenden, als an mich als über 40-Jährigem Loni(meinem Sohne gefällt’s jedenfalls) Wohin das Ganze gehen könnte, weiß man noch nicht, vielleicht könnte man in dem manchmal etwas einlullend wirkenden, Spotify-kompatiblen Sound hin und wieder das ein oder andere Instrument betonen. Bei momentan zwei Singles reicht wie gesagt allemal das schöne Suchen. Lockere Band auf jeden Fall, von der man bestimmt noch hören wird. /// Kurioser Weise klingt der Grundsound von „Lostboi Lino“ irgendwie ähnlich, firmieren tut das Ganze auf iTunes aber freilich als HipHop und Rap, was es eigentlich ebenso wenig ist, wie die Musik von „Brudi die Band“. (Das ist man auf Spotify schon ein wenig weiter - auf der Streamingplattform kreiert der Playlistenwahn inzwischen Subsubsubgenres, die oft nur darin bestehen, dass einige Lieder sich zusammen in einer Liste finden. Um für diese algorithmischen Parallelen dann die Behauptung zu kreieren, sie seien sorgsam herbei kuratiert und dadurch sichtbar, erfindet Spotify neuerdings Genre-Namen für diese sich in Playlisten spiegelnden Klang-Ähnlichkeiten. Dieses Phänomen spülte zum Jahreswechsel plötzliches Rätselraten in die sozialen Medien, weil selbstbewusste Hörer*innen plötzlich erfuhren, dass sie von ihren meist gehörten Popgenres noch nie gehört hatten - beispielsweise „escape-room-pop“ - what the hell ist das?) Wo war jetzt der Faden? War er rot? Ach ja: „Lostboi Loni“ und „Brudi die Band“ - die könnte man locker in eine Liste packen, und der Sound würde sich dann als Genre „Coming of Autotune“ nennen: Flächig, melancholisch, suchend. Das blubbert, fluffert so durch, von dem verlorenen Loni gibt es eine EP („ich bin da“), die aber auch ein wenig amplitudenfrei dahin plätschert: „Man kann immer irgendwie alles besser machen, und ich glaub sogar, dass man sich auch ändern kann.“ Brandi/// Die EP ist ja urplötzlich die Pop-Darreichungsform der Corona-Stunde - eine Sammlung Lieder, die nicht genug sind, eine LP zu sein, aber mehr als nur ein paar Singles; die Playlist quasi, die sich selber nicht als Album überfordert. Was jetzt wiederum nicht zu Charlotte Brandi und ihrer EP „an das Angstland“ passt, Überleitung missglückt, denn der Popentwurf, der hier zugrunde liegt, ist eine Zumutung für Popmusik, eine bewusste Überforderung, die doch ein Album sein könnte. Wohin will das? Echokammerfolkpop mit reigenartigen Gitarrenlinien und naiven Melodien, die mit Kinderliedern flirten, Indiepop, der mit diesen ganzen Effekten ein lyrisches Dystopia heraufbeschwört. Hier bricht sich auch die Sehnsucht nach Naturlyrik Bahn: „Oh dass ich doch nur eine Pflanze werde und dass mir dieser enge Stängel verholzt. Kein teckerndes Lachen, keine Gebärde, kein Bein mehr, kein Stolz. Meine Finger wären Blätter aus Leder Richtung Fensterscheibe gestreckt.“, dichtet Brandi in „WIND“, ein Song, in dem plötzlich auch Dirk von Lowtzow auftaucht. Die vier Lieder, die sich „an das Angstland“ richten, oder aber dieses beschreiben bis überwinden, heißen in Großbuchstaben „WIND“, „FRIEDEN“, „FRIST“ und „WUT“, sie fühlen sich an wie Theatermusik, wie Eisler zu schiefer Lyrik und entfalten in ihrer Sonderbarheit einen geigenartigen Sog. ///